Jatí taxidhévis?
– Die Insel Ágios Efstrátios:
Nabel der nördlichen Ägäis
(erlebt am 18./19. Mai 2004)

Copyright puchheim = MartinPUC, Juni 2004, Dezember 2006


Wie ein Zapfen wirkt sie aus der Vogelperspektive, ein hellgrauer Keil mit stark gezahnten Rändern, der sich nach Süd hin zuspitzt, die Westseite sichelförmig gebogen. Ich freue mich über den nicht alltäglichen Anblick aus dem Flugzeugfenster, der einige schöne Erinnerungen wachruft, auf meinem Rückflug im Juni 2006 von Rhodos her.
Kurz zuvor hatte ich noch einen ungetrübten Blick auf Donoússa genießen dürfen, seine Umrisse, seine Dörfer genau lokalisieren können. Und auch Skíros war mir nicht entgangen, mit seiner Start– und Landepiste, die schier ins Meer hineinreicht. Das ist der Vorteil der Routenvarianten von den Dodekanes–Inseln her zurück in unsere Heimat. Manchmal muss man eben auch einmal über den Gang rübergehen zu einem anderen freien Fenster.

Fassbarer wird der Kontakt zu einer unfruchtbaren, ziemlich öden (– das ist nicht abwertend gemeint), im Abseits gelegenen Insel wie Ágios Efstrátios erst am Hafenkai von Mýrina auf Límnos, wenn man die schwankende kleinere Fähre besteigt, die zwischen Límnos und der angepeilten Insel fast täglich hin– und herpendelt.

Die Aiólis, ein kleineres, robustes Fährschiff, das auch mal vier oder sechs Autos mitzunehmen in der Lage ist, fährt die Strecke Ágios Efstrátios – Límnos und zurück schon im Mai normalerweise sechsmal pro Woche.

Frühmorgens geht es los in „Ái Stráti“, so gegen 6 Uhr 30, und Mýrina, der Haupthafen von Limnos, ist um etwa 9 Uhr 30 erreicht. Tatsächlich dauert die Überfahrt ganze drei Stunden, nicht zwei, wie es bei www.gtp.gr zu lesen steht (– mag sein, dass es bei ganz ruhiger See schneller geht, und wenn der Schiffsmotor mal wirklich gut aufgelegt ist). Es gibt sie auch samstags, entgegen den Behauptungen bei gtp.gr!
Zurück von Limnos geht es immer um 15:00 Uhr, montags bis einschließlich samstags.

Zusätzlich verkehrt zweimal wöchentlich ein Schiff (bei mir war es die Níssos Límnos) der SAOS–ANES Lines vom ostattischen Hafen Lávrio aus (– Rafína ist diesbezüglich längst passé!) bzw., je einmal pro Woche, in der Gegenrichtung, von Alexandroúpoli (saisonabhängig) bzw. Kavála her mit nächtlichen Ankünften auf der vergessenen Insel.
Das bedeutet, dass man zusätzlich zweimal pro Woche auch von Límnos aus, wo sämtliche Fähren von Kavála und Alex’poli auf ihrem Weg zurück nach Attika einen Stopp einlegen, mit einer Fähre nach Ág. Efstrátios gelangen kann.

Der sehr gutmütige, nichtsdestotrotz schlaue Kapitän der Aiolis meint, es seien etwa 20 Seemeilen zwischen den beiden Eilanden.

Wer einmal auf Ái Stráti zu Besuch war, sollte nicht überrascht sein, wenn er auf bzw. nach der Rückfahrt von einem Mitglied der Besatzung des Zubringerschiffes Aiolis gefragt wird, wie es ihm/ihr denn auf der Insel gefallen habe. Man zeigt seine Freude nicht offen, wenn die Antwort positiv ausfällt.
Insbesondere der Kapitän, Limnier und offensichtlich der Besitzer der einen Schiffsagentur (dieauch für NEL Lines zuständig ist) ganz nahe bei dem Lebensmittel–Souvenirshop westlich vom Kafenio Ejéo an der Platía von Mýrina, zeigt sich unter vorgehaltener Hand ziemlich skeptisch, was die doch etwas seltsamen Bewohner der von ihm angelaufenen Insel anbelangt. Vielleicht muss er, geradezu ein Großstädter, im Vergleich, auch eine solche Bemerkung abgeben.

Man will es aber selber erleben, läuft um drei aus, kommt wie vorausgesagt um sechs an. Schaukelpartie garantiert NICHT ausgeschlossen.

