Teil 4: Auf Náxos
Copyright puchheim = MartinPUC, Juli 2007


Wahrscheinlich hätte ich Naxos links liegen lassen oder nur als Umsteigestation benutzt. Hätte wohl Amorgós und mit Sicherheit Anáfi vorgezogen, oder ein paar Tage mehr auf Donoússa.
Doch wegen eines Treffs mit lieben Freunden sollte es mich tatsächlich für einige Tage auf die Insel des Diónysos verschlagen, und ich sag es gleich vorweg: es hat sich mehr als gelohnt, denn ich habe mich dort überaus wohlgefühlt, mein Aufenthalt hatte durchweg(s) seine dionysischen Züge, und seien es nur die paar Pfund Oktopus gewesen, die wir allabendlich zusammen mit dem Ouzo verschlungen haben, die mir dieses Schlemmerbehagen bereitet haben – warum nicht einmal übertreiben?

Dabei hat viel mehr eine Rolle gespielt, mir mehr Freude (nicht etwa Spaß) auf der Insel zu bereiten, als ich es bei früheren Besuchen erfahren habe. Einiges ist zusammengekommen: Liebe Leute kennen andere ebenso liebe, da leuchten einem dann gleich mehrere strahlende Augenpaare entgegen, offen und ehrlich, und griechenlandbegeistert, da muss die Unterkunft doch besonders schön sein, wenn der Besitzer und seine einheimische Hilfe so nette, grundsympathische Wesen sind, woraufhin die Stadt noch viel schöner erstrahlt, der Himmel deutlich an Leuchtkraft zulegt, das Meer ungleich intensiver glitzert, die Ausflüge einen gesteigerten Erlebnisfaktor bekommen, weil man einfach gut drauf ist und sich mühelos freuen kann.

Gleich zu Beginn fühle ich mich heimelig, als ich so alleine dasitze und meinen eher durchschnittliches Hühnchensouvlakispieß mit Beilagen verzehre – dafür ist der Weißwein eine positive Überraschung. An einem der Tische ein schwarzgewandeter und zylinderbehuteter Papás (Pfarrer) mit braver Ehegattin. Auf der schmalen Fußgängergasse hinter mir, zwischen den Vorbauten der Tavernen Richtung eigentlicher Uferstraße und der die Küchen der Lokale beherbergenden Häuserzeile, werden die ausländischen Passanten von meinem Wirt immer noch mit "Good morning!" begrüßt und zu einem Frühstücks–Mittagessen gebeten. Die Uferstraßensektion, vor der ich angelandet bin, ist für mich die allerschönste, denn hier agglomerieren sich gleich vier Tavernchen bzw. Ouzerien, die abends ihre Chtapódhia von der Querstange baumeln lassen, und schon spätnachmittags werden sie demonstrativ zur Schau gestellt, die schwer verdaulichen, und doch so leckeren Appetitanreger.

Und gleichzeitig ist man hier auch den Schiffen am nächsten, erlebt, wie die Großfähren hereinkommen und kurz verweilen, und auch mal etwas kleinere, oder der schnelle, schmalbrüstige Ausflugs–Katamaran Aléxandros, der von Tag zu Tag abwechselnd die sehenswerteren Inseln im nahen und weiteren Umkreis ansteuert.
Wie die Blue–Star–Schiffe noch beim Anlegemanöver die trägeren Oldtimer von GA Ferries überholen! – aber bei Blue Star muss ich leider stets an Goody's denken, das MacDonald's–Pendant, die einzigen Essensstätten auf der Blue Star Paros, der Blue Star Naxos und wohl auch der Blue Star Itháki, und dann wird mir schlecht, denn der Fraß liegt mir heute noch im Magen und das Naxos–Feeling vergeht mir zur Gänze, wenn ich nur daran denke; da hilft es gar nicht, wenn mir Bekannte von dem tollen Bordrestaurant auf der Langstreckenfähre Diagóras mit Destination Rhodos (bezeichnenderweise eine ehemalige D.A.N.E.–Fähre, damals deren mit Abstand modernstes Schiff, jetzt sind sie pleite) vorschwärmen, und ich kann nur hoffen, dass für die Blue Star 2 dasselbe gilt.

Wo hab ich je so viele Oktopusse gleichzeitig rumhängen sehen? Höchstens in Jíthio, in Gýthio(n) (das "n" ist für alle betont rückwärtsgewandten Katharévoussa–Anhänger gedacht, und für alle gleichgesinnten deutschen Reisebuchverlage), dem Fährhafen nach West–Kreta, auf der/dem Peloponnes. Ich frage mich, wo sie die alltäglich herbekommen. Die Uferpromende von Naxos–Stadt, das anheimelnde abendliche Wohnzimmer für alle, ist im 21. Jahrhundert nach wie vor menschlich geblieben, bietet eine Vielzahl positiver, schmackhafter Überraschungen, hat zwar moderne Cafés zwischengestreut, darunter aber keine echten Ausrutscher im negativen Sinn.

Meine, unsere Bleibe befindet sich im großen Hotelviertel hinter dem Ágios–Geórgios–Stadtstrand, nur etwa 600 m weg von den Tintenfischverzehrtempeln, ja, so nahe ist hier alles beieinander. Früher hätte ich nicht im Traum daran gedacht, in diesem Hotelbezirk zu nächtigen. Die Ausnahmeunterkunft hab ich auf Anraten meiner Freunde akzeptiert und es nicht bereut.
Mein großes Doppelzimmer, das ich alleine für mich habe, ist tadellos sauber, hat ein hübsches Badezimmer und vor allem einen großen Balkon mit Sonnenschirm und einem jener Ausblicke, die einen süchtig machen können, wenn man nichts anderes, vielleicht gleichermaßen Schönes in Elládha und anderswo auf Erden kennt. Vom zweithöchsten Stockwerk aus (über mir nur noch ein fantastisches Appartement mit riesiger Dachterrasse und geradezu verboten großartiger Rundsicht – ich hab's getestet) überblicke ich einen Teil der Bucht von Ájios Jeórjios, das Kap gegenüber mit dem derzeit stillgelegten, ummauerten Nachtcafé drauf, weiter südlich jenes von Ájios Prokópios, westlich gegenüber das nahe Páros, weiter südlich ist sogar Íos noch gut zu erkennen; und dreh ich mich etwas nach rechts, seh ich durch die lange Gasse wirklich JEDE große Fähre anlegen – genau das Richtige für einen wie mich!

Früher Abend in Naxos–Stadt. Wenn man so lange nicht mehr da war, zieht es einen wie so viele hinaus auf das rundliche Kap Vákchos nördlich des Fährhafens, auf dessen Mitte das berühmte Tempeltor, die Portára prangt, Überbleibsel wohl eines Apóllotempels.
Über einen längeren Damm, gegen den die Brandung schlägt, gelangt man hin, vor einer verlassenen Haushälfte campiert immer noch fahrendes Volk, wie schon vor 20 Jahren, auf einem gut befestigten Rundweg erreicht man die Höhe mit dem Wahrzeichen der Insel, schaut sich die anderen Touris an, schlendert weiter bis zu den Felsen über dem Abgrund.

Etwas weiter unten sitzt ein Grieche, den Horizont musternd. Von Nord bis Südwest zeigen sich umgebende Nachbarinseln, dominierend das nahe Paros, Síros tritt schon etwas zurück, und es dauert ein wenig, bis man geschnallt hat, dass Míkonos, Tínos und das fernere Ándros einem hintereinandergestaffelt entgegentreten und man zunächst an eine einzige große Insel dachte. Mein Grieche gibt zu, dass er sich in diesem Gebiet der Ägäis nicht so gut auskennt wie jenseits von Páros, wo er alle Inselnachbarn mühelos orten könnte. Er wartet wie ich auf ein vor kurzem von den NEL Lines hinzugekauftes Schifflein, einen kleineren Kykladenkreuzer, der von Lávrio und Síros aus startet und etliche Querverbindungen bietet: die Panajía Chozoviótissa, ein nach Öl und Ruß und sonst noch was riechender, gut aussehender alter Kahn mit seiner typischen, über ihre ganze Länge geschwungenen Form und dem elegant emporgehobenen Bugteil. Recht langsam nähert sich das Mittelding zwischen Groß– und Kleinfähre aus Richtung Síros und Páros.
Fast schon Sonnenuntergang, und einige der Ankömmlinge an Bord werden eine oder zwei Tränen vergießen bei dem herrlichen Anblick der vom Abendlicht mild beleuchteten Insel und ihres so einzigartig platzierten Tempeltores.

