Teil 2: Eindrücke aus Frangokástelo
Copyright puchheim = MartinPUC, November 2007


Ein erster Spätnachmittagsspaziergang führt mich Richtung Ost, erst einmal zur Burgruine mit ihren gut erhaltenen äußeren Mauern.
Der recht große Supermarkt unweit meiner Bleibe gehört zu den Apartments Castello, hier werden auch Landkarten verkauft, sogar ein Blatt der Sfakiá aus dem Anávassi–Verlag im Maßstab 1:25.000. Das Besitzerehepaar ist besonders nett. Das Internet–Café im ersten Stock über dem Laden ist aber bereits zugesperrt, nächstes Jahr wieder.

Auf der Meerseite der Straße folgt hinter einer kleineren Appartementhaus nun ein verbranntes Stück Land, hier hat unlängst ein Feuer gewütet, das erst unmittelbar vor den Häusern des "Hafenviertels" zum Stillstand kam. Rechts unterhalb der Straße das kleinere, strandnahe Viertel mit einigen Unterkünften, z. B. dem Flísvos und dem Mílos, mit zugehörigen Tavernen. Auch der sehr bescheidene Fischerhafen ist hier zu finden.
Auf der linken Seite ein kleiner Souvenirladen, dann wieder ein etwas zurückversetzter größerer Supermarkt, davor eine OTE–Telefonkabine, für mich wichtig zu wissen. Doch nur 100 m weiter, an der Zufahrt zum Kastell, steht eine andere, ebenfalls gut funktionierende Telefonkabine.

Noch rechts unterhalb der Straße vor dem Kastell weitere Tavernen und Rent Rooms, darunter mein geliebtes Kalí Kardhiá, hinter einer zugehörigen Pizzeria versteckt.

Gegenüber der Hauptattraktion des Örtchens die unschöne Großtaverne Kriti mit abartig vielen integrierten Zierelementen. Unmittelbar westlich vor ihr führt der E–4 auf einem breiten Feldweg nordwärts auf die Kallikratianó–Schlucht zu.
Direkt an diesem Weg der allerhässlichste Baukomplex der ganzen Ebene: die Anlage "Monachus Monachus", Häuser im Vorortstil einer mittel– oder westeuropäischen Großstadt, zitronengelb plus etwas dunkelgelber getüncht. In ihrem Baustil und ihrem Anstrich passen sie hierher wie die Faust aufs Auge, verschandeln die ganze Gegend. Eine Gefühllosigkeit sondergleichen.

Wenige vor dem Kastell geparkte Mietautos. Die letzten Tagesausflügler kommen vom Sandstrand herauf, unzählige Sonnenschirme und Liegen sind da unten aufgereiht, bis fast zur Spitze des Strandhakens, ab dem sich der Sand wieder landeinwärts schwingt, hin zu dem Wohnturm beim Milos.
Hinter Bäumen versteckt noch eine Strandtaverne für die Besucher des großen Sandstrandes.

Ich gehe das nur mehr fleckenweise geteerte Sträßchen über den Klippen weiter nach Ost, hab also die Hauptstraße verlassen.
Bald trifft man linker Hand auf eine isoliert gelegene Taverne namens Orthí Ámmos (= "gerader Sand[strand]"), von Kennern der Gegend empfohlen; ältere Leute und ein jüngerer Mann hängen hier herum, räumen auf; tags darauf ist ganz geschlossen, Ende der Saison – Pech gehabt.

Links des Sträßchens folgt bald die ummauerte, verlassene Klosteranlage mit dem zweischiffigen, stets zugesperrten Kirchlein des Heiligen Charálambos, einige Gräber umsäumen es. Heute ist es weiß angestrichen, hat seine Schönheit eingebüßt – der frühere verblassende, abblätternde matt ockergelbe Anstrich stand ihm wesentlich besser, passte viel eher zur kargen Umgebung. Weiter landein ein Fußballplatz.

Es wird allmählich Abend. Vorbei an einer ersten Aussichtstaverne auf den östlichen Sandstrand, auf den eine Düne herabzugleiten scheint. Weiter hinten, am Ende dieses Weges, eine weitere Taverne mit wenigen Gästen, gegenüber eine für hiesige Verhältnisse geradezu gewaltige, wenn auch (landschaftsschonend) nur zwei- oder dreistöckige, weiß gestrichene Appartementanlage grob gesagt im Kykladenstil, die sich in einer Art Olivenwäldchen parallel zur Küste und landeinwärts erstreckt und auch von der weiter nördlich vorbeiziehenden Durchgangsstraße aus erreichbar ist. Eine wirklich ausgedehnte Fata Morgana!