Von der riesigen, sich das ganze Flusstal hinterziehenden Zeltstadt mit den von der Regierung Verbannten – v. a. während des Bürgerkriegs nach Ende des Zweiten Weltkriegs – ist nichts mehr übrig, außer den Fotos verschiedener Einheimischer, die noch an so manch einer Wand prangen.
Überrascht ist man vielleicht von den relativ hübschen kleinen Fischerhafen mit den erstaunlich zahlreichen, bunt angestrichenen Booten und überhaupt dem ganzen Hafenort. So manches Buch ist überholt, wenn es von Hässlichkeiten, von Betonwüste und ansonsten nur Verfall berichtet.

Heute zeigt sich ein ganz anderes Bild. Schon die allervordersten Häuser beim Anleger wurden und werden liebevoll restauriert. Ihre nach türkischer Manier vorkragenden ersten und oberen Stockwerke kommen wieder voll zur Geltung.

Nach wenigen Schritten ist das erste Café erreicht, eher ein Treff für die Jüngeren. Es wurde im Mai 2004 von einer angestellten jungen Moldawierin geführt, die zumeist ganz alleine und gelangweilt in einem der Stühle saß und ständig griechische Belanglosigkeiten auf ihrem Handy telefonierte. Bei Schiffsankünften dagegen kann es kurzfristig gut gefüllt sein, denn da muss jeder Neuankömmling vorbei, und das bedeutet eine Schau für die Insulaner und Spießrutenlaufen für die vorbeiziehenden Inselerforscher. Bei meinem Eintreffen war das so. Tags darauf nicht mehr, als hätte es sich schon längst herumgesprochen, dass kein weiterer Tourist ankommen sollte.

Schon erblickt der Ankommende die überhöht gelegene geräumige und ganz neu erscheinende Taverne mit ihrer großzügig bemessenen Innenhalle sowie der ausgedehnten Freiterrasse. Drinnen spielt man in einer Ecke rechts vom Eingang bei jeder sich bietenden Gelegenheit Karten, trällert ein Liedchen, spendiert ganz souverän, beiläufig und vollkommen unauffällig dem überraschten Fremden ständig Getränke – noch ein Bier, noch ein Kaffee steht da plötzlich auf meinem Tisch! Das alte Griechenland lebt wieder auf.
Typischerweise kümmern sich drei osteuropäische Bedienstete um Küche und Gäste, während der Besitzer geduldig mit der Bohrmaschine herumhantiert. Der Fernseher ist angeschaltet, wie es sich gehört.

Neben dieser Haupttaverne existiert, schräg gegenüber, vis–à–vis vom Gemeindeamt und der Kirche, nur noch eine weitere, kleinere, die vielen lediglich als Schnellimbiss dient, die jedoch schon wegen der Tatsache höchst besuchenswert ist, dass es dort noch einen waschechten „Mikrós“ gibt (der war noch in den Siebzigerjahren überall üblich, eigentlich ein Hilfskellner, immer sehr jung und meist ratzekahl geschoren), den pfiffigen kleinen, damals kaum zehnjährigen Jórgos.

Ein paar Meter davor noch eine winzige Konditorei mit zwei Kafeníotischen draußen. Ihr großer Vorteil: Sie hat frühmorgens auf, noch bevor die kleine Fähre in See sticht. Und es gibt Rizógalo in ihr!!! Und wenn man Glück hat, sitzt da gerade der supernette Byron Manikákis und man kommt ins hochinteressante Gespräch, gerne in gutem Englisch, und dann liegt bald ein prächtiger neuer Fotoband mit Bildern der Inselgeschichte vor einem – alle Fotos stammen von Byrons Vater.

Ein paar kleinere Läden fallen noch auf, davon zwei, drei Lebensmittelgeschäfte der kleinen, ganz intimen, persönlichen Sorte.

In der Nachbarbucht, hinter einem recht hübschen Strand, steht eine Art Inselkraftwerk. Diesmal leider auch ein improvisiertes Schotterwerk und eine stinkende Teermaschine. Ja, genau, ich hab’s wieder mal geschafft, wie damals auf Tilos. Zum ersten Mal hier, und der ganze, einzige Inselort wird Straße für Straße unter höchstem Zeitaufwand gründlichst geteert. Dabei waren die Betonstraßen optisch viel schöner, passten zu den weiß gekalkten Betonhäusern mit ihren kleinen Gärten viel viel besser als die knallschwarzen, unter der Mittagssonne klebrig werdenden dicken Teerbänder.

Logische Folge der Teeraktion mit etlichen auswärtigen Arbeitern: Ich krieg im Xenónas oben am Hang über der Siedlung, wo ich gleich hinstrebe, mit Ach und Krach das letzte Zimmer im Erdgeschoss und muss mir das ziemlich verschlampte Bad/WC und das gleichermaßen versiffte Waschbecken im Vorraum mit zwei Straßenarbeitern teilen.
Das nächste Mal werde ich mir ein schöneres Zimmer suchen – denn davon gibt es recht viele, wie ich erst später erfahre. Aber dafür zahle ich nur 15 Euro, immerhin, inkl. Fernseher im allerdings bescheidenen Zimmerchen. Nach den Geiern von Zimmervermietern auf Psará eine echte Entlastung für meinen Geldbeutel. Kein einziger Anmacher war beim Schiff, und so viele hübsche Zimmer wären im Ort erhältlich!

