To Vounáki
- Ein Tavernchen im Busbahnhof von Chaniá

Copyright puchheim = MartinPUC, Mai 2006


Von allen Busbahnhöfen Kretas gefällt mir der im Zentrum Chaniás insgesamt mit Abstand am besten. Warum?
Nun, er liegt nicht wie sein Counterpart in Réthimno fast direkt am Meer, man kann also nicht Fische zählen, wenn man über die (nicht vorhandene) Uferstraße geht, hat keinen tollen Hintergrundblick auf die exotisch wirkende Kuppel der Moschee ganz oben im Kástro, die Luft ist merklich schlechter, eher Diesel als salzige Brise.
Es ist aber ein Ort überbordenden Lebens, der noch nicht zu einem modernen Reise-Terminal umgebaut wurde, wie sein Gegenstück in Ágios Nikólaos, weiterhin ein Groß-Gewirr, etwas altmodisch, ein Gemenge aus ankommenden und abfahrenden Bussen, aus stoischen einheimischen Dauergästen, ratlosen, herumrasenden, Bussen nachstürzenden Neuankömmlingen und erleichterten, zufriedenen Abreisenden, aus Lautsprecherdurchsagen in drei Sprachen und Sprachfetzen aller möglichen Nationalitäten, aus Tauben und Fußtritten und auf den staubigen, öligen Asphalt klatschenden Gepäckstücken.

Wie von den Zacken einer Krone wird das Bus-Geviert von Häuserfronten eingerahmt, in einer Ecke sogar von Großhotels. Eine andere Ecke empfängt die Busse, ein weiteres Tor an der Westseite entlässt sie in eine schmale Gasse, fordert sogleich die Manövrierkünste der Fahrer heraus. Nur 50 m entfernt vom Auslasstor, in eine andere Gasse hinein, ein bequemes, empfehlenswertes Hotel, das "Lató", bestens geeignet für Frühabfahrer oder Spätankömmlinge.

Das Herzstück dieses Reiseumschlagplatzes aber ist das hallenartige Kafenío voller ledergepolsterter Wartebänke aus vergangenen Jahrzehnten, mit all den Tischen zum Abstellen der Getränke und Snacks, die man sich aus der Tresenecke selbst abholt.
Über den Zugängen zu den stets überstrapazierten Toiletten (- als ich einem Engländer erkläre, das Männerklo sei gerade zugesperrt, wegen Reinigung, meint er, trotz gefüllter Blase, lakonisch: "Oh, that's good news!") die Fahrplantafel, nun blind, ohne Fahrzeiten, denn die sind jetzt draußen angeschlagen, über den Köpfen der umherirrenden Touristen, die mit ihrer Fragenflut den Einzelkämpfer im eingeglasten Info-Kabäuschen regelmäßig zur Verzweiflung bringen.
An einer Front die Fahrkartenschalter, häufig nur einer besetzt. Zu der etwas ruppigen Frau, die hier seit Jahr(zehnt)en Dienst tut, hat sich nun ein äußerst freundlicher junger Mann hinzugesellt.
Links von den Toiletten die große Kreta-Karte. Weiters Ansichten von Fährschiffen. Eine große Uhr zwischen beiden Ein- und Ausgängen.

Kindergeschrei, tröstende Mütter. Einen Dipló trinkende, zuschauende Rentner, Arbeitslose, Müßiggänger, einer redet mit sich selbst. Dieser Busbahnhof entspricht in etwa dem Hauptbahnhof, wenn nicht gar dem Flughafen von Leipzig oder Köln oder München! Meist still dasitzende, geduldig ausharrende Touris.

Kommt man so zwischen halb eins und etwa halb drei, wird es richtig interessant - eine echte Schau. Dann ist hier nämlich ein repräsentativer Querschnitt der Dorfbevölkerung ganz West-Kretas versammelt, um ihre jeweiligen Dorfbusse zurück in die Berge oder über sie hinweg, oder an ihnen vorbei zu nehmen. Viele schwarz gekleidete Ältere, ärmliche Weibchen, immer noch stolze Greise, das schwarze Netz-Schweißtuch mit den herabhängenden Stoffperlen auf dem Kopf, in "Reithosen" und Lederstiefeln, alles schwarz, und ab und zu auch auf einen vielfach gekrümmten Hirtenstock gestützt. Je abgelegener das Dorf, desto traditioneller die Kleidung.
Sie haben Ärzte, Ämter, Verwandte besucht, haben ihre Einkäufe getätigt.