Schon ein 1–A–Blick, durch diesen einsam dastehenden geriffelten Torbogen mit seinen quadratischen Noppen dran auf die Stadt, das Kloster am Hang, die Berge und den Zas als höchsten Gipfel. Ich stelle mich genau vor die Mitte der Toröffnung und winke der ankommenden Fähre zu – vielleicht sehen sie mich ja in meinem Spalt. Doch gleich weiche ich wieder fotografierwütigen Mittouristen, denen ich im Weg bin. Alle sind sie hier oben versammelt, urlaubende Pärchen, Einheimische, Grüppchen, männliche und weibliche Einzelgänger. Es ist aber auch ein atemberaubendes Spektakel, in einer unendlichen Milde. Ich fühle mich einfach wohl.
So wohl, dass ich die Angekommenen knapp verpasse, sie nur mehr im Taxi an mir vorbeibrausen sehe.
Aber später am Abend gibts bereits den ersten Kraken zum Ousáki in unserer kleinen Runde.

Man lässt es gemächlich angehen, langsam, langsam, und schon tags darauf hab ich Gelegenheit zu einem Single–Ausflug vor dem wiederum abendlichen Treff.


Ein Ausflug nach Apíranthos

Wenigstens den Mittagsbus schaffe ich noch, und es steigen viele Einheimische zu, die meisten bei der großen weißen Kirche neben dem Flachbau des Krankenhauses, an der Ausfallstraße nach Ost, ins Inselinnere. Der Bus ist gerammelt voll.

Unsere Busroute führt keineswegs die auf meiner Karte rot eingezeichnete Hauptstrecke über die beiden Potamiá–Dörfer nach Chalkí entlang. Nein, wir fahren erst, an schilfumsäumten Feldern und Weiden vorüber, durch die große Ebene hinter der Stadt, zweigen dann nach Südost ab und winden uns bald zum ersten Hügeldorf namens Galanádho hinauf, wo die Ländlichkeit des Inselinneren sich bereits voll entfaltet. Wir passieren den ersten venezianischen Pírgos, einen alten Wohnturm.
Mittagslicht ist nicht das beste, vorteilhafteste für eine Landschaft, und so dauert es eine Weile, bis ich den Liebreiz und zugleich die beginnende Großartigkeit dieses Landstrichs wahrnehme. Schilder verweisen auf Nebensträßchen zu Klöstern und zur Küste hinab.

Káto und Áno Sangrí lassen wir rechtsab liegen, passieren einen Abzweig zum Dhímitra–Heiligtum, wo einige Kulturbeflissene aussteigen, und drehen nach Nordost, vorbei an einem weiteren Pírgos, auf Chalkí zu. Gelblichbraune Äcker, kleinere Wäldchen, weiße Kapellchen und vielversprechende Bergpanoramen säumen den Weg durch weitgehend sehr offenes Land. Auf meine Bitte hin erläutert mir mein Sitznachbar, ein einfacher Bauer, alle umliegenden Orte, höher wie niedriger gelegene. Sogar Moní gibt sich noch zu erkennen, bergwärts.
Chalkí ein auch aus dem Busfenster beeindruckendes, durchgrüntes Dorf mit hohen Bäumen, einem weiteren alten Wohnturm, einer Kítro(n)–Brennerei, alter Kirche und einer wohl noch älteren mit schönen Fresken etwas außerhalb. Schon knickt die schmale Überlandstraße ost– und südwärts auf Filóti zu.

Und kurz vor Filóti hab ich zum ersten Mal den Eindruck, mich in einer wirklich großartigen Landschaft zu befinden.
Ringsum steigen Berge empor, und einer der schönsten, geradezu landschaftsprägend, ist ein kleinerer spitziger Kegel westlich der Ortschaft, mit einer Kapelle droben, zu der sich ein steingraues, mauernumgebenes Stufenband quer durch die Oliven irgendwo aus dem Ort heraus in aller Großzügigkeit hinaufzieht. So ein Pilgergang könnte auch mich reizen, hätte ich mir nicht für heute ein anderes Ziel vorgenommen.
Da fällt mir der mit seinen 1000 m viel höhere Zas südöstlich von Filóti gar nicht mehr so auf, mit seiner zerschrundeten Felsregion, vielleicht, weil er irgendwie ganz natürlich aus dem umgebenden zentralen Bergland herauswächst, seine abgerundete Gipfelkuppe nicht ganz so spektakulär alles andere überragt.
Filóti, das wohl größte Dorf weit und breit, eine Mischung aus leichter Geschäftigkeit und Mittagsstille, mit schattigen Tavernen neben der zentralen Bushaltestelle.

Auf Serpentinen windet sich die bescheidene Hauptstraße an den nördlichen Abhängen des Zas hinauf zu einer kleinen Kapelle an der Stelle, wo eine asphaltierte Nebenstraße zum einsam gelegenen Dhanakós abzweigt.
Mehrere alte Steinwege münden vom Tal herauf in unsere Straße ein, begleiten sie ein Stück ganz dicht unterhalb. Die beiden älteren englischen Damen in meiner Nähe fotografieren ununterbrochen durch das Busfenster, es piepst und blubbert satt und elektronisch im Sekundentakt, fast nicht mehr auszuhalten dieses künstliche Geräusch, so begeistert sind sie von den Ausblicken hinunter nach Filóti und Richtung Kegelberg mit Kapelle, der immer verwegener aussieht, je weiter wir uns entfernen.

Ich schau bald lieber nach Südost, denn was sich da kurz auftut, bevor es bald wieder hinter einem naxiotischen Berg verschwindet, ist eine Bilderbuchaussicht hin nach Amorgós, und irgendwann taucht ein Stückchen Páno Koufoníssi auf und das höhere Kéros dahinter.
Nach einer kurzen Weile wieder die Aussicht, die, als wir die unteren Ausläufer von Apíra(n)thos entlangzockeln, längst Donoússa und seine kleinen bis winzigen Inseltrabanten mit umfasst. Was man wohl noch alles sieht, wenn man höhersteigt?
Ein Glück, dass wir so anhaltend gutes Wetter haben.

Fast am Nordende des Dorfes angelangt, endlich der Halt an einer platzartigen Erweiterung unter– und außerhalb der eigentlichen Ortschaft, nachdem wir scharf nach links bergauf abgezweigt sind, nicht die nur scheinbare Hauptstrecke weitergefahren sind, in Wirklichkeit das Sträßchen hinunter zur Küstensiedlung Moutsoúna.
Ausgeladene Pakete und Zeitungsstapel auf dem Asphalt, ein großes Denkmal, Bäume, zwei Sitzbänke um die Ecke: Aussichtsplätze!, auf der anderen Straßenseite genug Fläche für parkende Autos und ein sich bergan auftürmendes dichtes Häusergestaffel.
Apíranthos (auch: Aperáthou), einer jener beliebten Ausflugsorte auf der Insel, und die überwiegende Mehrheit der dem Bus entstiegenen Fremden kanalisiert sich sogleich durch einen ersten kurzen Durchlass vom Parkplatz aus, um sich nach wenigen Schritten auf der unteren länglichen dörflichen "Aussichtsterrasse" mit all ihren Kafenía und Tavernchen festzusetzen und dort zu verweilen, abgeschreckt vom ersten, sich gleich offenbarenden steilen Treppenweg hinauf in höhere Gefilde.

Genau den nehm ich mir als Erstes vor. Er führt mich in die wundervolle Stille eines Reiches aus fernen Tagen, eine fast leblose und doch einladende Enge, dort oben, lauter verwinkelte und gebogene Gassen. Am überraschendsten und eindrucksvollsten aber die ortstypischen gewölbeartigen Durchgänge an manchen Gassenecken und –einmündungen, es stellt sich ein richtiges Perugia–Gefühl ein, Erinnerungen an umbrische Städte und Bergdörfer. In einem dieser längeren Gassengewölbe sitzen zwei Alte auf schmaler Bank und lassen mich schweigend passieren. Wow, ist das schön!
Einmal gelange ich fast ans südliche Ortsende, wo es lichter wird, sich Gärten zeigen. Doch es zieht mich zurück in den eher finsteren, unergründlichen Ortskern, den labyrinthischen, den Wachtraum aus dem 17. Jahrhundert, als Kreter kamen, sich hier anzusiedeln. Ab und zu flieht eine dünne Katze ins Gemäuer, dringen sogar Kinderlaute aus dicken Wänden und tief eingelassenen Fensternischen. Der lange Mittag. Und kein Moder liegt in der Luft, wie in den feuchten Hafenorten, nein, hier sind wir viel zu hoch gelegen, und ein erfrischendes Lüftchen ist schon spürbar, reinigt jeden Winkel.
Bei dem Platz mit dem umfriedeten Kirchlein und dem ausladenden Schmuckbaum davor ist das obere Ende dieses Quasi–Mittelalters erreicht, eine gliedernde Straße schneidet den obersten Ortsteil ab, und etwas weiter nördlich biegt am letzten Haus vorbei ein steileres Sträßchen, das bald zum Feldweg wird, nordwestwärts hinauf. Irgendein alter Turm steht da in der kärglichen Landschaft bei einigen der obersten Gärten.

