Kykladentour Oktober 2008
Teil 4: Donoússa gegen Ende Oktober
Copyright puchheim = MartinPUC, Dezember 2008


Stürmische Hinfahrt

„Du wirst eine ruhige Überfahrt haben, ihr habt ja den Wind im Rücken“ – das hatte mein gut meinender Zimmervermieter auf Náxos bei der Verabschiedung geäußert. Zunächst schon, hatte ich mir gedacht, aber später?

Alle an Bord, die paar Autos und Laster sind im Schiffsbauch verstaut, Klappe zu und los.
Schwank–schwank, bis zum Akrotíri Ajíou Prokopíou.

Eine mutige junge Ostasiatin steigt als einzige Fremde im Hafen von Irakliá aus, wird gleich von einer Frau im PKW zu irgendeiner Unterkunft abtransportiert.
Längs des Hafenkais von Schinoússa sind einige Segelboote aufgereiht, darunter eine österreichische Jacht.

Auf der Weiterfahrt nach Koufoníssi spricht mich ein sehr schlanker älterer Mann mit Wollmütze und daraus hervorquellendem langem Haar an. Aaah, nach Donoússa wolle ich, dort lebe doch ein Engländer (???) mit eigenem Haus etwas außerhalb des Hafenortes.
Ob er selbst denn von Páno Koufoníssi stamme, frage ich. Nein, meint er, doch lebe er schon recht lange auf der Insel. Irgendwie kommt er mir nicht wie ein Grieche vor, trotz seines sehr guten Griechisch, doch als ich ihn frage, ob er denn Franzose sei (seine gallische Nase verrät ihn), weicht er aus und zieht sich zurück. Als wir im dortigen Hafen angekommen sind, schleppt er ein paar Pflanzen von Bord.
Seit vorletztem Mai schon sehe ich immer wieder Leute, die mit noch eingekübelten Sträuchern und Bäumen auf Koufoníssi ankommen. Dort scheint gerade eine Blütezeit des Garten– und Landschaftsbaus angebrochen zu sein, kein Wunder, bei den, bildlich gesprochen, Hunderten von Neubauten mit Gärten davor.

Fünf Minuten nach dem Ablegen von Epáno Koufoníssi geht der Zirkus wieder los – aber wie!
Vom Nordwind hochgepeitschte Wellenkämme geben in Windeseile ihre Energie an die unmittelbare Umgebung weiter, und so hat sich der gesamte Meeresteil aus Richtung Ikaría her längst in eine rastlos wogende, halbinfernalisch tosende dunkle, bedrohliche Wassermasse verwandelt, inmitten derer die Nussschale von Skopelítis gar nichts anderes mehr zu tun vermag, als den hohen Wellengang irgendwie mitzumachen und sich ansonsten wüst herumstoßen zu lassen.
Ich merke, dass ich so etwas, noch dazu nachdem wir bereits im Dunklen herumschwanken, heute nicht mehr so gut vertragen werde.
Die Gischt fliegt uns – einem plötzlich an Bord erschienenen jüngeren Touristen und mir – wieder um die Ohren. Irgendwann taste ich mich vor zum leeseitigen Ende des Hauptaußendecks und harre, nahe der Kommandobrücke, auf die Reling gestützt weiter aus, stemme mich mit beiden Beinen fest auf den eisernen Boden und denke nur noch eins: Das da vorne, das sind die Lichter von Dhonoússa, und bis dahin werde ich es auch schaffen, ist doch höchstens noch eine Stunde – ich will mich einfach nicht übergeben, blass und bleich zusammenklappen und dann als schwitzendes Elend ewig in einer der beiden Toiletten herumhängen.
Das ist leicht gesagt, aber sehr hart erkämpft. Der kalte Schweiß (ein untrügliches Zeichen) steht mir bereits auf der Stirn. Hätte die Seeschaukelpartie noch weitere zwei Stunden gedauert, wäre ich dran gewesen. So aber, o Wunder, schaffe ich es tatsächlich und mit dem letzten Aufgebot an Willenskraft, meinen erschöpften Körper unter Kontrolle zu halten. Dem Schicksal sei's gedankt.

