Teil 1: Ein Abend und ein halber Tag in Iráklio
Copyright puchheim = MartinPUC, November 2009


Erst um 14:50 Uhr hebt die 757–300 der Condor von der südlichen Startbahn des Münchner Flughafens ab. Einen 80–Euro–Flug hab ich lange nicht mehr gehabt, es ist einer meiner wenigen bisherigen Billigflüge. Die bereits ältere, mir von etlichen Flügen her vertraute Maschine hat nur einen Nachteil: ein Kabinengeräusch, einen Lärmpegel, der auf Dauer auf die Nerven geht. Dabei sitze ich weit vorne in einer der ersten Reihen, ich sehe das linke Triebwerk gar nicht mehr, nur einen Teil der Tragfläche.

Es wird ein "Seenflug", heute. Erst der Chiemsee, dann der Wörthersee mit Klagenfurt gleich an seinem Ostende, man sieht ihn trotz aller umgebenden Wolken. Später, bereits tief unten auf der Balkanhalbinsel, die in zwei Teilen hintereinandergestaffelte Bucht von Tivat und von Kotor und wenige Minuten darauf ein neues Fenster in der Wolkendecke: der dicke Skutari–See mit seinem eiszapfenförmigen Ausleger nach Nordost. 20 min später Fetzen des Ohridsees und der Prespa–Seen. Zum Schluss, man staune, genau der richtige Ausschnitt im Wolkengewirr, um einen vollständigen, aus dieser Höhe makellosen Límni Kastoriás mit der zugehörigen Stadt auf der Halbinsel und sogar noch einen Teil des südlich gelegenen Flugplatzes zu sehen.
Die meisten Inseln liegen unter einer Wolkendecke, doch Síros zeigt sich in seiner Gesamtheit, die Südkykladen mit Sandoríni erscheinen dagegen arg verschleiert.

Als wir gegen 18:30 Uhr aus Ost her gegen Iráklio einschweben, machen uns die letzten Böen des abebbenden Südwindes der Vortage zu schaffen – eine ziemliche Wackelei, je tiefer wir fliegen. Meine oberpfälzer Sitznachbarn freuen sich auf 2 Wochen in Plakiás. Nur schade, dass sie auf der Hinfahrt im Bus vor lauter Dunkel nicht viel von der kretischen Landschaft mitbekommen werden. Zwei Wochen später treffen wir uns beim Einsteigen in den Flieger wieder. Es hat ihnen super gefallen – sie sind Hunderte von Kilometern im Mietwagen herumkutschiert.

Kaum hab ich meinen Rucksack gegen eine Begrenzungsschiene neben dem Ticketverkaufshäuschen bei der Stadtbushaltestelle gelehnt, spricht mich ein mir irgendwie bekannt vorkommender Herr an. Es ist der Josef aus Landshut, der mit demselben Flugzeug wie ich angekommen ist und den ich von Chóra Sfakíon her kenne. Er ist zusammen mit einigen anderen einer Runde, die sich dort immer im Stávris trifft sozusagen ein alter Bekannter von mir. Gemeinsam steigen wir in den Bus.

Ich gebe mein Vorhaben auf, mir ein Zimmer im Mirabéllo zu nehmen, weiß sowieso nicht, ob noch eines frei ist. Stattdessen entschließe ich mich, dem Josef in seine zwar, wie er sagt, saubere, aber auch sehr einfache und damit preisgünstige Stammunterkunft in Heraklion zu folgen, an deren Namen er sich nicht erinnert.
Wir verlassen den Bus an der Haltestelle unweit der Platía Venizélou (dem Platz mit dem Morosíni–Brunnen) und biegen in die erste Seitengasse ein. Trotz der vielen Möglichkeiten, uns in den Gassen zu verlaufen, finden wir bald die nordwestlich zum Meer hin abfallende Chándakos–Straße, auf ihrer ganzen Länge eine Fußgängerzone.

Beinahe wären wir, ins Gespräch vertieft, souverän vorbeigelaufen, gerade noch erkenne ich das Schild Hellas Rooms und erinnere mich, hab ich doch schon einmal hier logiert, zu Zeiten, da das Etablissement noch ein sehr ärmliches und äußerst dürftiges Erscheinungsbild abgab und man es gerade mal eine Nacht drinnen aushielt – gut zum Geldsparen, aber sonst war nichts zu erwarten.
Heute bietet sich ein viel positiveres Bild. Gut zum Geldsparen nach wie vor, inzwischen aber dicke von Let's Go Europe bzw. Let's Go Greece als gute Budget–Hotel–Adresse empfohlen und entsprechend besser von nicht nur jüngeren Individualtouristen besucht.