Als ich mich umwende die Überraschung, die mich dazu verleitet, den Feldweg noch höher hinaufzuwandern, bis er hangparallel am Bergfuß vorbeiläuft. Neben dem Weg unter mir ein ummauertes, großes terrassiertes Gelände mit neuen Anpflanzungen; es wirkt wie eine Klosterneugründung in spe. Aber was ist die Überraschung?
Sie hat nichts mit Naxos selbst zu tun. Wie üblich, bin ich entzückt über die weitere Umgebung, die mir von Nord bis Süd entgegenprangt, übers weite Meer. Wieder schließt sich der Kreis, und man spürt, wie nah beieinander diese Inselwelt eigentlich gruppiert ist, bei klarem Wetter so unschwer einzusehen. Im Nordosten der mächtige Block der Insel Ikaría, dahinter wieder einmal der jäh hochragende Kérkis–Berg des westlichen Sámos, neben Samos die ersten Höhen Anatoliens (!). Von den flacheren Eilanden weiter südlich erkenne ich nur noch Pátmos, nach langer Peilung mithilfe meiner Landkarte, Léros scheint es nicht zu sein. Über einen Sattel des lang hingestreckten Amorgós spitzt sogar noch irgendeine Höhe der Insel Astipálea zu mir herüber. Ob es wohl der Várdhia–Gipfel ist?
Überwältigend, so eine Weite, so ein Fernblick. Als Luftwesen steh ich so gerne da oben über allem, dreh mich und freu mich an der Ferne, während eine Brise meine Wangen streichelt. Bin dem Abheben nahe, wie in meinen Träumen, steig plötzlich hoch in die Lüfte, mühelos und selbstverständlich. Wär ich doch nur auf dem Gipfel des Zas!

Zurück in die Welt, landen, hinunter durch die Gassen. In dem kaum besuchten, anderthalb Meter erhöht gelegenen Einheimischentavernchen ganz nah dem Beginn der Essgasse kehre ich ein. Es gäbe so gute, einfache, hausgemachte Gerichte bei dieser Familie aus dem Dorf. Doch ich trinke nur was, freu mich auf den Abend in der Chóra.
Viel zu früh die Rückfahrt. Wer keine Fahrkarte hat, muss beim Supermarkt vor dem Ortsende an der Überlandstraße noch einmal aussteigen und das Ticket besorgen, der Fahrer wartet geduldig.


Einige Stunden in Kóronos und Umgebung

Ein andermal über Apíranthos weiter, wir steigen erst hoch über der Ortschaft Kóronos aus, direkt oberhalb des nördlichen Ortsendes, wo sich eine Telefonkabine befindet und die Hauptzufahrt.

Guckt man in bestimmte Reiseführer, wundert man sich, wie sehr das Dorf "verkleinert" erscheint auf diesen Druckseiten, auf diesem einen angebotenen Schwarzweißfoto, selbst in einem der bekanntesten Naxos–Büchlein ist lediglich das weniger prominente und bedeutende südliche Ortsdrittel abgelichtet, und das soll der typische Blick auf Kóronos sein?! Ähnlich misslungen wie die nichtssagende S/W–Ablichtung von Ágios Stavrós auf Donoússa in einem Kykladen–Führer, oder die seitenverkehrt eingepasste Ansicht der Hafenbucht von Anáfi, würden böse Zungen da lästern. Merkt man erst, wenn man dort war, ansonsten fällt's nicht auf – gut für den Verlag.

Wir haben allen Grund zur Freude: ein beachtlich großes, herrliches, die Hänge zierendes Prachtexemplar von noch relativ ursprünglich gebliebener naxiotischer Siedlung mit ihren eng aneinandergebauten Häusern breitet sich uns zu Füßen um den SW–Abschluss einer langsam und lang zum Meer hin abfallenden weiten, durchgrünten Talung aus. An der Küste der Órmos Liónas mit dem gleichnamigen Dorf, auf einer sich mühsam hinunterwindenden Teerstraße leidlich gut erreichbar. In der Umgebung von Kóronos mehrere hübsche Kapellen, ein byzantinisches Kirchlein, ein ehemaliges, heute verlassenes Piratendorf, einige Wanderrouten, teils auf Nebenstraßen.

Es ist eines jener Dörfer, deren Geheimnis sich nur dem lüftet, der es mühsam und mit offenen Augen durchstreift, nicht nur von oben aus ablichtet. Der Hauptweg hinunter führt nahe an einem größeren Kafenío vorbei, das den Alten davor auf halber Ortshöhe noch eine gewisse Übersicht nach weiter drunten in die immer enger werdende Kerbe bietet. Fast fühle ich mich als Eindringling, bin froh, nicht alleine gekommen zu sein.

Ein Brunnenhaus mit eingefasster, stetig sprudelnder Quelle. Die Wirtin des erfrischend unprätentiösen Kafenío–Tavernchens, vor dem wir uns niederlassen, steuert immer wieder darauf zu, um die Karaffen erneut mit dem köstlichen Quellwasser zu füllen, das ihre Gäste sofort zu schätzen wissen.
Wo lassen wir uns nieder? In einem gemütlichen Winkel mit großem Tisch gegenüber dem eigentlichen Lokal I Plátsa, dem älteren von zweien, die sich unweit voneinander entfernt zu beiden Seiten des Durchgangs zu einem sich überraschend öffnenden Dorfplatz mit Bäumen und spielenden Schulkindern angesiedelt haben, ganz nahe der "Brücke" über das Rinnsal von Fluss. Es ist ein Winkel zum Sichwohlfühlen, hinter uns eine alte, niedrige Hausfassade, eher ein Lagerraum als ein Wohnhaus, neben uns, eine Geländestufe höher, hochgewachsene Topfpflanzen, durch die sich ein sympathischer alter Herr mit gütiger Willkommensmiene beugt und einen von uns begrüßt, der sich mit ihm schon in früheren Jahren ausgiebig unterhalten hat, über recht ernste Themen. Vor uns die bescheidene Hauptpromenade, auf der so manches schwer beladene Eselchen vorbeigezerrt wird. Gleich um die Ecke ein in die nördliche Dorfmitte abzweigender hübscher Gassenweg. Und bis hoch über unserer Taverne türmen sich die schmutzig–weißen Flachbauten auf jähem Hang bis in die Gartenzone unter der Umgehungsstraße hinauf.

Wir bestellen ein spätes Frühstück. Dicke, sättigende Omelettes werden sehr schmackhaft zubereitet, immer wieder verschwindet unsere Wirtin, um frische Eier, frische Zutaten aus dem Garten zu holen, und deshalb braucht das seine Zeit.
Den guten Käse mögen wir gleich, und die ebenfalls selbstgemachte Feigenmarmelade und das herrliche Brot nicht minder. Die herzliche Frau ist sichtlich stolz auf das Selbstproduzierte, das sie sich später auch recht gut bezahlen lässt.
Bin dennoch froh, hierhergeleitet worden zu sein.

Zwischendurch setze ich mich einmal für ein paar Minuten ab, stapfe den abzweigenden Weg nach Nord hinter, in ein stilles Viertel hinein. Gleich links klempnert ein Dörfler in seiner Werkstatt, 50 m weiter ein Häuschen mit geöffnetem Fenster, aus dem die Bewohner über die Gasse hinweg talwärts und eingerahmt von den seitlichen Hängen ein fantastisches Inselmotiv vor Augen haben, jederzeit, wenn sie nur möchten: die Großinsel Ikaría weit draußen im Meer, und doch eingefasst von naxiotischen Bergflanken, ein Ausschnitt wie auf einem Bild über dem Sofa.

Über dem Bach wandern wir unter Baumschatten zu einem blinden Wegende, bei den Hühnern und Verschlägen kehren wir um, steigen unterhalb der das südöstliche Ortsviertel begrenzenden Häuserzeile hinauf Richtung Straße, an der Gartenzone entlang, spielende Kinder sind stolz auf ihre Katze. Oben biegt eine Nebenstraße Richtung Keramotí ab (– einem Dorf, das ursprünglich vielleicht aus Ziegeln gebaut war [?], etwas mit Ziegeln zu tun hatte, zumindest, wenn man dem Namen glauben darf).

In großen Schleifen zieht es uns die Hauptstraße entlang, alle möglichen Blüten werden gepflückt, ein gewaltiger Strauß in den Rucksack gesteckt, provisorischer Halt.
Nach einer halben Stunde haben wir das Nachbardorf Skadhó erreicht, es zeigt kaum Leben, keine Menschenseele. Dabei steht an irgendeinem Bau sogar etwas von höherer Schule drauf, und wenn das wirklich stimmen sollte, war das ein Kompromiss zwischen Kóronos und den weiter nördlich gelegenen Dörfern Koronídha, Mési und Apóllonas. Ein einziges, wohl bis abends geschlossenes, gut getarntes Kafenío sehen wir im vorderen, straßennahen Ortsteil, sonst nur Verlassenheit in diesen Gassen.