Besorgte Blicke der Schiffsbesatzung verfolgen mich, als ich mich, alle in mir verbliebenen Kräfte zusammensammelnd, kreidebleich mit meinem schweren Gepäck durch die Abgaswolke und diverse Engstellen im Schiffsinneren zum Ausgang vorarbeite.
Draußen angekommen, stolpere ich zur Befestigungsmauer unter der Terrasse von Nikítas' Hafenkneipe hin, schmeiße Rucksack und mitgebrachte Lebensmitteltüten auf den Boden – und merke gerade noch rechtzeitig, wie sich ein paar ausgehungerte Inselkatzen erwartungsvoll auf das unverhofft Gebotene (diese irre duftende naxiotische Wurst!) stürzen. Nachdem ich die vertrieben habe, lehne ich mich gegen die Mauer und gebe erst einmal einen erleichternden Ufffffffffffffff–Laut von mir, versuche möglichst bald wieder zu Kräften zu kommen und danke allen guten Göttern dafür, dass ich relativ heil angekommen bin.


Schon wieder auf Donoússa!

Kann es kaum glauben, zum dritten Mal steh ich hier am Hafen von Ágios Stavrós, zum dritten Mal innerhalb von nur anderthalb Jahren!
Zu den Klängen höchst moderner und höchst fantasievoller Orgelwerke von Olivier Messiaen auf Audiocassette, einem Schatzfund, von einer katalanischen Freundin vor Urzeiten per Post geschickt und von mir heute erstmals mit Begeisterung gehört, erinnere ich mich meiner Tage auf dieser so liebenswerten kleinen Ostkyklade.

Als ich wieder ganz zu mir gekommen bin, in dieser Abendstunde auf dem griechischen Inselzwerg, frage ich Umstehende als Erstes nach Chrísto vom Iliovassílema, doch man verweist mich auf seinen Vater Níkos, den ich früher nie gesehen, zumindest nicht als solchen erkannt hatte. Ach ja, der schwarze Pick–up ist in der Nähe geparkt, also muss ein Familienmitglied zugegen sein, denn sie haben nun auch die Fahrkarten für die Skopelítis, nicht nur die für die Blue–Star–Fähre, und nehmen dieses Schiffchen also auch in Empfang.
Dem Niko überlasse ich nur den Rucksack, gehe zu Fuß zu meiner Unterkunft, den so typischen Strandweg durch den Sand, anschließend die betonierte Piste mit ihren unberechenbaren Löchern hoch. Wieder haut mich der Anblick der nächtlich erleuchteten Rückseite von Naxos fast um.
Schon ist Nikos mit dem Wagen da, holt seine Sophía aus dem Haus, sie erkennt mich immerhin wieder. Der Sohn, Chrístos, verbringe gerade einen Urlaub in Athína. Gleich machen sie mir mein Stammzimmer zurecht, richten noch etwas am Kühlschrank, dann kann ich endlich duschen und mich entspannen. Ach tut das gut!

Bevor ich ins To Kíma (To Kyma) vorgehe, besorge ich erst noch etwas Proviant im größeren Minimarket. Die junge Frau an der Kasse ist nicht etwa Pópi, wie sie mir erklärt, sondern die Tochter namens Sophía. Gerade ist neue Ware mit der Skopelítis aus Náxos angekommen, und es dauert noch eine Weile, bis alles eingeordnet ist.
Was mich wundert ist das neue Angebot an Kitekat, großen Dosen Katzenfutters, das ich voriges Jahr noch nicht hier vorfand. Ich schlage gleich zu und decke mich mit einigen Dosen ein, zusätzlich mit Sardinen, Käse und Wurst, schließlich noch Sachen für mich selber.

Auffallend, dass sogar das Aposperítis geschlossen ist. Donnerwetter, da bleibt wohl nur noch Nikítas Hafentavernchen zum Essengehen.
Dort angelangt, erfahre ich mir Unvorstellbares: Evangelía, die Herrin des Hauses, hat ihre Kochsaison beendet – auch im To Kíma wird kein Abendessen mehr angeboten. Evangelía befindet sich in Streik, sage ich, sie winkt ab, habe in der Saison genug gearbeitet. Dafür haben sie jetzt Retsína in Halbliterflaschen mit Kronenkorken, allerdings eine ganz unbekannte, ziemlich abartig schmeckende Sorte.