Der Empfang befindet sich kurioserweise, aber sicher gut für den Empfangenden, ganz oben im überdachten Café im vierten Stock, der Rucksack streift mehrmals die zu niedrige Decke von Absätzen der steilen Treppe, bevor ich ihn schließlich abnehme und einfach irgendwo abstelle.
Dann treten wir schwitzend ein in das gemütliche und durchaus an frühere Reisezeiten in GR erinnernde Dachcafé, und mir fällt sogleich der Wahnsinnsaussichtsbalkon neben der bescheidenen Theke auf.
Ich nehme für 28 Euro ein um ein paar Euro teureres Zimmer als mein Begleiter, dafür geht es nach hinten raus, ist groß und hat sogar noch eine überdachte Terrasse, von der aus ich Einblick habe in heimische Wohnszenen. Eigentlich ein Vierbettzimmer, ohne jeglichen Schnickschnack und tadellos sauber. Ein Waschbecken ist in einer Ecke angebracht, aber Klo bzw. Dusche befinden sich draußen auf dem Gang auf wahlweise irgendeinem Stockwerk – man suche sich das/die jeweils schönste aus.

Ja: Genau so war es, als ich damals mit Kreta angefangen habe! Gerne denke ich an diese inzwischen so ferne, so überholte Zeit zurück. War sie nicht auch schön? Vielleicht spannender, prickelnder als das Heute und mit viel mehr Pionier– und Entdeckergeist behaftet und noch dazu unendlich viel Bescheidenheit? Damals, noch in den Achtzigerjahren, als Kreta im Mittelpunkt des Interesses stand, nicht nur von Aussteigern, sondern auch mehr und mehr von Normalreisenden. Als die Straßen vielerorts noch staubig waren, die Fernreisen in den Kinderschuhen steckten und man sich mit Näherem begnügte und es doch als so fern und exotisch empfand und glücklich damit war und zufrieden.

Bei so viel Platz macht mir der fehlende Komfort überhaupt nichts aus. Und hätte ich länger Zeit, würde ich gerade hier die nettesten Leute kennenlernen. Denn der etwas windschiefe Gemeinschaftsbalkon des Dachcafés bietet sich geradezu an als Treff. Zuerst aber muss man sich Zeit nehmen für das Hinausschauen über die Stadt, hin zur großen Kathedrale des Hl. Minás, darüber hinaus mühelos auf den Joúchtas (den Kopf des ruhenden Zeus), weiter westlich auf das Psilorítis–Massiv und weiter rechts den spitzen Konus des Kórfos–Berges, der sich markant im Westen aus seiner Umgebung heraushebt. Als Dreingabe noch ein Meerblick auf den westlichen Teil der Bucht von Iráklio. Das nenne ich großartig.
Weil wir einen Treff erst in einer Stunde vereinbart haben, nutze ich die Zeit nach der Dusche für diese erste Fühlungnahme mit dem Aussichtsbalkon, auf ein Bierchen. Es ist richtig entspannend, dazusitzen, sich ab und zu über die Brüstung zu lehnen und das jugendliche Treiben unten in der Gassenschlucht zu beobachten. Der untere Teil der Chándakos–Straße ist ein Reservat für junge nächtliche Strawanzer und beiderseitig gespickt mit entsprechenden Lokalen. Der letzte Schrei ist ein Café mit Gebäckständern auf jedem Tisch im Freien – auf den in den Gestellen sich nach oben hin verjüngenden Scheiben ist jede Menge süßes Knabbergebäck ausgebreitet, wie es aussieht zum kostenlosen Zugriff für alle Kaffee– und Frappé–Trinkerinnen und –Trinker. Das Angebot trifft offensichtlich voll den Bedarf, alle Tische sind besetzt.

Doch uns steht der Sinn nicht nach Gebäck und Kaffee. Wir wollen erst einmal essen gehen.
Unten am Meer zwischen Venezianischem Hafen und Fährhafen befindet sich am Südende des Gebäudes der Hafenbehörde ein Lokal namens Vardhiá, im Besitz der Stadt, das mich diesen Mai sehr beeindruckt hat – dahin wollen wir. Aber wie schade: alles ist zugesperrt, für dieses Jahr geschlossen, hoffen wir, dass die kommendes Jahr wieder öffnen! Gutes Essen, moderate Preise und eine tolle Lage am Hafen ziehen viel Publikum an, wovon ich mich im Frühsommer überzeugen konnte. Der leicht bis halbschwer angesäuselte Zollbeamte im benachbarten Office meint, wir sollten es doch mit der nächstgelegenen Taverne gleich am Kai 200 m weiter versuchen, ein streng genommen nur Hafenarbeitern und dergleichen zugängliches Restaurant. Ja, das kenn ich, es ist unten in das steil hochragende Gebäude eingebaut, an dessen Westfassade lange Jahre über das riesige Íkaros–Bild prangte.
Dort schmeckt der gegrillte Oktopus leider recht nichtssagend, und auch alles andere ist von vergleichsweise bescheidener Qualität. Wir sind ziemlich enttäuscht. Ich werde erst nach einem Wirtswechsel wiederkommen und wenn ich viel mehr Einheimische dort essen sehe. Vergessen wir's. Auf in die Innenstadt!