Umso schöner das weite Panorama von der Nordseite der Ortschaft aus in Richtung Ost bis Nord. Von weit unten lugt Liónas herauf, die Straße nach Mési ist kilometerweit einsehbar, die nach Koronídha weniger gut.
Bei der großen Straßengabelung, ab der man über beide Zweigstrecken nach Apóllona gelangt, beginnt unsere Wartezeit auf den Bus. Zwei Holzbänke neben dem Bankett laden zur Rast, weiter nordwestlich ein großes weißliches Denkmal, das an seiner Rückseite etwas Schatten wirft und als Aussichtsplattform dient. Ab und zu ein Auto, und ab und zu auch ein Quad, ja, auf Náxos unternimmt man mit dem Quad zu zweit sogar Tagesausflüge von den Stränden südlich der Chóra bis zur fernen nördlichen Siedlung des Apoll mit dem nahen Koúros. Dorthin brauchen wir alle nicht mehr zu streben, denn ein jeder von uns hat diese Gegend früher schon besucht, und auf die Nebensaison–Tristesse dort sind wir nicht mehr so erpicht.

Jeder wandert kurze Wegstücke auf eigene Faust. Nur 200 m oberhalb, den Feldweg an dem Kapellchen vorbei rauf, befindet sich eine Art Kloster (Klostergut?) mit Tor, Nebengebäuden und einer kuriosen Schaukel, gut für einen kurzen Abstecher.
Endlich trifft der Bus ein, der die längere Route über Koronídha (= Komiakí, steht so auf dem Busfahrplan!) genommen hat; wir mussten abwechselnd ständig beide Routen im Blick behalten, um ihn nicht zu verpassen.
Beschauliche Rückfahrt. Bergwanderer vom Zas drängen beim Abzweig zur Agía–Marína–Kapelle in den Bus, und schon bei der Ankunft im nahen Filóti ist er so voll, dass der Fahrer einen Entlastungsbus anfordert, den er aber nicht bekommt. Aber es geht schon – vor allem, wenn man längst einen Sitzplatz hat!


Naxos–Stadt–Streifzüge

Genießer haben diese Chóra eh in bester Erinnerung, kommen gerne wieder, denn Stätten guten Essens gibt es viele, und die findet man auch relativ bald auf eigene Faust. Für echte Gourmets eröffnen sich darüber hinaus noch weitere Perspektiven, über die Stadtgrenzen hinaus. Man muss andererseits nicht unbedingt ein echter Gourmet sein, ein naturgemäß auf ein höheres Budget Angewiesener, um in der Stadt qualitäts– wie preismäßig auf seine Kosten zu kommen. In diesem Sinne meine Nennungen, und jeder Leser soll bitte seine eigenen Entdeckungen machen, denn es gibt bestimmt noch Besseres – und gewiss auch Schlechteres.

Auf der Paralía, dem breiten Straßen– und Restaurantsaum in Hafennähe, findet sich manch ein kulinarisches Highlight, manches Schwergewicht der Kochkunst, im Hinblick auf den verlangten bescheidenen Preis, und eines der schwersten hat die niedrigsten Preise. Und man würde NIE hineingehen als bundesdeutscher Snob, "ich geh da nie rein", hab auch ich mir beim häufigen Vorbeischlendern gedacht. Augen und Ohren gestrichen voll, von der Geiz–ist–geil–Mentalität! Jedes Essen vier Euro achtzig, oder fünf Euro sechzig, oder vielleicht auch sechsfuchzich. Wenn ich so was schon lese, auf diesen Schildchen, die Passanten anlocken sollen. Nee, da sollen die Knicker hin, not me, never.

Aber wenn was immerhin Kalí Kardhiá heißt; ich hab in allen "Guten Herzen" bisher nur beste Erfahrungen gesammelt – ob der Name Verpflichtung ist? Man sitzt natürlich draußen, aber rein geht man zum Begrüßen des sehr herzlichen Menschen von Wirt, zum Auswählen des vielfältigen Speiseangebots und Begucken der Holzfässer. Wenn einem das eine oder andere (Gericht, nicht Fass!) schon etwas ausgetrocknet erscheint, in der langen Reihe von Blechbehältnissen hinter der Theke, nimmt man halt was anderes. Es ist hier alles so hundertprozentig urig–griechisch, wie ich es mir nur wünschen kann. Mein diesen Abend auf gut Gewürztes gerichteter Appetit wurde nicht enttäuscht, als ich das relativ scharfe einheimische Wurstgericht auswählte, das sooo scharf nun auch nicht war (kein Vergleich zu den tatsächlich höllisch scharfen Penne all'Arrabbiata in einem gestandenen gutbürgerlichen Wirtshaus auf dem Weg hinauf zum Bamberger Dom, und da hilft kein Rauchbier mehr!), aber alle schreckten davor zurück, vom Wirt gewarnt, dazu mehrere köstliche Beilagen auf dem Teller, auch Kartoffeln, versteht sich, man lässt sich einfach was nach eigenem Wunsch zusammenstellen. Es schmeckte geradezu himmlisch! Meine Tischpartner und –innen waren genauso zufrieden wie ich selber, mit ihren ganz anderen Speisen. Es geht also auch einmal ohne die strenge Kraken–Diät mit Ouzo! Auf die waren wir aber bereits süchtig geworden, da half nichts mehr.

Ein Stückchen außerhalb des Hafen– und Altstadtbezirkes liegt der sogenannte Hauptplatz der Stadt, die Platía Evripéou (früher: Protodhikíou), eigentlich nur ein bescheidenes Verkehrsrondell mit vier wichtigeren abzweigenden Straßen und ein paar unwichtigeren Gässchen dazu. Ein hübsches Kirchlein an der Südostecke des Platzes verdeckt das alte Friedhofsgelände, das sich nach Süd hin ausbreitet, inzwischen von der ausufernden Stadt umschlossen. Zwei Fahrzeugverleiher (auch gute Mountainbikes sind erhältlich!), ein größeres Lebensmittelgeschäft, mehrere Esslokale bzw. Kafenía und ein überteuertes griechisches Pub mit einigen irischen, englischen und deutschen Biersorten, das die im nahen Hotelviertel untergebrachten Briten anlockt, rahmen zusammen mit einer Ticketagentur für Fähren das Plätzchen ein.
Zwischen dem teuren Pub und einem modern bestuhlten und von jüngeren Einheimischen gut besuchten Café die Terrasse und der nach innen führende Schlauch des Scirocco, wo man immer herzlich empfangen, gut bekocht und wiederum herzlich verabschiedet wird, nicht selten von der neuseeländischen Freundin eines der Söhne des Hauses. Stoisch sitzt die Mama nach getaner Arbeit vor ihrer Fanta immer am selben Tischchen im Innenraum nahe der Theke, ungerührt von Grand–Prix–d'Eurovision– oder irgendwelchen Fußballgroßereignissen, die einem hier auf zwei Bildschirmen entgegengeschleudert werden(, was der Ruhe ziemlich abträglich ist). Ein Platz, wo man sich als einer, der auch mal größere Action verträgt, wohlfühlt und gleichzeitig das Treiben, den Vorbeizug der Fahrzeuge und Passanten draußen studiert. In nur höchstens 5 min spaziert man von hier zum Ágios–Geórgios–Strand und durchquert dabei die voll in die Stadt integrierte Hotelzone.
Insgesamt eine sehr menschlich dimensionierte Stadt, diese Chóra.

Wie schön, diese kleinen Spaziergänge, selbst die Richtung Hotelviertel, von der Protopapadháki–Straße, der Paralía–Meile aus, entweder immer geradeaus weiter nach Süd, oder immer direkt am Meer entlang, oder bei der Bank an der Straßenecke (neben dem OTE) im rechten Winkel nach links in die Papavasilíou–Straße hinein, mit ihren kleineren Geschäften eine Mischung aus Alt und Neu, ein ganz alter Laden mit mehreren Gewölben und Kellern, der viele naxiotische Produkte verkauft, ist ihre Zierde, linker Hand. Auf dem Weg dorthin auf derselben Straßenseite ein kleines CD–Geschäft mit Grundversorgungsmöglichkeiten für den Liebhaber griechischer und naxiotischer Musik, wenn die Auswahl auch beschränkt ist. Der Laden im Athener Flughafen oder der relativ kleine in der Innenstadt hinter den Markthallen an der Odhós Athinás haben da deutlich mehr zu bieten. Gegenüber dem Music Center, dem besagten CD–Laden in Naxos–Stadt, mehrere Gassen, die auf den Hauptplatz mit seinem Rondell zustreben. In einem schmalen Süßwaren– und Konditoreigeschäft lädt man mich auf ein Glas Kítro(n) ein, Tschítro(n), den gelblichen Likör, alle versammelten Griechen trinken lebenslustig mit und freuen sich über meine Kreta–Liebe.
Wie angenehm das Schlendern am Meer entlang hinter zu dem Kap mit einer Grünanlage und einer ummauerten Wetterstation drauf, in deren Aussichtsgarten wir auch mal reinschauen dürfen, nach zweimaligem Bitten. Liegt gleich gegenüber dem Rathaus, und hier beginnt die im Mai noch (wirklich) äußerst ruhige Hotelzone.