Wo ist denn nun der Pávlos aus Anópolis, der am frühen Nachmittag das mittlerweile hypermoderne Busgefährt mit den getönten Seitenfenstern über Vrísses in seine geliebte Sfakiá bis hoch in sein Dorf zurücklenken soll? Ich weiß es! Er sitzt zusammen mit einem Bekannten ganz hinten links in einer Ecke einer wahrhaftigen chaniotischen "Institution", einer der allerletzten übrig gebliebenen, vielleicht 20 m nördlich der Wartehalle. Noch jenseits der Gepäckaufbewahrung.

Ein unscheinbares Tavernchen zieht sich da in die Länge gen West, als Abschluss des Hauskomplexes. Durch seine Glasflächen erkennt man eine Menge einheimischer Esser, ganz vertieft in ihr Schlemmer-Ritual.
Die sich zaghaft bis zur Theke gleich gegenüber der Tür vortastenden wenigen Touristen bestellen vielleicht eine Limo, ein Mineralwasser und verziehen sich sogleich auf die Bänke draußen. Wären sie doch drinnen geblieben! Was für Düfte, was für ein Flair, was für einen Charme dieses Kneipchen ausstrahlt!

Wie viele gleichartige Lokale wurden auf dieser Welt in den vergangenen 15, 20 Jahren schon umgebaut, renoviert, ausgelöscht. Nicht nur in Chaniá selbst. Fast ganz Heraklion war betroffen, das die urigsten Tavernen aufzuweisen hatte; dann das herrliche Café, die "Bar" im Hauptbahnhof von Verona, die jetzt durch zwei Etablissements von MacDonald's ersetzt wurde, weil es TrenItalia mehr Geld einbringt. Ich wage nicht zu fragen, was aus der noch schöneren Bahnhofs-Bar von Genova/Genua geworden ist. Die ineinander gehende Reihung hübscher alter Wirtsstuben im Hbf von München zumindest verschwand sang- und klanglos zugunsten einer modernen offenen, alu- und chromverkleideten Snack-Area.

Man nimmt das Namensschild an der Wand über dem Eingang kaum wahr. Ich glaube mich an "Το Βουνάκι" zu erinnern - ohne Garantie. So mag der Gourmettempel vielleicht heißen, weil man zu ihm eine oder zwei Stufen hinaufsteigt. Ein essensmäßiger Aufstieg ist es jedenfalls, im Vergleich zu so vielen Abzockerlokalen. Und für das Gebotene preislich fast ein Witz.
Was ist geboten? Einfach die allerbeste kretische Hausmannskost, die man sich vorstellen kann, die man so aber kaum mehr erhält, frisch und delikat zubereitet von der freundlich dreinguckenden Ehefrau und wohl auch der dunkelhaarigen, recht gut gebauten Tochter des Hauses, die stets Nachschub aus der Küche herbeischafft.
Hinter dem zweistöckigen Schauregal der Vitrine türmen sich die Blechreinen und -töpfe. Doch erst, wenn man das Spektakel des Servierens durch die junge blonde Osteuropäerin länger beobachtet, kommt man hinter das Geheimnis der mindestens noch zwei weiteren Stockwerke darunter, diese leider nicht einsehbar. Und gerade aus diesen werden dann etwa die köstlichen "Chórta", die spinatähnlich aussehenden, aber meist bitteren Wildkräuterverschlingungen in Öl, gezogen, die man sehnlichst endlich einmal wieder aufgetischt bekommen wollte, die Riesen-Zitrone aus Kárpathos vom Nikos in Ádia griffbereit.
Aber hier sieht einfach alles gut und appetitlich aus, man muss nur seine Augen schweifen lassen, auf die Großportionen von Makaroúnia me Sáltsa am Nebentisch, auf das Jouvétsi, auf ein Chthapódhi-kokkinistó, auf die vielen vegetarischen Gerichte, das Briám, die schönen breiten Bohnen, die Kartoffeln, die alle dem überschaubaren länglichen Raum mit seinen insgesamt vielleicht 12 oder 15 Tischen zur Zierde gereichen, bevor in ihnen herumgeschaufelt und -geschlürft wird, das Zerstörungswerk begonnen.

