Náxos im Frühjahr
(März 1986)





Ganz anders als im vorangegangenen Sommer war die Fähre jetzt, im März, fast menschenleer. Nach einer schönen, ruhigen Fahrt mit Zwischenstopp in Sýros und Páros näherten wir uns schließlich Náxos. Jetzt ging es mir einfach nicht mehr schnell genug. Ich jubelte innerlich. Zwar hatte ich schon festgestellt, dass die Temperaturen merklich kälter waren, als ich es mir erhofft hatte, doch die Sonne schien, und es gab nichts, was mir meine aufgekratzte Stimmung hätte vermiesen können. Ich war gespannt, ob meine Freunde mittlerweile auch schon eingetrudelt waren.

Da wir uns ja in der Chóra eine Unterkunft suchen wollten, nahm ich denn auch gleich das erste Zimmer, das mir angeboten wurde. Es war in einem kleinen Hotel, vom Hafen aus gesehen links die Straße entlang. Eine Heizung gab es nicht, doch ich hatte eh nicht vor, viel Zeit im Zimmer zu verbringen.

Noch eine andere Touristin war hier zu Gast, sie kam aus Bayern. Meine Freunde waren bisher noch nicht gesichtet worden. Wie sich später herausstellte, hatten sie kurzerhand beschlossen, zuerst ein paar Tage auf Santorin zu verbringen, als sie mich in Athen nicht angetroffen hatten.
Zunächst einmal unternahm ich einen Spaziergang durch die Stadt. Einheimische gingen ihren Geschäften nach. Das Leben war beschaulich. Fast alle Lokale waren geschlossen. An der Hafenfront jedoch war ein Café geöffnet, in dem ein Franzose arbeitete oder das ihm sogar gehörte. Ich fand es besonders schick, in einem Lokal auf einer griechischen Insel zu sitzen und französische Leckereien zu mir zu nehmen.

Die Fischer trafen sich abends in einer Ouzerie. Draußen wurde gegrillt. Auf dem Speiseplan stand relativ ungeschlagener Oktopus, der aufgrund der fehlenden Behandlung zäh wie Leder war. Ziemlich unmotiviert lutschte ich an den Fischteilen herum, allabendlich versorgte ich mich aber mit allerlei Köstlichkeiten in einer anderen Taverne.

Jetzt erinnere ich mich nicht mehr genau, ob es in dieser Ouzerie war oder einem anderen Lokal, in dem wir häufig verkehrten. Um zur Toilette zu gelangen, musste man über eine hohe, steile Treppe auf eine Empore mitten im Lokal steigen. Irgendeinen Sinn hatte es ganz bestimmt, warum ein Ort, den die meisten Menschen in der Öffentlichkeit eher diskret aufsuchen, hier mitten ins Geschehen verlegt worden war. Jedes Mal, wenn man sich also auf den Weg machte, die Treppe zu erklimmen – was je nach Ouzo-Pegel nicht ganz ungefährlich war – hätte man auch lauthals rufen können: „HEY LEUTE, ALLE MAL HERSCHAUEN, ICH GEH` JETZT AUF´S   KLOOHOOOOO!!!!!!“

Nach ausgedehnten Abenden in den Tavernen und kühlen Nächten in meinem Zimmer nahm ich mein Frühstück im „Odyssee“, einem Lokal unweit meines Hotels, ein, das von englischen Frauen geführt wurde. Hier war es richtig heimelig, die Frauen supernett und sehr offen. Hier kam ich auch richtig gerne her.

Mit meinen Freunden, die mittlerweile angekommen waren, unternahm ich eine tolle Jeep-Tour über die Insel. Alles war grün, ich bestaunte die terrassierten Felder, die Natur in vollem Saft vom winterlichen Regen. Einen der vielen venezianischen Wohntürme schauten wir uns aus der Nähe an, doch im angrenzenden Gehöft stand bloß ein Esel herum.

Weiße Kapellen in üppig sprießender Natur. Ein Steinbruch, in dem Marmor abgebaut wurde. Das Blau des Meeres. Die kleine Bucht von Moutsoúna. Hier gab es überhaupt keine touristischen Einrichtungen. Ich hatte gelesen, dass von diesem kleinen Ort aus Schmirgel weiter verladen wurde, und richtig, hier war Endstation einer Bahn, die das schimmernde Gestein in Loren hertransportierte.

Nach Agia Anna fuhren wir nicht, sondern quer über die Dörfer in Richtung Apóllona und besichtigten den darnieder liegenden Koúros. Bei unserer Rückkehr nahmen wir uns vor, in den nächsten Tagen noch eine Zweiradtour anzuschließen. Noch nie hatte ich auf einem Moped gesessen, doch ein Automatikgetriebe machte es mir als Anfänger ganz leicht. Helme gab es nicht. Was für ein Spaß, mit Tempo 50 über die Straßen zu brettern, mir war nach Gesang! Ein anderer dieser schönen Urlaubstage, den wir gemeinsam verbrachten.

Eines Tages beschloss ich, nach Agia Anna zu gehen. Schon die ganze Zeit über brannte es in mir. Ich musste einfach hin, obwohl kein Bus fuhr und man mir sagte, dass dort jetzt, um diese Jahreszeit, überhaupt keine Menschenseele anzutreffen sei. Diese paar Kilometer waren zu Fuß jedoch schnell zu schaffen, und die Belohnung fand ich ungleich größer: Das Auffrischen der Erinnerungen an den vergangenen Sommer, direkt an diesem wunderbaren Strand, der Blick auf Páros.