Der Strandbogen ein Kinderparadies, flach geht es ins Wasser, aber mir stehen zu viele Hotels dahinter, und zu viele Tavernen. Jenseits der Bucht erahnt man die weiter entfernten Dünenbereiche.

Stadtwanderung hin zum Grotta–Viertel östlich des Damms, der zum Tempeltorbezirk hinüberführt. Vor der Mitrópoli mache ich Halt. Zu der breit ausladenden, recht randlich situierten Kathedrale (na ja, jedenfalls nahe dem ältesten Siedlungskern) gelangt man auf der Hauptausfallstraße vom Fährhafen zur nördlichen Inselwestküste. Bald hinter dem letzten Obst– und Gemüseladen biegt man rechts hinein in eine ruhige Parallelstraße. Auf dem ausgedehnten Rechteck von Vorplatz ist zwischen zwei kleineren Kirchlein noch ein Ausgrabungsgelände eingefasst, 50 m weiter liegt sie da, die große orthodoxe Bischofskirche.

Nicht lange dauert es von hier aus zu Fuß hinauf zur Nordflanke des Kástro–Viertels, zu einem Ortsteil, der sich Boúrgos (Burgos!) nennt, und dabei denke ich stets an meine Tage in Altkastilien, ein ziemlich teures, einfaches Pensionszimmer mit in den Schlafraum runterlaufendem Wasser aus dem einzigartig engen Bad, nachtsüber eigenartig verpestete Luft von einer Fabrikanlage her, einen herrlichen Konvent außerhalb der Stadt und an den "Kölner Dom" mittendrin. Ob der spanisch klingende Name in dieser naxiotischen Chóra wohl irgendetwas mit Spanien selbst zu tun hat? Bei all den Katholiken gerade in Naxos–Stadt wäre es kein Wunder.

Von Boúrgos, dem ganz griechischen, durchs Gassengewirr wieder hinunter zum Hafen. Eine Menge Boutiquen haben sich in kleinen Ladenlokalen eingenistet. Irgendwo sogar eine katholische Buchhandlung mit einem Band über unseren Papst im Schaufenster, der Titel griechisch – etwas ungewohnt. Erst vor der Paralía wiederum eine weitere Platzöffnung, mit Caféhausstühlen vollgestopft.

Aber da ist es mir zu ungemütlich. Wenn ich in aller Ruhe frühstücken möchte, setz ich mich auf den Balkon des Μπουλαμάτσης (Boulamátsis), einem Lokal der alten Sorte, in dem schon zur Frühstückszeit bei kretischer Musik aus dem Radio köstliche Gerichte für mittags und abends zubereitet werden. Düfte, Dunstschwaden. Eine Ladung Fisch lugt irgendwo hervor, und die Wirtin ist eine ehrliche Haut, die mir mit küchenschmierigen Fingern 50 Cent mehr herausgibt als sonst üblich, als Dreingabe noch eine Süßigkeit in die Hand drückt, der Wirt etwas grummelig, aber gutmütig, nicht umsonst wurde er mir von meinem Zimmervermieter empfohlen.
Vom Balkon schau ich voller Abendsehnen auf die drei Oktopusverzehrstätten gleich unter mir, ihre vorgelagerten, segeltuchüberspannten Sitzterrassen, und meist begegnet mein Blick jenem eines der Stammkunden von da unten, die schon ihren ersten Ouzo, ihr Morgenbierchen schlürfen oder eben einen Kafedháki. Inzwischen gießt die Juwelierin von nebenan schon mal ihre Balkonpflanzen. Und höchstens noch ein anderer Gast gesellt sich zu mir an einen Nebentisch, da muss die osteuropäische Putzerin wieder ein Tischtuch sauber wischen.
Friedliche Morgenstimmung. Die Krönung des Geschehens wäre ein ankommendes Schiff – die Blue Star von Astipálea und Dhonoússa her?

Ein Sonntagmorgen. Aus Lautsprechern quäken Überreste der Osterliturgie, die für einen echten Orthodoxen erst zu Pfingsten vorüber ist, über die ufernahen Straßenzüge. Von der Pa(n)dánassa–Kirche, eine Treppe über der Paralía gelegen, dringen sie zu mir herunter, die heiligen Gesänge. Und es zieht mich hin und hinein in das gut gefüllte Gotteshaus, ein weinig zu lauschen und zur Besinnung zu kommen. Ganz vorne trete ich ein und setze mich nahe dem Alterraum in einen dieser Chorstühle. Wechselgesang und Feierlichkeit, unerreicht. Was für ein Unterschied zu unserer heimatlichen Liturgie.

Gestärkt trete ich meinen Gang hinauf ins venezianische Kástro–Viertel an, auf Umwegen.
An einer Stelle muss ich mich richtig bücken, um durch einen viel zu niedrigen gewölbeartigen Durchlass zwischen zwei Gassen zu kommen. Da hinten, zu Füßen des Kástro–Bezirks, gäbe es noch einige versteckte Pensionen, relativ dicht am Ufergeschehen und doch in sehr ruhiger Lage. Am schönsten ist es, erst hangparallel vorzuwandern, an der Ágios Spirídonas–Kirche vorbei, und weiter nördlich einen Haken bergwärts zu schlagen, denn dann türmt sich über einem die Bastion des Críspi–Turms, eingegliedert in die herrlich restaurierten festungsartigen Außenmauern dieses alten Burgbezirks.
In einem kleineren Nebenhof noch außerhalb der hohen Begrenzungsmauern stehen Stühle für Freiluftkonzerte bereit. Hier wünschte ich mir Emma Kirkby zu hören, begleitet von dem Lautisten Anthony Rooley, mit Liedern von John Dowland ("Awake, sweet love"), oder ein Streichquartett von Haydn oder Schostakowitsch, oder gleich das Münchner Kammerorchester mit Henze oder Widmann und am besten dem Jörg selber mit seiner Klarinette! Nicht auszudenken, wenn er in dieser Umgebung einmal den dialogue de l'ombre double für Klarinette und Tonband von Pierre Boulez zum Besten gäbe. Ein unvergleichliches, unvergessliches Erlebnis. Oder besser weiter drinnen, um die katholische Kathedrale herum, wo mehr Platz zur Verfügung stünde.

Gleich unter dem Eingangstor (dem Críspi–Turm) rechts der erste venezianische Palazzo, in dem gerade eine Führung stattfindet. Ich drehe bei der ersten Möglichkeit nach links in die Sanoúdhou–Gasse hinein und fühle mich sofort ganz geborgen in diesem angenehm ruhigen "Museumsviertel", in dem der Besucher kaum einen aufdringlichen Laut vernimmt. Was für ein Hochgenuss ist es, an so einem Ausnahmeort verweilen zu dürfen, fast allein noch dazu. Ein Würde ausstrahlender katholischer Priester mit weißem Kragen kommt mir entgegen, plaudert mit gedämpfter Stimme mit einem einfach aussehenden Griechen. Ob ich vielleicht dem Erzbischof begegnet bin – oder eher einem aus dem Hofstaat?
Mein Weg endet am Ostende des Kástro, wo man Treppen hinuntersteigen könnte ins normale Leben. So kehre ich lieber um, denn den normalen Alltag kenne ich zur Genüge. Hochragende Gebäude mit starken Außenmauern umgeben mich hier hinten.
Ein kurzer Durchgang und Anstieg, und schon gehe ich an der Rückseite der aus hellgrauem Stein erbauten katholischen Kathedrale entlang, vor mir der massige Sanoúdhou–Palast.

Der Weg knickt nach links, rechts die Ursulinenkirche mit zugehörigem Kloster und integrierter Schule. Geradeaus der große Bau des archäologischen Museums, in das ich diesmal nicht hineingehe, obwohl es sich überaus lohnen würde: ich hab es schon damals kaum ausgehalten vor Staunen über all die herrlichen Sammlungsstücke, insbesondere die Kykladenidole in allen Größen, teils 5000 Jahre alt und älter (– ich bin total ausgeflippt, war vollkommen fertig, um ehrlich zu sein – beinahe hätte mich der Aufseher gestützt und, selber ergriffen, hinausgeführt, na ja). Da waren die alten Germanen noch echte Wilde.
Die schmale Sackgasse führt am Eingang des Museums vorbei hinter zur ehemaligen Jesuitenschule, in der es Níkos Kazantzákis immerhin fast ein Jahr lang aushalten musste, der exilierte Kreter.
Bevor ich zur Besichtigung der Kathedrale umkehre, wandere ich noch ein Stück südwestlich hinab, vorbei an einer anderen Kirche durch das naxiotische Ausnahmeviertel.