Unten also der hintere lange Sandstrand, ein wahres Prachtexemplar, freilich schattenlos, an seinem Ostende die geduldete Nacktbadezone.

Beim Zurückwandern wende ich mich mehrmals um. Gern komme ich auch die folgenden Abende kurz hierher, das Sonnenuntergangsspektakel indirekt zu beobachten, sozusagen von seiner noch beschienenen, bestrahlten Seite her. Denn die Sonne geht zu dieser Oktoberzeit, von Frangokástelo aus gesehen, hinter dem Kap von Loutró im Westen unter.
Ich aber wende mich fasziniert nach Osten, alles wird milchig eingetönt, bis der Glutball so tief hängt, dass nur noch die obersten Bergregionen angestrahlt werden, und zwar in einer überwältigenden gleißenden Rottönung. Der Kédhros (kretisch: Tschähdhross) und im Hintergrund eine Ahnung des Psilorítis in überirdischem Rot, einer himmlischen Erscheinung gleich, darunter alles dunkel, schwarz!
Noch später, als alles im Dunkel versinkt, erkenne ich an ihren Lichtern eine Ortschaft in fernster Ferne, ganz rechts über dem äußersten ins Meer abfallenden Landstrich. Es ist Sachtoúria (Saktoúria), genauer: Áno Sachtoúria, meine Zuflucht nach so mancher schweißtreibenden Wanderung von Ágios Pávlos (der Küstensiedlung westlich von Agía Galíni) aus.
Man sollte die Schönheit eines Landstrichs nie beurteilen, bevor man nicht seine Abende, seine frühen Morgenstunden miterlebt hat.

Einkehr in der Taverne meiner Bleibe, bei Babis & Popi (so genannt nach dem ehemaligen Betreiberpaar, den Eltern der 3 Söhne mit ihren deutschen Ehefrauen). Bis zum Wochenende vom 19./20. Oktober sollte es hier immer brechend voll sein, an den Abenden. Nicht nur alle Hausbewohner – wobei es auch noch ein weiter entferntes Nebenhaus mit Wohnungen gibt – sollten sich hier zum Essen einfinden, sondern auch anderes Publikum von weither im Ort, welches das preisgünstige gute Essen und die Möglichkeit, sich bei allen Bestellungen ungeniert auf Deutsch ausdrücken zu können, zu schätzen wusste.
Es waren zunächst in erster Linie Familien mit Kindern, allein reisende Singles hatte man mit der Lupe zu suchen. Erst ab dem 20. Oktober bemerkte man größere Gruppen aus Einzelpersonen, oder Paare ohne Kinder.
Wo sonst, bitte, in den touristischeren Gegenden Kretas, rund um seine Küsten, kriegt man die große Flasche Mythos oder Amstel in einer Gaststätte noch für € 1,60? (Mir fallen da spontan nur einige Bezirke Dresdens ein, etwa in der Löbtau, wo mancherorts selbst das Paulaner Hefeweißbier für € 1,55 zu haben ist – Stand: September 2007). Die meisten Gäste griffen angesichts dieser Preislage gerne auf das nur unwesentlich teurere Fassbier zurück.

Meine Rettung bei all der Familienpräsenz wurde recht bald eine sehr sympathische allein reisende Nordbayerin, die sich wie ich freute, nicht mehr so ganz alleine essen zu müssen. E. und mir, uns beiden wurde nicht nur einmal ein Öllämpchen hingestellt, zusammen mit einem weiteren Karafátschi (Ratschí) oder einer weiteren Karaffe Wein, wenn man um 11 Uhr abends mangels weiterer Gäste schließen wollte. Eine nette Geste seitens der Hausmannschaft, uns weiterhin draußen auf der wunderschönen Tavernenterrasse sitzen und diskutieren zu lassen.