Wie üblich keine Chance auf einen Platz im winzigen Sarandavgá (= Saránda Avgá = 40 Eier!) mit den PASOK–grünen Fensterläden und den Tischchen davor mitten in der Odhó 1866, der nur tagsüber geschäftigen Marktgasse.
Ganz scharf sind die Viertelbewohner auf einen Tisch gerade hier. Drinnen (nur 2 Tische) wie draußen (vielleicht maximal 6 Tische) ist es knallvoll. Mitreißende Musik dringt aus dem Innenraum. Neidisch gucken wir auf die ganze herrliche Mezédhes–Pracht, die Tische biegen sich sprichwörtlich unter der Last Dutzender Tellerchen voller leckerer Kleinigkeiten, garniert mit den Ratschí–Karaffen oder einem selteneren Bier. Am Ende meiner Reise sollte ich mehr Glück haben, rechtzeitig da sein und Teil der Bevorzugten.
So müssen wir uns mit einem anderen Mezedhopolío begnügen, in einer der Gassen gleich westlich dieser Marktzeile, wo, wie heutzutage immer üblicher, eine gewissen Anzahl von Mezé auf jeweils separaten Tellerchen zu einem Spezialpreis angeboten werden. Leider haben wir schon anderswo (schlecht) gegessen und können uns nur mehr ein Amstel schmecken lassen.

Josef sitzt bereits in einem Frühbus nach Chaniá, um baldmöglichst nach Paleóchora weiterzukommen, als ich auf dem Aussichtsbalkon des Hellas mein Frühstück zu mir nehme.
Ein Schweizer Paar taucht auf, lässt sich in respektvoller Entfernung nieder. Es sind nicht die einzigen Eidgenossen hier. Als ich bezahlt, meinen Rucksack für den Vormittag untergestellt habe und die Treppen runtersteige, kann ich noch eine kinderreiche helvetische Mutter von ihrem Hauptgepäckstück entlasten.

Im oberen Teil der Chándakos–Straße unweit meiner Bleibe liegt rechter Hand ein kleiner Ikonen–Laden, in dem eine ältere Dame für alle Passanten sichtbar ganz konzentriert den Pinsel führt – wie schön, einer Ikonenmalerin auf die Finger gucken zu können.
Das Road–Editions–Geschäft in derselben Straße existiert übrigens auch noch.

Zufällig oder nicht finde ich mich auf dem Platz mit den beiden Minás–Kirchen wieder, der großen wie der kleinen. Vormittags ist auch das Juwelchen, die KLEINE Kirche, aufgesperrt. Beim letzten Urlaub war ich zu spät gekommen, oder während der langen Mittagsschließungszeit. Nun aber trete ich wieder ein ins kretische Nationalheiligtum mit den beiden Minás–Bildern vor der Ikonostase. Spreche ein wenig mit dem mantelteilenden Protagonisten. Ich bin sicher, er akzeptiert auch die Bitten leicht Andersgläubiger und zufällig hereinschneiender Kleingläubiger.

Wende mich wieder hafenwärts. Gleich um die linke untere Ecke der 25.–August–Straße herum, neben einer Autovermietung mit Ticketagentur, lasse ich mich in dem inzwischen ziemlich aufgemotzten Kneipchen nieder, das noch vor wenigen Jahren als Fischerspelunke galt (und mir schon damals gut gefiel). Nur ein paar Schritte wären es zum Fischerhafen jenseits des Verkehrskreisels. Der Platz nennt sich Platía Dhekaochtó Ánglon (Platz der 18 Engländer).
Zeit für einen Frappé. Wenige Schritte weiter, jenseits des Marinéli–Gässchens, ein bei Einheimisches beliebtes Speiselokal. Ich beobachte Passanten, Fischersleute und den Verkehr. Alle Terrassenlokale nach West hin über dem Meeresufer sind beseitigt, dem Straßenausbau gewichen – hoffentlich nur vorübergehend. Eine Fahrspur der Uferstraße westlich des Kreisverkehrs ist aufgerissen, der Gegenverkehr fließt durch die landeinwärtige Parallelgasse. Zum Glück reichen die Straßenarbeiten nicht mehr in meinen Blickwinkel.