An ihrer Südseite und vor dem Haupteingang von West her ist die (katholische) Erzbischofskirche für die Bistümer Náxos, Tínos und Mýkonos begrenzt von einem nicht zu groß und doch für die Umgebung beachtlich dimensionierten gepflasterten Platz, fast eine Theaterkulisse, wirklich und unwirklich zugleich. Man müsste einmal nachts herkommen, di notte, in una notte d'estate, einen unaufdringlichen Sommernachtstraum auszukosten.
Die Kirche scheint zu normalen Tageszeiten immer geöffnet zu sein, vielleicht nicht am frühen Nachmittag, wenn das italienische Modell übernommen wurde. Eine Frau bewacht sie unauffällig, mit kleinen Arbeiten beschäftigt. Mein Latein reicht gut aus (– wenn es nur immer so wäre!), um die Inschrift zu entziffern, die von der letzten Renovierung kündet und die Diözesen nennt, die dem hiesigen Erzbischof unterstehen.
Griechisch–orthodoxe Kirchen strahlen gewiss mehr Mystisches aus als diese. Sie ist dennoch nicht unansehnlich, hat einiges Altes zu bieten: das Marien–Altarbild, zum Beispiel.
Ich gehe langsam vor zur Del(l)apórta–Gasse. Irgendwo hängt ein wunderschöner roter Bougainvilléa–Zierstrauch über eine Mauer. Touristen fotografieren ihn. Eine internationale Sehenswürdigkeit, für nördliche Großstädter.

Nun hatte ich die guten Kartoffeln aus dem Kámbos hinter der Stadt schon fast wieder vergessen, bis ich sie eines Abends als Sonderanfertigung beim Sonnenuntergangs–Watching in der beliebten äußersten Strandkneipe namens Flísvos am südlichen Ende des Ágios Geórgios–Stadtstrandes angefertigt bekam, zusammen mit mehreren pikanten Saucen.
Das Lokal am Ende des langen Holzplankenstegs über dem Sandstrand meine ich, dort, wo eine kleine Stichstraße reinkommt und der Dünenabschnitt dieser Gegend beginnt.
Dabei war soeben ein großer Buffet–Abend zum Einheitspreis angesagt, und das gerade für seine scharfen Riesendinger von Kartoffelkanten weithin berühmte Strandetablissement brachte nach (deutschzüngiger) Fürsprache des überaus netten blonden slowakischen Kellners (Typ Windsurfer; direkt nebenan die Windsurfschule) all seinen guten Willen auf, uns kulinarische Querschläger nicht zu enttäuschen, eine Ausnahme vom Buffet–Zwang zuzulassen.
Das uns umlagernde, praktisch rein deutschsprachige Publikum (mit deutlichen Einsprengseln aus AU, evtl. auch CH) reckte da schon manch einen Hals, geradezu nacktschneckenähnlich, angesichts des uns präsentierten Extraangebots. Wohl auch, weil wir BIER tranken und nicht WEISSbier, an einem der wenigen Orte unseres Geoids, wo das Erdinger Weißbier billiger verkauft wird als das galaktisch überteuerte einheimische Mýthos im dicken, eisgekühlten Kelch!
Ganz abgebrühte Naxos–Emigranten und alte Szene–Hasen (Szene im bescheidenen griechischen Sinn, nicht etwa Schwabinger Protz–Szene) umklammerten nichtsdestotrotz ihre Rotweingläser, in gewohnter Beglücktheit der sinkenden Lichtspenderin entgegenträumend. Ja, da muss man hin, dabei sein, grad schön ist's! Ja, wirklich!


Ein Wiedersehen mit Mára(n)gas und Pláka

Einen Jeep wollen wir uns nicht mieten, die ganz südlichen Strände zu erkunden, inklusive jener der südlichen Ostküste. Keine Chance auch diesmal für eine Durchquerung der fast unbewohnten zentralen Südhälfte der Insel von Filóti aus über den Pírgos Chimárrou, den antiken Wachturm, und noch einmal 11 km weiter auf holprigem Feldweg bis zum Kala(n)doú–Strand, dem wohl allersüdlichsten.

Also, ehrlich gesagt bin ich ja in grauer Vorzeit bereits einmal über alle westlichen Strände bis fast nach Agiassós gestiefelt, ja: zu Fuß, es war anstrengend aber erlebnisreich, es war's wert, sozusagen, und zu mehreren gelingt das eh nicht mehr so ohne Weiteres, wegen der beträchtlichen Entfernung – muss auch nicht sein.
Es bleiben also die stadtnahen südlichen Vorzeigestrände, deren lange Kette an der Südseite der Halbinsel mit dem Ájios–Prokópios–Kap beginnt.

Erst bei meinem zweiten Ausflug nach einer mittäglichen Zwischenpause in der Stadt ins Strandland nimmt der Busfahrer die gewohnte Route, nicht wie zuvor jene östlich am Airport vorüber gleich nach Ájia Ánna. Am Nordende der relativ kurzen, asphaltierten Flughafenpiste (für die üblichen Urlauber–Jets außer der gelegentlichen Propellermaschine aus Österreich nicht geeignet, weil nicht lang genug) und dem benachbarten Salzsee vorbei fahren wir an jenem frühsommerlichen Montagnachmittag im Mai hinter den westlichen Ausläufern des Ájios–Jeórjios–Strandes durch ein weites Grasland, das um die Salzflächen herum mit dunkleren, festeren salzliebenden Gräsern bestanden ist.

Ob die Strecke weiter draußen wohl noch gesperrt ist, wie es manches Straßenschild unzweideutig ankündigt? Unser kühner Fahrer wagt es jedenfalls, ins Ungewisse vorzudringen. Die erste Straßensperre beseitigt er noch selber, der Gewiefte, nachdem er den Lenker eines entgegenkommenden Autos kurz interviewt hat. Wir befinden uns bereits auf den abgesehen von der Aussicht nicht sonderlich attraktiven Höhen des Vorgebirges ins Meer hinaus. Zahlreiche neue, sowohl vereinzelt stehende wie auch in Reihen gebaute Unterkünfte zieren den Straßenrand und das Abseits.
Als wir in die Touristensiedlung Ágios Prokópios eindringen, winkt uns ein fahnenbestückter Straßenbauwächter ab – es ginge nicht weiter, wegen Teerung. Doch so schnell gibt unser Odhigós nicht auf, schließlich ist er übers Handy weitaus besser informiert als der einsame Straßenwärter. Wir begegnen noch einem zweiten Exemplar von hoffnungslos desinformiertem, irgendwo schamlos zurückgelassenem Wegewächter. Zum Glück haben wir uns nicht an ihre Kommandos gehalten, die Blockade durchbrochen.
Wie sich herausstellt, ist die Teerung dieses Streckenabschnitts längst abgeschlossen! Direkt am Ostende des Strandes verlassen wir den ersten Badeort und sind bald in Ágia Ánna angelangt, wo wir etwa in der Ortsmitte in die andere, von Ost her kommende und spätestens hier endende (Haupt–)Straße einbiegen.

Nicht direkt eine große Attraktion, das Örtchen. Aber mit welch großem Erinnerungswert für so viele "altgediente" GR–FahrerInnen! Am Straßenknick im Zentrum, gleich beim pittoresken Fischerhafen, endet der Asphalt – und auch unsere Busfahrt. Warum? Weil ab hier die Teerung weitergeht. Eine Fahrbahnhälfte der breit ausgewalzten Staubpiste ist bereits einige hundert Meter weitergeteert, dampft noch, und der schwere Bus darf da nicht durch. So müssen alle aussteigen und auf Schusters Rappen und auf eigene Faust teils weite Wege zurücklegen, bis in ihre näheren und ferneren Pauschalunterkünfte.

Ja, nur wenige Stunden zuvor war ich noch problemlos mit dem Bus bis hinter den zweiten Campingplatz durchgekommen, bis zur Einfahrt in eine Hotelanlage, wo er wendet und gleich wieder zurückfährt. Wie hatte ich da gestaunt: entgegen den Aussagen in meinem Kykladen–Führer war an diesem 14. Mai 2007 hier immer noch nicht asphaltiert, endete die Teerstraße tatsächlich weiterhin innerhalb der Ortsgrenzen von Ágia/Agía Ánna!
Klar, fast bis zum Endhalt des Busses war der Weg bereits gut gewalzt, richtig platt, und es war offensichtlich, dass das Aufbringen der Asphaltdecke nicht mehr sehr lange auf sich warten lassen würde. Ich nehme an, dass jetzt, gegen Mitte Juli, wiederum ein wesentliches Stück weitergeteert ist, sodass die absolut nicht den Tatsachen entsprechende Behauptung in einem Reiseführer (schon in der neuen Auflage 2006!) allmählich tatsächlich nach und nach an Wahrheitsgehalt gewinnt bzw. schon gewonnen hat. Wenn Ihr also das nächste Mal kommt, Leute, werdet ihr höchstwahrscheinlich Euer Gefährt schonen können und fast bis zum Orkós–Strand Asphalt vorfinden. Aber damit ist auch der Spaß vorbei, denn ein richtiger Quad–Pilot fährt zehnmal lieber auf Sand als auf Asphalt, und ich kann nur sagen, die etwas abgelegeneren Strände von Naxos entwickeln sich immer mehr zu beliebten Quad–Rennstrecken. Überall sieht man sie, die besseren zweisitzigen "Motorräder" mit Überrollbügel und den vier Ballonreifen. Manchmal werden sie einem schon lästig, wenn man wieder von ihrer Staubwolke eingesandet wird. Und wenn keine Quads daherkommen, dann wenigstens immer wieder Motorräder.