Ich werde auf das einzige noch geöffnete Restaurant verwiesen, knapp 100 Meter die Stufen hoch: das Καπετάν Γεώργης (Captain George), das ich bisher noch nie ausprobieren konnte.
Man betritt es über eine Terrasse, auf der bei gutem Wetter gespeist wird. Heute Abend ist es bereits zu kühl dafür.
Als ich in den Gastraum eintrete, erwarten mich zahlreiche Blicke, das nicht sehr große Lokal mit in den Speiseraum integrierter Küche ist gut gefüllt mit lauter Einheimischen inklusive der hier tätigen Bauarbeiter. Zigarettenrauch mischt sich mit den Dünsten der Küchenzeile. Ich nehme den letzten freien Tisch. An einem Nebentisch erkenne und grüße ich die Familie vom Aposperítis; die Frau, Váso, sieht den beiden hiesigen Wirtsfrauen sehr ähnlich, sogar ihr lockiges Haar stimmt bei allen überein. Bestimmt dieselbe Familie. Lonis Mann Spíros kommt auch noch dazu. Der Fernseher läuft.
Nur drei Gerichte stehen zur Auswahl, Fisch gibt es gar keinen, der hohe Wellengang hindert die Fischer daran, auf Fang hinauszufahren.
Also Brisóla mit Beilagen und Salat. Es schmeckt wirklich gut. Einer aus der anwesenden Albanergruppe bietet dem Söhnchen der Wirtin ein großes Stück seines Koteletts an, das der Kleine unter den dankbaren, anerkennenden Blicken seiner Mutter schließlich auch annehmen darf. Die Frau hatte sich zunächst geziert. Da hat er sich wieder Punkte verdient, der XY, abgesehen davon, dass er überhaupt ein guter Kerl ist. So leicht haben es die ausländischen Billigkräfte ja auch wieder nicht.

Es seien noch zwei andere Touristen da, ein Paar, sonst niemand mehr, sagt mir Nikítas beim anschließenden Kaffee. Schon ein gewaltiger Unterschied zum diesjährigen Mai, da kamen auch immer wieder Segler vorbei und die Szene änderte sich ständig.

Anderntags sehe ich das Touristenpaar am Ende meiner Hausterrasse, sie wohnen also bei mir. Ältere Leute, sie mit pechschwarzem Haar und etwas lateinamerikanisch–indianischem Aussehen, er ein gut erhaltener schlanker Mittsechziger. Beide aus Frankfurt, die Frau mit rumänischen Wurzeln, beide unglaubliche Katzenliebhaber. Sie kochen für sich auf dem Zimmer und verfüttern die Reste an die Katzenschar.

Die Katzenschar. Wie schön, alte Bekannte von vor 5 bzw. 17 Monaten wiederzuerkennen und noch am Leben zu sehen. Besonders auffallend der schwarze Kater mit weißem Bauch und Pfoten und ganz wild ausgewachsenen Wimpern, der das letzte Mal (diesen Mai) noch gehinkt hatte, sich immer besonders ungeschickt anstellt(e) und nun sichtlich genesen wirkt – kein Wunder bei all der Zuwendung während der Saison.
Es sind immer wenigstens 20 Stück Minitiger, aber es werden stetig mehr, bis über 30 – wegen meiner üppigen Fütterung mit guten Lebensmitteln. Sophía (die vom Lebensmittelgeschäft) kennt mich inzwischen als guten Kunden und ahnt wohl, dass nicht nur das Kitekat für die haarigen Vierbeiner bestimmt ist.
Unvergesslich das Schabgeräusch in Windeseile leer geschleckter Joghurtbecher auf dem Beton unserer Terrasse gleich vor meiner Tür, später das geduldige Nachschlecken, wieder ein zaghaftes leises Schaben auf dem Boden, um auch noch den winzigsten Rest Jaoúrti irgendwo an der Gefäßinnenwand zu erwischen.
Die ganz Mutigen versuchen bald in mein Zimmer einzudringen, um sozusagen an der Quelle über dem Kühlschrank (Sardinen, Käse, Wurst ...) verköstigt zu werden. Das mag ich aber nicht, und so heißt es stets die Tür zu schließen bzw. Eindringlinge zu verscheuchen, unter dem Bett Versteckte aufzustöbern.
Meine Frankfurter Nachbarn sind andauernd am Putzen, aus hygienischen Gründen, wegen der Katzen, die sie doch so sehr lieben.
Oft denke ich an diese Katzen von Dhonoússa. Das Winterhalbjahr ist für sie die härteste Zeit, die viele von ihnen nicht überleben.