Wenn du keine Zeit, oder nicht viel, für eine Insel hast, dann handle nach dem Motto: Uti tempore! Nütze die gering bemessene Zeit!

So breche ich nach einem köstlichen Mezédhes–Snack mit Chtapódhi gleich auf zu einer ersten Abendwanderung, einfach die Staubstraße aus dem Ort hinaus schräg bergauf Richtung Inselsüden. Ich spüre die vielen Energien, die in mir stecken und stürme förmlich hügelan, sodass sich ein mir in einem PKW aus der Einöde entgegenkommendes Frauengesicht (eine hier lebende Ausländerin, wahrscheinlich) wohl sehr wundern muss.

Schon habe ich den ersten Hügel geschafft. Rechter Hand liegt eine Sende– und angeblich auch Radarstation (ohne Radar), linker Hand, weiter entfernt, ein weiterer Hügel mit Sendemasten. Ich nehme intuitiv eine Abzweigung nach links, bald erkenne ich rechts unter mir einen Weiler mit einigen grasenden Pferden. Der Küstenort schon weit weg, von hoch oben war er soeben gerade noch auszumachen.

Einzelne weiße Häuser auf Höhen werden sichtbar. Etwas unterhalb eine Wegkreuzung. Nach Osten geht es hinunter zum Meer, rechts zu dem Gehöft, geradeaus, nach Süden, zum nächsten, relativ dicht bewaldeten Inselberg, den ich zur Hälfte umrunde. Dann, kurz vor einem Kloster (wenn ich der groben Inselkarte, die an einer Wand des Hafenortes angebracht ist, vertrauen darf, kehre ich um, denn es ist schon fast dunkel.
Ich bin schon gut über die Inselmitte vorgewandert und habe mir einen Eindruck von der Kargheit von Ái Stráti machen können. Außer den schütteren Eichenwäldern ist nicht viel geboten. Ein zweistrangiges Feldwegsystem führt in den Süden, zur Spitze des Inselkeils. Stichstraßen zu einigen Stränden und Kapellen. Wenn ich da an die Weizen– und Weinfelder des fruchtbaren Límnos denke .....

Schnell duschen und ab in die kleinere der beiden Tavernen, mal sehen, wie die ist und was sich dort tut. Der kleine Jórgos entpuppt sich als Ereignis. Klug, aufgeweckt, fleißig, aber noch sehr kindlich. Die Gäste draußen und drinnen im ziemlich kleinen Innenraum hänseln ihn auf unauffällige Weise so, dass er es gerade nicht merkt.
Ich denke, das Kind ist der Sohn der Wirtsfamilie, aber weit gefehlt. Die ägyptisch wirkenden Tavernenleute sind keineswegs seine Eltern. Jórgos berichtet von seiner Mutter, die ihn hierher zur Arbeit schickt. Schon wieder steht ein spendiertes Bier auf meinem Tisch – auch in diesem Lokal ...
Am zweiten Abend fragt mich der Kleine ganz unverblümt: Jatí taxidévis? Warum verreist du eigentlich?
So etwas hat mich noch niemand gefragt. Das klingt so, als müsse mit den Leuten, die auf Reisen gehen, ihre Heimat, ihre Familie, ihre Freunde verlassen, etwas nicht stimmen.
Ich gebe eine geschickte Antwort. Keine weiteren Fragen, nachdem er erfahren hat, warum meine Partnerin nie mitkommt nach GR. Immer wieder hatte er sich mir genähert, mit einer neuen Frage nachgehakt.

Man hat das Betondorf in der Senke richtiggehend optisch erneuert, alles weiß gestrichen, hübsche Vorgärten angelegt. Einige zutrauliche Hunde begrüßen mich. Der im Winter bestimmt manchmal reißende Fluß ist dicke eingedämmt mit Betonmauern und fließt auch in einem Betonbett ins Meer. Mehrere kleine Fußgängerbrücken verbinden die beiden, durch das Flussbett getrennten Ortshälften. Eine große Ruhe liegt über der Siedlung. Nach Osten hinaus erstrecken sich grüne Gärten.

Am Nordosthang sind noch ein paar Erdbebenruinen zu erkennen, ich gehe auf meinem Weg von der Unterkunft ins Dorfzentrum an ihnen vorbei. Die restlichen Hanghäuser wurden renoviert und erstrahlen nun in neuer Farbe. Ganz oben sitzt ein größerer Ziegelbau, eine Art Mégaro für alle Gemeindefeiern und –zusammenkünfte. Noch höher, auf der Hügelkuppe über dem Ort, thront der alte Friedhof, ein Aussichtsberg der Toten.