Zwischen zwölf und eins habe ich den Treff mit einer Bekannten und ihrer Freundin vereinbart – zum Mittagessen im (bereits geschlossenen, aber wer konnte das wissen) Vardhiá am Hafen. Als ich dort mit vollem Gepäck aufkreuze und lange warte, tut sich nichts. So gehe ich vorsichtshalber vor zum Busbahnhof und gebe dort mein Gepäck auf, um diese Last loszuhaben.
Kurz vor zwei wird die Prévelis von ANEK Richtung Kárpathos in See stechen, bis dahin werden die beiden ja wohl da sein.
Die Frauen hatten die Distanz vom Busbahnhof am Chaniá–Tor bis zum Fährhafen arg unterschätzt, mussten schließlich ein Taxi nehmen. Immerhin kamen sie noch rechtzeitig zum gemeinsamen Ticketkauf bei Paleológos Travel in der 25.–August–Straße.
Noch einen Drink, und dann im Laufschritt ab zu meiner Gepäckaufbewahrung und zur bereits angekommenen Fähre.

Gott sei Dank liegt das Schiff nicht ganz weit hinten im Kreuzfahrerbereich, sondern gleich an der langen (und größten, dicksten) Mole neben der Kríti II, allerdings am Kopfende dieser Mole, was weitere 350 m Sprint bedeutet. Doch der Weg ist weit genug, um arg ins Schwitzen zu kommen.
An der Einlasskontrolle finde ich ewig mein Ticket nicht, das ich in der Aufregung irgendwohin gesteckt hatte.
Dann endlich ist der Stress vorbei, komme ich zur Ruhe und treffe die anderen auf dem obersten zugänglichen Deck wieder. Die haben bereits ihre Kameras gezückt und halten alles Mögliche in der näheren und ferneren Umgebung fest.

Ruhig und gemächlich und doch mit beachtlicher Schubkraft gleitet das hübsche, altgediente Schiff aus dem Hafen in die Küstengewässer hinaus, um sich bald auf etwa 18,5 Knoten Fahrt einzupendeln. Es wird ein paar Stündchen dauern bis Sitía, dem nächsten Stopp. Seit Längerem wird Ágios Nikólaos von den Fähren nicht mehr angelaufen.
Wir ziehen vorbei am mittleren und östlichen Kreta. Das Dhíkti–Gebirge ist umwölkt, das Wetter ansonsten sehr angenehm.
Zu diesig, um die Stadt am Ende des Mirabéllou–Golfs klar zu sehen, man erahnt nur eine Ansammlung zahlloser weißer Flecken. Die auf unserem Deck in Nähe der Bar anwesenden Jungs eines Sportclubs in Iráklio werden mit jeder gefahrenen Seemeile lustiger und geräuschvoller. Ob das wohl die angebrochene Whiskyflasche macht? Móchlos querab. Dann nur spärlich besiedelte Küstenstriche. Wieder verwechsle ich das Akrotíri Faneroménis mit dem vorspringenden Kap Vamvakiá von Sitía, das mit seinem gleichmäßig herunterfallenden Bankett auf die Start– und Landebahn des vergrößerten Airports schließen lässt.

Wir biegen um die Ecke, und hier ist wieder eine weiße, im Nachmittagslicht glitzernde Stadt, deren Außenmole wir uns vorsichtig nähern. Lange dauert er, der Anlegevorgang, eine kleine Ewigkeit, bis wir aus unserer Schräglage in die richtige gerade Position umgeschwenkt haben. Die neueren Blue–Star–Fähren (z. B. Náxos und Páros) sind halt unschlagbar, was die schnellen Anlegemanöver betrifft! Dauert bei denen nur drei Minuten. Aber dafür ist die Prévelis ein ausnehmend schönes, stattliches und besonders hübsch bemaltes Schiff. Ich liebe diese weiße Grundfarbe mit den blau–gelben Streifen und Girlanden an den Flanken.

Die Sportlerclique hatte gerade ihren großen Auftritt, als sie mit vereinten Kräften ein mitgebrachtes großflächiges Transparent am Heckgeländer des Decks befestigte, auf dass alle es sehen möchten: Hier sind WIR!

In einer guten halben Stunde werden wir wieder in See stechen. Kein anderer Tourist sollte zusteigen, nur Griechen. Wir freuen uns auf gut 7 Tage und 8 Nächtigungen auf Kárpathos!

Unter "Dodekanes – Kárpathos Herbst 2009" sind die Tage auf der Dodekanesinsel in Kürze nachzulesen. Ich überspringe sie hier aber erst einmal und mache weiter mit Kreta, nach der Rückkehr von der kleineren, windumtosten Nachbarinsel.

Copyright puchheim = MartinPUC, November 2009

Chaniá eines Oktobersonntagabends