Es ist wie verhext, wieder einmal hab ich gerade noch erlebt, wie schön es bei aller gelegentlichen Staubbelastung ist, kilometerweit hinter– bzw. zurückzuwandern auf immer noch einem FELDweg – welch ein Unterschied zu einer Asphaltstraße!

Von der Bus–Endstation aus stapfe ich erst einmal auf dem mit Sandalen so angenehm begehbaren Sandweg weiter. Rechts die niedrigen Dünen, die den weißen Sand des Naturwunders von Pláka–Strand nach Ost hin abgrenzen. Nach wie vor ein wahrer Traumstrand ist es, wenn auch die Bambushütten von früher zur Gänze und spurlos verschwunden sind. Und es ist viel Platz, zu Mai–Zeiten. Ein Paar, ein einzelner älterer Herr, später noch eine Gruppe von vier Sonnenhungrigen, gegen die Dünen lagernd, das ist alles! Sonntags wohl mehr.
Auf den Dünenrändern und vor allem landeinwärts, am Rand meines Weges, eine dezent bunte, bescheidene Blumenvielfalt, Überreste des Frühjahrs. Auf der dem Meer abgewandten Seite das menschliche "Zutun": Es ist kein Zukleistern, bestimmt nicht, aber es ist eine lockere, dennoch fast ununterbrochene Abfolge von immer neuen Unterkünften, Kleinhotels, weißgekalkten Appartement–Häusern, die zumindest am frühen Nachmittag und zu dieser Jahreszeit alle noch SEHR verlassen aussehen. Nadelbäume, Tamarisken, stehen nur östlich des Feldwegs und recht sporadisch, nur manchmal als Formation Richtung Hinterland. Hinter der Ebene leuchtet das Bergland. Ein Quad, zwei Motorräder. Staubfahnen. Kaum ein Fußgänger. Ein ins Meer Schreitender hat Paros im Dauerblick, um sich gleißendes Sonnenlicht, glitzerndes Wellenspiel.

Mein Weg verliert sich im Sand. Nun heißt es auf dem oberen Strandsaum weiterzugehen.
Mikrí Vígla kommt immer näher, ich gehe bestimmt schon auf dem Ufer des Orkós–Strandes. Wie ein Riegel plötzlich eine Sonnenschirmbastion. Es sind nicht viele Schirme, nicht unmäßig viele Sonnenliegen, aber es macht sich bemerkbar: das einzige etwas größere Hotel mit eigener Zufahrt aus Ost (so eine Zufahrt haben aber auch einige kleinere Häuser), von der "Hauptstraße" Glinádho – Kastráki her. Eine Gartenbar wird sichtbar. Ich muss mich zwischen Pauschalurlaubern hindurchbewegen, die auf ihren Liegen träumen, von zweien misstrauisch beäugt.
Höchstens noch 600 oder 800 m entfernt die große Siedlung des immer stärker ausufernden Mikrí Vígla. Darauf hab ich jetzt keine Lust, überlasse es gerne den diversen Emissären der Reisebuchbranche, wieder 4 neue Tavernen zu orten, dreiundzwanzig weitere Unterkünfte und zweieinhalb neu geteerte Straßenkilometer um jenes Kap herum. Und nicht zu vergessen: drei oder fünf ganz große neue Fahrzeugvermieter mit 20 oder 200 Quads, irgendwo da unten. Also umkehren!
Schaut man genau hin, sind die Pferdehufspuren auf dem langen Strandband nicht zu übersehen. Das Werk deutscher Auswanderer?

Ich nähere mich auf meiner Straßenwanderung die vorher gefahrene Busroute zurück der ersten Strandtaverne von Süd her, noch ein paar andere werden folgen, alle liegen sie auf der landwärtigen Straßenseite. Einige von ihnen waren regelrechte Kultorte, noch in den Neunzigerjahren des alten Jahrhunderts, fraglos aber in den Achtzigern oder gar Siebzigern. Jetzt wirken sie alle etwas entschärft, zivilisierter, glatter. Das liegt aber vielleicht daran, dass einfach noch nicht viele Urlauber hier sind, sich keine urigen Szenen zutragen können: Wiedersehensfeiern, Gelage, Besäufnisse, die auch die anwesenden Einheimischen in Stimmung versetzen. Feiern kann man an diesen Orten bestimmt noch recht ausgiebig und teils sogar sehr idyllisch. Hinter den Tavernchen meist irgendwie zugehörige Rooms, jedenfalls Gelegenheit zuhauf, hier draußen unterzukommen, fern der Stadt. Einige wenige Einkaufsläden, man muss sie fast suchen.

Der südliche der beiden Campingplätze, der hübschere und schattigere, vor dem früher der Bus wendete, hat einen dieser Minimärkte und wirbt sogar mit einer "Bakery", das alles entpuppt sich jedoch als wirklich spärlich bestückt, zumal sie noch keine Gäste auf dem Platz zu haben scheinen, zumindest keine Zeltgäste. Freundliche Leute, nichtsdestotrotz. Ich geh den kurzen Schlauch von Zufahrt zurück zur künftigen Teerstraße am Ufer.

Idyllisch gelegen im Schatten eines großen Nadelbaumes neben der Straße der einzige öffentliche OTE–Fernsprecher weit und breit. Ein recht dürftiger, "nackter" Campingplatz schräg gegenüber, ein einziges Wohnmobil drauf. Nun endlich hat der Baumbestand hinter dem Strand etwas zugenommen, kurz vor Mára(n)gas. Südlich des kleinen Kaps Ajíou Nikoláou mit der Kapelle des Heiligen Nikolaus (Nikólaos) drauf und einem großartigen lichten Wacholderwald unterhalb der Felsen ein weiteres kleines Strandparadies, eben das von Máragas.
Das hier wäre "meine" Gegend, trotz ihren Nähe zu Agía Ánna, die nächste wäre viel weiter im Süden: der Zedernforst vor Pirgáki mit den relativ intimen Sandbuchten zu seinen Füßen, darüber das Skelett von Hotelbau bzw. –ruine. Aber diese "meine" Gegend trägt inzwischen wohl schon eine randliche Asphaltdecke! Lasst uns hoffen, dass der Wirt der einzigen sich stärker hervorhebenden Taverne nicht für eine Teerung der großen Autoparkfläche jenseits der Straße mit den berühmten beiden Tamarisken plädierte, die den (momentan) zwei Tischen über dem Beach dürftigen Schatten spenden. Dann nämlich wäre es vorbei mit dem Ansichtskartenmotiv und entsprechenden Abbildungen in unserer Reiseliteratur.
Vor meiner mittäglichen Rückfahrt in die Stadt (bei noch ungesperrter Straße) nehme ich ein einfaches, schmackhaftes vegetarisches Mahl in dieser Taverne ein, zu der ich zum Abendessen wiederkommen sollte – dann unter einer der Tamarisken. Es haben sich nicht wenige Mitesser eingefunden, hier bei Manólis (– wenn die Lokalität überhaupt noch so heißt). Hastig zahle ich, denn bald kommt der Bus von Pláka her, der vor einigen Minuten an uns vorbeigezuckelt ist.

Nun also Spätnachmittag, wegen bereits erfolgter neuer Teerung einer Fahrbahnseite ein paar hundert Meter aus Agía Ánna heraus konnte mein Bus nicht durchfahren bis nach Pláka. Es macht nichts, denn ich hab höchstens 450 m zu gehen, und Gott sei Dank, bis Máragas ist heute nicht durchgeteert worden! So ist die Idylle noch erhalten, und ich werde sie genießen.

Meine Bekannten liegen irgendwo in der Sonne, ich suche sie am falschen Ort, mache anschließend einen Spaziergang vom Strand aus ins Wacholderwäldchen hinein, nehme dann einen Pfad weiter durch die Felsen des Kaps zur Kapelle hinauf. Ein herrlicher, leider ziemlich begrenzter Fleck auf der naxiotischen Landkarte!
Vor einem Nebenraum der Kapelle, Tür geöffnet, schuftet ein Fischer, sein Haus mit Anbauten liegt nur ein kleines Stück westlich, etwas unterhalb, er sieht von dort aus bereits den Minihafen und die Mole von Ájia/Ajía Ánna ein, bei Sonnenuntergang und in der blauen Stunde ein Traum – θαύμα. Dann sollte man zugegen sein.

Der eine Tisch wird frei, und im Abendlicht wird geschmaust. Der letzte Bus nach Naxos–Stadt kann wieder durchfahren, Teer getrocknet, und den nehmen wir. Schön war's!


Kinídaros, eine versteckte Perle von Naxos

Bevor ich mich von dem Eiland verabschiede, möchte ich unbedingt noch das Heimatdorf einer sehr sympathischen Griechin, die in meiner Unterkunft arbeitet, kennenlernen.
A. stammt aus Kinídharos, und das ist etwas abseits der großen Inselrouten, umgeben vom Steinbruchland, konkret: Marmorland.