Mitgebrachte Tortenköstlichkeiten aus einer Konditorei an der Paralía von Náxos–Stadt teile ich schließlich mit meinen Landsleuten, sie wären mir alleine zu viel. Der Mann weiß es zu schätzen, freut sich sehr.


Nationalfeiertag auf Donoússa

Ich hatte mir mehr erhofft, oder besser gesagt: wenigstens etwas. Das Einzige, was diesen Óchi–Tag (28. Oktober) auf Dhonoússa von anderen Feiertagen unterschied, war eine besonders lange, praktisch nicht besuchte Morgenmesse. Sie hallte den vielen noch Schlafenden über Lautsprecher durchs Fenster um die Ohren, der Sohn von Nikítas und Evangelía, der Ortspriester, gab sich alle Mühe, den Tag würdig zu begehen.
Nun hatte ich eher mit einer Parade gerechnet, wenigstens einer kleinen, eher symbolischen, garniert mit Soldateska und Klerus und allen vorhandenen Schulkindern. Fehlanzeige. Nichts dergleichen. Eigentlich gar nichts. Nicht einmal eine abendliche Musikrunde. Keinerlei Nissiótika, wirklich nichts. Nicht ein Zug Soldateska oder Polizei war herangeschifft worden, und weder Klerus noch Schulkinder hatten Verstärkung von außen bekommen. Dhonoússa, die unbedeutende Insel weitab vom Geschehen. Wann sollte sich dies mehr bewahrheiten als an einem solchen Tag!

Aber etwas fiel mir doch auf, als ich mich ausnahmsweise zum Mittagstisch ins Captain George begab: Die im strahlenden Sonnenlicht draußen schmausende große Runde junger Leute. Auf dem Tisch Gebirge von roten Hummern, Großgarnelen, die den letzten, längst vorreservierten Fischbestand in den Kühltruhen des Wirtshauses verkörperten. Mir lief das Wasser im Mund zusammen.
Die Runde bestand aus der örtlichen Lehrerschaft. Der mehrheitliche Teil von ihr tat sich am Hummer gütlich, nur die wenigen Fischhasser begnügten sich mit Brisóla, ganz solidarisch mit mir. Als Beigetränke überwogen Coke und Limo, o Graus.
Die können sich so ein Essen also leisten, die Junglehrer, dachte ich bei mir.

An dem daraufhin aufgesuchten nächsten Kommunikationsort belehrte man mich über die Lehrer auf dieser Insel.
Diese Lehrer! Sie verdienten fünfzehnhundert Euro, eine astronomische Summe. Ich frag mich bis heute, ob netto oder brutto, wird wohl brutto sein – es handelt sich wohlgemerkt meist um Berufsanfänger, jüngere Leute. Derartige Gehälter seien der Ruin Griechenlands. Sie sind, wie es scheint, hoch über dem Durchschnittseinkommen angesiedelt.
Was für eine Verschwendung das sei: Im örtlichen Gymnasium mit Líkio (also Oberstufe) würden 8 Schüler von 9 Lehrerinnen und Lehrern betreut. Im Kindergarten, dem Nipiagojío, betreue die einzige Kindergärtnerin nicht mehr als höchstens 8 Kinder. Die Volksschullehrerin habe mit nur etwa 4 Kindern zu kämpfen. Keine Gewähr für diese, mir von Einheimischen genannten Zahlen, aber ich denke, es sollte schon in etwa stimmen, kann sein, dass ich aus der Rückschau die Zahlen für die Volksschule und den Kindergarten miteinander verwechsle. Überall Neid auf solche "bestbezahlten" und unstressigen beruflichen Verhältnisse.
Eine besonders auffallend aufgetakelte Lehrerin erntet Naserümpfen und Grimassen, als sie an uns vorbeigegangen ist. Eine Frau deutet mit dem Zeigefinger an die Stirn und beginnt eine Bohrbewegung.