Nun trinkt ein zeitgemäßer Busfahrer natürlich keinen Wein mehr zum Mittagstisch, sondern Wasser oder Limonade. Nicht einmal mehr die Eisenbahner von der Stazione di Santa Lucia von Venedig wagen es in ihrer auch von Studenten und Gästen besuchbaren Mensa noch, zu den kleinen Weinflaschen zu greifen, wie es früher jeder tat - denn erst zusammen mit Rotwein schmeckt die Pasta so richtig gut, nicht wahr?
Nichtsdestotrotz, das Fass, neben dem ich am ersten Tisch bei der Theke über einem Bier eine Zeit lang ausharrte, übte eine unwiderstehliche Anziehungskraft auf mich Nicht-Autofahrer aus, zumal es keineswegs aus dem üblichen, mit der Säure im Vino kommunizierenden Hartplastik bestand. Als andere Bestellungen eingingen, das Abzapfen begann (vielleicht war doch auch ein Busfahrer unter den Bestellern?), wollte ich ungern die Ausnahme bilden. Ich bereue nichts! Der köstlichste rote Krasí-Chíma, den man sich denken kann. Eben da erhältlich, wo das kritische (= kretische!, Kríti = Kreta) Volk isst, und die Busfahrer aus allen möglichen Winkeln des Nomoú Chaníon, und die wollen was G'scheites, keine fettige Pampe und nichts ewig Abgestandenes.

Etwas leid tat es mir nur, nicht mit Pávlo, der plötzlich verschwunden war, in die Sfatschá zu fahren. Aber Soúdscha/Soúgia/Súja lockte. Einmal wieder die endlose Serpentinentour durch einen grünen Dschungel.

Wäre es ein heißer Tag gewesen, hätte sich der Ventilator an der mit länglichen, hellgrünen aufgeklebten Platten bestückten Decke gedreht. Es hatte an jenem Freitag im Mai aber höchstens 18 Grad an der Nordküste. So konnte man ohne Schweiß auf der Stirn in die Runde blicken.
Neben einem Spiegel, dem kleinen Fernseher mir gegenüber mit 0815-Show und Werbung und irgendwo einer Uhr sehe ich an der Wand schräg hinter mir eine interessant aussehende Darstellung der Lebensalter mit passenden griechischen Texten dazu. Durch die Glassscheiben die Schemen der Gepäckaufgeber und -abholer. Küchenwärts ein überlanger Korridor, ganz hinten das Heiligtum der Meisterköchin. Davor rechts eine Nische mit Waschbecken und funktionierendem, gut gefülltem Seifenspender (- alle Achtung!). Links vor dem Küchenkorridor irgendein mit weißen Holzwänden eingefasster niedriger Raum (- Pavlo's Ruheraum???), dahinter der Eingang zu den Toiletten, davor ein weiteres Waschbecken. Rechts vor dem Küchenkorridor eine mit Stoffquadraten von bräunlicher, ockerfarbener und gelblich-oranger Färbung bespannte Wandfläche. Am anderen schmalen Ende des Raumes ein Fenster. Daneben ein die ganze Szenerie überblickender, kitschig gemalter Christus im Strahlenkranz. An der anschließenden Längswand die Theke, an die auch jeder selbst bezahlen geht, zum immer gut gelaunten Chef, etwa Anfang bis Mitte 50.
Nicht wenige einzelne Esser, nicht befangen den Blicken ausweichend (wie häufig bei uns zu Hause, deshalb gehen viele so ungern alleine essen), sondern ganz beiläufig dreinschauend, ganz unkompliziert, bzw. voll auf ihre Mahlzeit konzentriert.

Es hat so wunderbar geschmeckt, ich fühle mich in das Chaniá der Achtzigerjahre zurückversetzt, da gab es noch nicht so viele aufgemotzte Schicki-Restaurants in dieser Stadt. Beim Bezahlen mach ich dem Wirt ein dickes Kompliment, und er strahlt wie ein Weltmeister.
Das war in der Tat weltmeisterlich, alles zusammengenommen.

Copyright puchheim = MartinPUC, Mai 2006

Soúgia Revisited