Es wird wieder ein Bus gegen Mittag, und es sei einmal gesagt: besonders gut ist das öffentliche Bussystem von Naxos nach wie vor nicht; nur zu den südlichen Stränden, wenigstens bis Pláka, geht es in der Hochsaison im Halbstundentakt – aber nur dann.
Nebensaisonal und inseleinwärts sieht es viel schlechter aus. Wenn man aus dem Bergland zurückwill, geht das in der Regel spätestens so etwa bis halb fünf, meist muss man den Rückweg VIEL früher antreten.
Aber mir reichen eh immer wenige Stunden inklusive Hin– und Rückweg, bleibende Eindrücke zu sammeln. Und dann gäbe es ja noch die schräg hochgehaltene Hand am Straßenrand, für alle Fälle.

Etwa anderthalb Kilometer hinter der Stadtgrenze nehmen wir diesmal den Abzweig nach links, Richtung Potamiá–Dörfer, nach einem weiteren Kilometer einen weiteren nach links, zum Dorf mit dem blumigen Namen Ágios Thaléleos, das am Rand einer Talung gelegen ist, die unterhalb von Mélanes endet.

Steil geht es hoch in dieses Dorf Mélanes, wo unser Bus auf dem Dorfplatz gleich beim Ortsanfang sofort wieder wendet. Ein paar Touristen steigen schon aus, denn es lässt sich von diesem Dorf aus eine nette Wanderung von nicht einmal 3 km Länge zu einem berühmten Koúros (einer dieser überlangen unfertigen, tonnenschweren liegenden Marmorstatuen), dem von Flério, unternehmen. Die Gehfauleren bleiben dagegen ruhig im selben Bus sitzen, denn er fährt auf seiner weiteren Route noch dichter an die grüne Koúros–Stätte heran.

Also wieder hinunter ins Tal, ostwärts weiter auf der gut ausgebauten, wenn auch nicht gerade überbreiten Landstraße, gleich wieder rauf auf die nächste Höhe und in langen Kurven um einen Hügel herum durch den oberen Teil des Dörfchens Kourounochóri. Irgendwo an der Strecke ein einsam gelegener besserer Verschlag von Taverne mit erwartungsvoll ausharrendem Besitzerpaar. Nur mehr eine Handvoll Schulkinder befinden sich noch in unserem Gefährt, mit jedem Winzort werden es weniger.

Míli (Mýli) passieren wir oberhalb, das Kleindorf fällt den Hang hinab, hinterlässt den Eindruck eines Ovals, wieder ein Schulkind steigt aus. Schon breitet sich unter uns eine weitere Talung aus und bald ist die kurze Stichstraße mit dem Wegweiser "Koúros" erreicht, auf der man nach vielleicht einem halben Kilometer die grüne Oase mit dem größeren (von zweien in dieser Umgebung befindlichen) Koúros erreicht. Das alte englische Paar verlässt hier den Bus, erfährt noch schnell die Rückfahrzeit. Lediglich zwei Kinder und meine Wenigkeit fahren weiter mit auf dieser kurvigen Straße durch ein hübsches Hügel– und Bergland mit mehreren Abzweigen zu Marmorbrüchen.

Zwei Kilometer vor meinem Ziel steigt die Straße wieder deutlich an und kurvt durch grüner werdendes Land mit vereinzelten, noch in Blüte stehenden Ginsterbüschen hinauf in das Becken von Kinídharos an dessen westlicher und nördlicher Flanke sich der Ort ausbreitet, auch die Hänge hinauf. Es ist eines der größeren Dörfer, mit einem ganz eigenständigen Charakter, der wohl in erster Linie seiner hübschen Lage und relativen Entlegenheit zuzuschreiben ist.
Wunderschön die kleinere Hügelspitze etwas südlich mit der weißen Kapelle drauf, die dem von Bergen umrahmten grünen, baumbestandenen Becken das gewisse Etwas gibt.
An der Kirche vorbeigefahren, den Dorfplatz erreicht, lediglich eine Verbreiterung der Durchgangsstraße mit ein paar Bäumen, einer weiteren Kapelle, einem von außen modern wirkenden Kafenío. Hier ausgestiegen (worden), der junge Busfahrer fährt mit einem Kind weiter, sagt, er käme für die Rückfahrt in die Chóra deutlich eher zurück als geplant.

Warum nicht einkehren? 150 m weiter finde ich gleich rechts über der Straße ein einladend aussehendes Lokal, die Außentische in der Sonne, also geh ich rein. Ein dicker Brummer mit einer Marmorladung dröhnt draußen vorbei. Ansonsten absolute Mittagsruhe. Der recht kleine Wirt da drinnen ist an einem seiner Tische mit in die Hand gestütztem Kopf eingenickt, ich will ihn nicht wecken. Der Fernseher läuft, eine amerikanische Schnulze mit griechischen Untertiteln. Eine Tür führt verlockend auf einen längeren, sehr schmalen Balkon.
Ein Stuhl, ein kleiner Tisch, ich sitze, unter mir eine häusliche Szene: zwei Frauen in einer Wohnzimmerhöhle im Erdgeschoss auf der anderen Hofseite, lautstarke Diskussion mit einem Mädchen, aber irgendwie passt es zu der Mittagsszenerie.
Links ragt ein hübsches Haus in die Höhe, mit bildhübsch verteilten Farbstreifen auf dem Holz und dezent milchig grün bemalten Fensterläden. Sieht im Verein mit ein paar Pflanzen zum Umwerfen schön aus.
Bin schon gespannt wie's weitergeht, aber die Frauen fühlen sich beobachtet, ziehen sich in die Tiefen des Hauses zurück. Es bleibt ein verlassener, sonnenbeschienener Hof.
Ich nehme Eindrücke in mich auf.
Der Wirt ist aus seinem Schlummer hochgefahren, hat mich bemerkt. Ich bestelle.
Ruhig beginnt er mit geschickter Hand Tomaten und Gurken zu schnipseln, dazu viel Zwiebel, ein Kotelett ist schnell von einem Batzen Fleisch runtergehackt und schon in der Pfanne. Das Mädchen, eher eine junge Frau, taucht auf, wird abkommandiert, etwas zu besorgen.
Es bleibt viel übrig von dem riesigen Salat.

Fast am östlichen Dorfrand angelangt, steig ich einen Nebenweg hoch, der in einen Pfad bis zum letzten Haus oben ausartet. Dort bietet sich das zurück ins obere Dorf führende Sträßchen an.
Auf einer ansteigenden Gasse nähere ich mich der Dorfschule mit ihren hangab betonierten weißgetünchten Stützwänden. Vorher noch ein kleiner Hundeschock; aus einem Häuschen rechts meines Weges entkommt ein pflichtbewusster Wauwau seinem Frauchen, das ihn erfolgreich zurückruft, bevor er mich anfällt und zerfleischt.
Geschrei der nach dem Unterricht Fußball spielenden Kinder aus dem Schulhof über dem Dorf, das von hier aus den Hang hinuntergestaffelt erscheint.
Nicht in jedes Viertel will ich eindringen, so wende ich mich bei nächster Gelegenheit bergab, durch hübsch gewundene Gässchen. Das Dorf macht schon jetzt einen sehr guten Eindruck auf mich.
Neben dem außen modern wirkenden Kafenío (und bescheidenen Lebensmittelgeschäft) treffe ich wieder auf die ruhige Platía.

Schlendere zum unteren Dorfende mit dem Friedhof, den ich halb umrunde. Hier dringe ich in eine weitere hübsche Nachbarschaft ein, deren Eigenständigkeit schon aus einem versteckten, und doch ziemlich großen Kafenío ersichtlich wird. So eines hätte es im oberen Dorf vielleicht auch gegeben. Ach ja, man müsste sowieso immer abends kommen, um das Dorfleben voll zu genießen!

Etwas Warterei auf der meist menschenleeren Platía. Dann entschließe ich mich, auf das Werbeschild einzugehen und noch eine Flasche Wein mitzunehmen. Drinnen sieht alles viel provisorischer und improvisierter aus als es der äußere Anschein von Café–Moderne erahnen ließe.
Ich solle mich setzen. Ein Jugendlicher geht meinen Wein holen, füllt den Weißen in eine Plastikflasche ab. Ich bin gespannt, werde aber etwas enttäuscht werden von der Qualität des Rebensaftes.
Die eine Frau, die beiden Männer beruhigen mich hinsichtlich des Busses. Triste Frühnachmittagsstimmung. Ein Weilchen warte ich noch im Freien unter Bäumen. Dann kommt er daher, der junge Fahrer mit seinem großen Reisebus, keineswegs verfrüht. Die drei mitfahrenden Buben vorne bewundern ihr großes Vorbild, den allgewaltigen Buslenker.

Zurück in die Chóra, auf eine neue Entdeckungsreise!

Copyright puchheim = MartinPUC, Juli 2007

Von Naxos nach Kreta