Spaziergang nach Mersíni

Vier Kilometer zu Fuß empfinde ich nicht als weit, noch dazu, wenn es durch eine hübsche Landschaft geht, die ich an anderer Stelle ("Quer durch die Ägäis") schon öfters beschrieben habe.

Neu für mich ist diesmal die übertrieben wirkende Straßenrandbeschilderung mit Hinweisen auf die beiden Einkehrstätten in Mersíni. Steht einmal zuerst das Tzi–Tzi–Schild von Li(tz)as Tavernchen, folgt garantiert wenige Meter dahinter das Konkurrenzschild von der Kóri tou Micháli – und umgekehrt Es scheint sich die Saison über ein erbitterter Kampf zwischen den beiden Konkurrenten abgespielt zu haben.

Leider ist es wieder verschlossen, das hübsche Friedhofskirchlein mit der tollen Aussicht außerhalb von Mersíni. Fast gleichzeitig mit mir Wanderer kommt ein PKW in dem Ort an. Sein einziger Insasse scheint von weiter her auf Besuch gekommen zu sein, wird von dem Alten gegenüber dem Tzi–Tzi herzlich begrüßt.

Das bekomme ich gerade noch mit, befinde ich mich doch bereits auf dem Weg hinunter zur Quelle. Unten angelangt, bemerke ich, dass diese Quelle nun etwas professioneller eingefasst ist als letztes Mal als ich da war, ihr Wasser nicht mehr ganz so abenteuerlich provisorisch zum Becken mit den Goldfischen weitergeleitet wird.
Ich hab ganz genau gezählt: Nur mehr 5 (fünf) Goldfische sind es in dem Becken, nicht mehr 5 bis 6! Einer ist möglicherweise Hungers gestorben, denn vom klaren Quell kann man nicht leben, man ist auf fütternde Besucher angewiesen. Angereichert mit diesem Wissen (fünf Goldfische – definitiv!), steige ich wieder hoch zum Ortsanfang und stehe bald vor Lias Tavernchen. Kein Lebenszeichen, alles dicht. Rufen hilft nichts.
Höchstens 100 m weiter die grimmige Konkurrenz: Alle Stühle und Tische auf– bzw. aneinandergestapelt unter der Überdachung, alles dicht, keine Menschenseele. Mersíni Ende Oktober: ziemlich ausgestorben, das winzige Dorf.

Auf dem Rückweg mach ich den kleinen Umweg runter zur Kéndros–Bucht. O pardon – manche Puristen vertragen diese Schreibung gar nicht, fordern vehement ein "Ked(h)ros", damit die "Zeder", in unserem Fall eigentlich eine Wacholderart, richtig zur Geltung kommt.
Nikítas, der Wirt der Hafenkneipe, erklärt mir später alles ganz genau. Noch in seiner Jugend habe es an der Bucht (und ihren Flanken) einen größeren Wacholderwald gegeben, deshalb der Name "Kéndros". Nanu, jetzt meint er eindeutig Kédhros, spricht aber dennoch Kéndros (was "Zentrum" bedeuten würde). Es ist kein Problem für ihn, denn hier sprechen die Einheimischen offensichtlich das hochgriechische "Kedhros" wie "Kéndros" aus oder gleichen die Aussprachen einfach einander an.
Einige deutsche Sprachinteressierte bekommen darüber jedoch graue Haare. Man geht so weit zu vermuten, dass deutsche Touristen (!) bzw. der Michael–Müller–Verlag (hust!) die Einheimischen zu der falschen Aussprache umerzogen hätten, weil jeder Deutsche an den Ortsnamen Kéntros/Kéndros (= Zentrum, also zentrale Bucht) glaube, der sich auch auf vielen Inselkarten und in den Reiseführern fand und findet, so auch auf der neuesten Karte von 2007 im Maßstab 1:13.500 (von Ágoni Grammí, G. Kapsális, Kallitechnikés Ekdósis), die auch im Souvenirshop der Insel erhältlich ist.
Na ja. Jedem das Seine! Ich glaube in erster Linie den Einheimischen, also hier Geborenen, und ihren Dialekteigenheiten, aus denen sich das geschriebene Missverständnis vielleicht herleitet(e).