Etwa 50 m unterhalb des Friedhofs, noch auf der dorfwärtigen Hügelseite, zweigt ein Feldweg Richtung Osten ab, der vor einer Gehöftszufahrt nach Nord dreht. Ein alter Eselreiter begegnet mir. Merkwürdige Steinmarkierungen flankieren den Feldweg eine Stück weit. Weidende Kühe machen mir Platz, lugen vorsichtig hinter Bäumen und Sträuchern hervor. Eine Schafherde beweidet den Hang unter mir.
Schließlich geht es hoch über einem Tal Richtung Ost hinauf zu einer Pferde– und Rinderkoppel, vor der einige stramme Kälber in der Phrýgana (Garigue) herumstehen. Hier endet der Feldweg. Ein fast zugewachsener Ziegenpfad, wahlweise auf mehreren Etagen des Hanges, führt unterhalb eines langen Zaunes hin zur nördlichen Ostküste. Es sind die reinsten Ameisenautobahnen, diese Wegspuren, und ich weiß nicht mehr, wo ich hintreten soll, um möglichst wenig Schaden anzurichten. Mühsam steige ich durchs Gestrüpp. Am Ende steh ich am Rand der Steilklippen, leider ein gutes Stück nördlich des auf gut Glück anvisierten Dünenstrandes gegenüber einer sehr kleinen vorgelagerten Insel, die deutlich weiter südlich dicht vor der Küste liegt. Also alles zurück.

Bald entdecke ich den richtigen Weg hinten aus dem Dorf hinaus, noch am nördlichen Flussufer, vorbei an Gärten und der Kapelle am Ortsrand. Es ist ein breiter, relativ bequemer Feldweg, der in sicher nicht mehr als etwa einer Fußstunde erst bergan, dann hinunterführen würde zu dem besten Inselstrandgebiet. Ich bin aber schon müde und kehre bald wieder um. Habe eben Vorerkundungen für nächstes Mal gemacht.

Das aus der Ferne wie ein kleiner Friedhof wirkende Monument für einen gefallenen deutschen Soldaten auf einem Hügel direkt neben dem zuletzt erwähnten Feldweg besuche ich auch nicht, lasse es mir nur von Byron M. erklären. Es gibt kein Denkmal für die gefallenen Griechen auf der Insel, aber die Deutschen haben eines für ihren einzigen Gefallenen errichtet!

Die große, einfache, auf eine Hauswand gemalte Inselkarte im vorderen, hafenwärtigen Dorfteil noch vor dem Ortsstrand zeigt mir, dass es etwa acht Inselstrände gibt, etwa drei davon im bzw. um den Hafenort herum. Etwa in der Mitte der Ostküste, schon südlich des Knicks in der Küstenlinie, soll sich der schönste Strand, eben der mit den Dünen, befinden. Alle übrigen Strände liegen an der Westseite und sind durch staubige Stichstraßen erreichbar. Zuerst aber ist ein etwas beschwerlicher Anstieg zur Inselmitte hin erforderlich.

Ein Auto mitzubringen rentiert sich meines Erachtens nicht. Vielleicht wäre ein geländegängiges Motorrad nicht schlecht. Am schönsten ist es, wie ich glaube, aber zu Fuß, denn Ágios Efstrátios ist noch durchaus menschlich dimensioniert. In wenigen Stunden hat man per pedes die Südspitze erreicht und wird sich gegen Abend desselben Tages wieder ein Fischgericht in der großen Taverne am Hafen kredenzen lassen können.

Ái Stráti ist vielleicht keine besondere Empfehlung für den Bade– oder Autotouristen wert. Wenn man Límnos noch nicht kennt, sollte man lieber dort an Land gehen und dieses herrliche Fleckchen Erde in vollen Zügen genießen. Ái Stráti ist andererseits auch heute noch etwas Besonderes, wo sich noch so manches vom alten Griechenland erhalten hat, wie man so schön sagt – trotz der augenfälligen Modernisierung, der sich auch diese Insel nicht entziehen konnte. Einen eigenartigen Reiz strahlt dieser karge, keilförmige, ganz eigenständige Brocken mitten in der nördlichen Ägäis schon aus, wenn ihm auch alles Üppige à la Kreta oder Samos zur Gänze abgeht.

Und nicht einmal an jüngeren Leuten fehlt es hier. Sie gruppieren sich abends um einen größeren Tisch auf der Tavernenterrasse. Einige Frauengesichter in der Runde wirken allerdings nicht gerade einheimisch.

Copyright puchheim = MartinPUC, Juni 2004, Dezember 2006

Samothráki, die einsame, ganz eigenartig Schöne