Ich verließ die Chóra über den stadtnahen Agios-Geórgos-Strand. Hin und wieder kamen mir Autos entgegen, die eine Abkürzung nahmen. Ein totes Schaf ragte halb aus dem Sand und verweste vor sich hin. Den Strand ging ich bis zum Ende und noch darüber hinaus und stieg dann einen angrenzenden Hügel hinauf. Wild gestikulierend winkte man mich wieder herab, hier war Sperrgebiet. Insel einwärts wanderte ich nun, nicht wirklich wissend, ob ich auf dem richtigen Weg war. In allen Farben leuchteten die Blumenwiesen.

Neben einem Haus, unter einem schattigen Baum, saß eine Familie und speiste zu Mittag. „Jássou“ und „Ela“ rief man mir zu. Ich konnte überhaupt kein Griechisch, kein einziges Wort, doch sie winkten mich zu sich herein, stellten mir einen Stuhl dazu und boten mir von ihrem Essen an. Ein Gläschen Rotwein wurde mir in die Hand gedrückt. „Jámmas“. Ich verstand nicht, warum mich Menschen, die mir komplett fremd waren, einfach so eingeladen hatten. Ganz schüchtern biss ich in ein Stück Gurke. Einer haute mir laut lachend auf den Rücken, was soviel bedeutete, wie: "Stell` dich nicht so an und hau rein!" Das ließ ich mir nicht noch einmal sagen, denn die Leckereien hatten meinen Appetit angeregt. Ich verfluchte meine mangelnden Sprachkenntnisse. Noch nicht mal „Danke“ konnte ich Banause später beim Abschied auf Griechisch sagen, stattdessen legte ich eine Hand auf die Brust und verneigte mich. Das wurde zwar auch verstanden, doch ich musste unbedingt bald die Sprache lernen, schwor ich mir.

Selbst die Kinder meiner Wirtsfamilie machten sich einen Spaß daraus, mich zu necken. „Ti káneis?“ (Wie geht`s?), fragten sie mich jeden Tag, und ich hatte keinen blassen Schimmer, worum es ging. Ich konnte immer nur ganz hilflos „I don`t understand“ entgegnen, und die Kids kreischten vor Vergnügen: „donanderstän donanderstän donanderstÄÄÄÄÄÄN ……. “.

Schmunzelnd in diese Gedanken vertieft trottete ich des Weges in Richtung Agios-Prokópios-Strand, an den sich der von Agia Anna und Pláka anschließt, nur durch den kleinen Fischerhafen voneinander getrennt. Tatsächlich waren alle Gebäude verwaist. Kleine Innenhöfe waren von Frühlingsblumen überwuchert. Der Winter hatte Spuren an den Gebäuden hinterlassen, ganz ungewohnt die Landschaft, so ganz ohne Menschen.

Schließlich gelangte ich an "meinen" Strand. Was für ein irres Gefühl! Man hatte mir im Sommer erzählt, dass im Herbst alle Hütten abgerissen und die Bambusstangen verbrannt werden, damit sie bei Sturm nicht auf`s Meer treiben und den Fischern die Netze zerreißen. Und tatsächlich, der Strand war komplett leer. Stattdessen fand ich jedoch wertvolle Güter aus dem Meer. Jede Menge „Náxosaugen“, die im Sommer eher rar waren, weil alle auf der Jagd nach diesen Muschelhäuschendeckel waren. Auch Muscheln in Form von „Zähnen“, die mit den "Augen" durch Silberdraht verbunden zu kunstvollem Schmuck weiterverarbeitet wurden.

Man konnte gut erkennen, dass die Winterküstenlinie des Meeres um etliche Meter höher verlief als die im Sommer. Und dann der Blick auf Páros. Einfach grandios. Schade, dass ich den Sonnenuntergang nicht würde anschauen können, sicherlich geriete ich danach in die Dunkelheit.

Auf meinem Rückweg kletterte ich auf den kleinen Felsenhügel in der Bucht von Agia Anna, auf dem eine Kapelle steht. Und dort sah ich sie: Die vermutlich als einzige übrig gebliebene Bambushütte des Vorsommers, etwas versteckt in den Dünen! Mein Herz schlug Purzelbäume!!


Wie sehr ich mich auf den kommenden Sommer freute, wenn meine befristete Stelle zu Ende war und ich ein paar Wochen Auszeit nehmen konnte. Letztendlich gefielen mir zwar die landschaftliche Schönheit des naxiotischen Frühlings und das beschauliche Treiben in der Chóra sehr gut. Auch der verwaiste Strand hinterließ eindrucksvolle Spuren. Doch was mich insbesondere hierher gezogen hatte, war die Erinnerung an das freie Leben, das wir hier im letzten Sommer geführt hatten, und das internationale Miteinander. Dieses zuckersüße Elixier, das ich unbedingt wieder kosten musste. Mit Freude im Herzen machte ich mich auf den Rückweg in die Stadt. Heute Abend war ich zu einem Fest eingeladen.


Namenstag