Aufgefallen war mir seit dem ersten frühen Abend eine unterhalb meines Balkons, auf einem Durchgang vor den preisgünstigeren, balkonlosen EG–Zimmern sitzende schlanke, ältere männliche Person mit großen Kopfhörern und einem tragbaren CD–Spieler in der Hand.
Erst am zweiten Spätnachmittag kam es zu einer Begegnung, und wir wechselten ein paar Worte unter späten Sonnenstrahlen.
L. ist bereits 90 – neunzig (!) Jahre alt, wie er kundtut. Er ist hier beileibe nicht zum ersten Mal. Nein, vielmehr zum xxxsten Mal!
In seinen jüngeren Jahren hat er dreimal mit einem Esel die Insel Kreta in ihrer vollen Länge durchquert, sagt er mir. Zu Zeiten, da es noch kaum Teerstraßen gab, als es noch richtig staubte – wenn man nicht eh einen der zahllosen Saumpfade nahm, von Dorf zu Dorf, denke ich mir. Später hat er auch andere Verkehrsmittel benutzt, auch mal einen Mietwagen, wie einer der 3 Brüder bemerkte.
Wie er das denn gemacht habe, werfe ich ein: mit einem Esel könne man doch nur eine Rundtour machen, bevor man ihn zurückgebe. O nein, meint L., die Esel habe er stets käuflich erworben (bestimmt für wenig Geld, damals, bei unserer so megastarken Nachkriegs–DM), wieder verkauft, bei Bedarf einen neuen erstanden. Es sei auch gar nicht so schwer, mit einem Langohr zurechtzukommen, wenn man nur lieb zu ihm sei, es gut behandle, und das habe er immer praktiziert.
Der hagere, braungebrannte, würdevolle alte Herr hat hier viele Freunde und Bekannte. Bis zu besagtem Abreisewochenende (der anderen, er selber bleibt länger) ist er stets "besetzt" beim Abendessen, umlagert von alten Bekannten. Kein Wunder, bei dem Erlebnishintergrund. Er stammt auch noch aus der Münchner Gegend, ganz nah bei mir .....
Was für eine Seltenheit, einen solchen Menschen miterleben zu dürfen. Man denke nur an viele Gleichaltrige, die schon mit 70 über tausend Wehwehchen zu klagen haben und sich kaum mehr von Zuhause wegtrauen. L. nimmt zur Not seinen Gehstock, um ein wenig an den hübschen Strand 100 m vor der Taverne und den Rooms zu wandern, durchs Schilf, recht viel weiter kann er nicht mehr. Und in der Sonne sitzen, draußen vor seinem Zimmer, das gefällt ihm. Und ganz viel lesen, am Tavernentisch, wenn er mal alleine dasitzt. Und eben gute Musik hören.
Aber er möchte auf alle Fälle hier sein, immer wieder hier sein, auf seinem geliebten Kreta, wenigstens da sein! Und einen durchaus passenden Landstrich hat er sich dafür ja wirklich ausgewählt: Das Meer, die Inseln am Südrand Europas gleich gegenüber, das mächtige Schilf, eine große Ebene mit teils ausgedehnten Olivenkulturen und die großartige, wilde, zerschluchtete Bergkulisse im nahen und ferneren Hintergrund. Und wenn ihm mal etwas Ernstes fehlen sollte, wird ihm die Deutsch sprechende Wirtsfamilie ohne zu zögern rasch behilflich sein.
Man kann sich auch mit 90 noch auf ein bescheidenes Wagnis einlassen, sei's drum!

Jórgos gegenüber, dem zweiten der Brüder (aus meiner Kennenlernen–Sicht her gesehen), meinte ich gleich, sie sprächen doch eh alle Deutsch, nicht nur ihre Frauen und Kinder, da sei es wohl besser, ebenfalls auf Deutsch daherzureden. Da entgegnet er aber ganz selbstbewusst, erst einmal seien sie Griechen! So kam es, dass ich es fortan immer nur auf Griechisch versuchte, mit jedem der anwesenden Griechen.
Sehr wohltuend die eher zurückhaltende, sehr höfliche Art des dritten der Brüder, von Micháli. Seine nette, ruhige Frau, deren Namen ich nicht erfragt habe, war die am häufigsten anwesende von den eingeheirateten deutschen Ehefrauen. Eine von ihnen sah ich nie, die "zweite" nur ein einziges Mal im Laden – ebenfalls sehr sympathisch.

Die Weinauswahl ist reichlich, doch wer bestellt schon aus dem Flaschenwald? Die meisten, so auch ich, beschränken sich auf den günstigen offenen Hauswein. Der hat mir hier nicht so toll gemundet, der weiße, muss ich gestehen. Ich mag lieber die starken, likörigen, die echt schweren kretischen Bauernweine, nicht auf deutsche Geschmäcker hingetrimmte entschärfte Haustropfen.
So musste ich mir weinmäßig anderswo behelfen, mit Bauernwein von der Hochebene von Kallikrátis aus einem beachtlichen Fass im Supermarkt des Castello, oder gleich in der mir altbekannten Taverne Kalí Kardhiá, wo ein anderer echter Sfakiote namens Thanássis das Regiment führt und eine ebenfalls nette Freiterrasse mit Blick auf ein paar Weinreben, Schilf und Meer zur Verfügung steht – falls es nicht gerade regnet oder gar stürmt.