Schön sind sie trotzdem, diese Wacholderbüsche an den Flanken. Hinter dem eigentlichen Strand findet man nur noch zwei mittelgroße Baumexemplare mit verdrehten Stämmen. Und natürlich meine beiden Frankfurter – AUF dem feinsandigen Strand und im klaren Wasser dieser herrlichen Bucht.

Zurück in Nikítas Kneipe. Keiner weiß, wo Lia steckt, die Wirtin der einen Taverne in Mersíni. Vielleicht ist sie mit ihrem italienischen Freund weggefahren. Ihren Vater sehe ich auch nie – seltsam.


Kleine Wanderung in meine Lieblingsecke: Hoch über Kalotarítissa

Bleiben wir bei der Bezeichnung "Wanderung", obwohl es sich eher um einen ausgedehnten Spaziergang handelt. Gutes Schuhwerk erforderlich.

Schnell und geschwind hab ich wie gewohnt den Sattel am Ende des verfallenden Feldweges erreicht und blicke staunend über den Inselnorden. Dann die gut 10 bis 15 min Fußpfad den linken Höhenkamm entlang und ein paar Meter hochsteigen. Schon sitze ich auf meinem Lieblingsausguck, Kalotarítissa östlich unter mir.
Ich nehme mir Zeit, lasse das Rundumsichterlebnis auf mich einwirken. Vom ferneren Ikaría ist heute nur der Westteil zu erahnen. Naxos ist ganz gut auszumachen. Nach und nach tauchen Flieger über mir auf. Ich versuche die Herkunft der am Himmel vorbeibrummenden Propellermaschinen zu erraten. Kálimnos, Kos, Astipálea, Kárpathos? Gönne mir ein mitgebrachtes Bier. Es ist noch schön kühl, mein Getränk. Der Wind stört mich nicht.

Irgendwann trete ich den Rückweg nach Stavró an. Kürze wieder die Serpentinen ab, gelange auf das ausgedehnte, spitzsteinige Stück Feldweg, das hier sanft bergab fällt.

Auf einmal steht eine riesige weißlich gelbe Ziege mit abgeschnittenem Gehörn vor mir. Warum flieht sie nicht?
Erst auf den zweiten Blick sehe ich das kleine, graubraune, mit schwarzen Flecken durchsetzte Wesen neben ihr, das sich auf seinen zittrigen Beinchen zu halten versucht. Es ist bestimmt nicht länger auf der Welt als vielleicht eine halbe Stunde. Gerade hier musste es geboren werden., auf dem ungastlichsten Stück Feldweg mit seinen besonders spitzigen Steinen. Schon der erste Kontakt mit dem Leben war ein so harter, steiniger. Die Mutter ist noch von der Geburt gezeichnet. Die Schnüre und Wülste der Nachgeburt hängen aus ihr heraus. Ich bin gerührt und irgendwie betroffen.


Fazit: Je kleiner die griechische Insel, desto ...

... eher kann es geschehen dass

1.) es auffällt, wie eine Goldfischpopulation zusammenschrumpft.
2.) einem ein neugeborenes Zicklein vor die Füße fällt.
3.) man Nachbarschafts– und Tavernenstreitigkeiten hautnah mitbekommt und sich nur mit Mühe in seine Muschel/Höhle verkriechen kann.
4.) Deutsche bestimmen wollen, wie ein Strand heißt und wie er auszusprechen ist!

Heilichsblächle!

Copyright puchheim = MartinPUC, Dezember 2008

Momente auf Paros