Sturm und Regen aber sollten diesmal mitprägende Elemente meines Aufenthalts in Frangokástelo werden – eine wirkliche Ausnahme in all den langen Jahren meiner herbstlichen Kretareisen, und noch dazu an der Südküste. Es gab natürlich auch relativ "lange" Unterbrechungen des Schlechtwetters, aber nach einem halben Wandertag holte einen die Nässe dann meist doch wieder stoßweise ein.
Zwei volle Nächte lang schüttete und stürmte es durch, von West her, und mindestens zwei halbe Tage. Einmal sah ich sogar kleine Hagelkörner – aber keineswegs taubeneigroße. Einen Tag verbrachte ich fast ganz auf meinem Balkon bzw. immer wieder von diesem ins Zimmer hinein vor neuen Regengüssen flüchtend. Die Liegen am großen Sandstrand unterhalb des Kastells voll im Wasser, einige trieben bestimmt irgendwohin, das Wasser bis vor die Türschwellen der mietbaren Räume in dem kleinen Steinhäuschen neben dem Wohnturm beim Milos reichend, wie ein Regenspaziergang zeigte.

Und dennoch: gerade diese Stunden haben mir so viel demonstriert vom Himmel, von den die Berge streifenden, sich stauenden, abregnenden Wolkenschwaden, vom wechselnden Farbenspiel der Wellen, von tosender Brandung (in die sich zwischendrin ein Sohn des Hauses mit einem viel zu kurzen, provisorischen Surfbrett zu stürzen versuchte ...), von den wie wild umherschwingenden, pinselartigen Samenständen des Schilfgürtels, einem echten perpetuum mobile, dass es eher eine schiere Freude war als ein achselzuckendes Bedauern.
Als Luftwesen liebe ich den Sturm – wenn ich mich nicht gerade an Bord eines Schiffes befinde.

Mal kein Sturm. Ich wandere die Straße nach West vor, vorbei an einigen weiteren Unterkünften, Läden und Tavernen, und nicht zuletzt der Ortskirche, diese eher in Kapellengröße, und biege in die Zufahrtsstraße zu den Studios Stavris ein. Vom zugehörigen Strandabschnitt aus sehe ich ein einziges Urlauberpaar im Garten liegen. Wie fast überall hier eine ziemliche Touristenflaute.
In der Taverne Stávros gegenüber, etwas weiter östlich, sitzen wenigstens 5 Leute, Badesachen und Kinderspielzeug liegen oben auf dem Strand.
Dann wandere ich über alle westlichen Strände bis hin zum (echten) Badestrand bei Babis & Popi.
Mein Eindruck ist, dass es sich westlich von Babis & Popi wegen der überall massenhaft aus dem Wasser ragenden spitzigen Felskanten nirgends so richtig baden oder schwimmen lässt (– ich täusche mich vielleicht). Mir wäre das jedenfalls viel zu gefährlich. Deshalb also baden die meisten lieber am extrem flach ins Wasser übergehenden breiten Sandstrand beim Kastell.
Eine hübsche Wanderung ist es aber durchaus, schöne grüne Büsche begrenzen die Strände zu den Gärten hin. Auf einem kleinen Felskap stehen ein Sohn der Wirtsfamilie meiner Unterkunft und einige Urlauberkinder; der Bub fischt mit der Angel. Gut, dass hier auch viele Griechenkinder so gut Deutsch sprechen, zur Freude der Urlauberkinder.

Was mir hier fehlt, ist neben mehr griechenland– und kretaerfahrenen Einzelreisenden eigentlich nur die Musik, die kretische, die man in meiner Taverne leider gar nicht (von CDs wäre ja völlig in Ordnung!), und anderswo recht selten zu hören bekommt. Na ja, eben fast Saisonende. Dabei treten eher im Jahr nicht selten Gruppen im Innenhof des Kastells auf, wo eine Bühne errichtet wurde, die auch im Oktober noch steht. Oben in Kallikrátis soll ja ein bekannter Lyraspieler zu Hause sein, immerhin.

Copyright puchheim = MartinPUC, November 2007

Skalotí und weiter, und ein Schwenk nach Lákki