In der weißen Stadt
Póthia auf Kálimnos im Mai 2005

Copyright puchheim = MartinPUC, 2005, 2006


Den so liebenswerten und –würdigen wie armen und frommen Kalymniern gewidmet.


Unter lauter Griechen wohnen, es ist für mich ziemlich ungewohnt, mich, den langjährigen, eingefleischten Griechenlandfahrer.

Geschäftsleute und nur ein einziger junger Tourist, ein Grieche, der von Sími (Symi) gekommen ist, um sich eine Woche lang der lebhaften Kleinstadt– und Hafenatmosphäre auszusetzen, die so ungeheuer viel lebendiger, natürlicher und ganz aus sich selber gewachsen erscheint als etwa die Stimmung in Jalós, der malerischen Hafensiedlung von Sími, einer Vorzeigeadresse des relativ sanften Griechenlandtourismus. Ich halte ihn zuerst, beim Begrüßungsgetränk der Hauswirtin am gemeinsamen Tisch vor den Zimmern, für den Sohn des Hauses. So kann man sich täuschen!
Das "Greek House" in Póthia, genauer gesagt seine stadtwärtige Zentrale, in der auch die Besitzer wohnen, nicht die Dépendance am Hafen, ist für ein paar Tage mein Wohnsitz, seine Dachterrasse mein Ausguck, mein Seelenöffner, meine Horizonterweiterung im wörtlichen wie im sprichwörtlichen Sinn.

Dabei habe ich anderthalb Tage gebraucht, um mich auf die vom ersten Obergeschoss aus nur per engem eisernen Spiraltreppchen erreichbare Aussichtsterrasse (mit dem schönsten Zimmer, hinten) raufzuwagen, ich Erdgeschossbewohner – in einem stillen Viertel der Stadt.

All das angesammelte Dach– und Terrassenmobiliar auf den Häusern ringsum, die wackligen alten Stühle, windschiefen Schränke. In der Seeluft verrottende Waschmaschinen, sie bewältigen die große Familienwäsche. Offene Durchgänge. Einblicke in die schlichten Küchen, alle billig möbliert. Eine Fahnengalerie von trocknenden, in der Brise vor sich hin flatternden Höschen. Die gelassen lächelnde Oma da unten vor ihrem Zimmer. Eine mollige, schwarz gewandete junge Frau, die geduldig in immer neuen Anläufen mittels trial and error in der Gasse einen Grill zusammenbaut, barfüßig kauert sie auf der Stufe zu ihrer Wohnung, trampelt wie selbstverständlich in die Wasserlachen, die sich dort angesammelt haben, das dritte Grillbein macht Schwierigkeiten.

Das beständige, fast beruhigende dumpfe Hämmern eines Maurers, der eine Wohnung gegenüber renoviert. Um halb acht ist Schluss, er tritt durch die offene Holztür heraus, steigt die Treppe hinunter und setzt sich auf seine betagte Vespa. Den Hammer legt er auf die Trittfläche, hält ihn beim Losfahren mit einem Fuß fest.

Die so fantasievoll geschwungenen engen Treppenspiralen an den Außenwänden, die einzelnen Stufen wo nötig hinten abgerundet, Kreissegmente aus Eisen, anmutig geformt und verschweißt.

Póthia im Abendlicht. Abgearbeitete Mütter mit zappeligen Kleinkindern ruhen sich auf Balkonen aus. Das Viertel still bis auf das abendliche Mopedgeröhre der vereinigten Inseljugend, das stoßweise sehr unangenehm werden kann. Dann ist man dankbar für jede majestätisch und satt–ruhig auf der Einfallstraße oder der Ufermagistrale vorbeischnurrende große Motoguzzi oder Kawasaki oder irgendein vergleichbares italienisches oder osteuropäisches/ostasiatisches Billigprodukt. Kein Vergleich! Unendlich viel ohrenschonender.
Ich warne alle eindringlich davor, sich ein Zimmer am Hafen zu nehmen. Alle, die irgendeinmal ans Schlafen denken.
Denn nachts beginnt er erst so richtig, der Auto– und Mopedkorso die Uferstraße entlang ums Hafenbecken herum auf die große Mole, wo wieder gewendet wird, die Parade in der Gegenrichtung fortgesetzt. Man will ständig jede noch so kleine Veränderung, jeden Neuankömmling mitbekommen, jede anlandende Fähre, bloß nichts verpassen.

Schon wie er daliegt, dieser kilometerweit in sanftem Winkel in weiter Talung zum Hafen und Meer herunterfallende Stadtwurm: eine echte Augenweide, ich hüpfe in meinem Innersten von meiner abendlichen Aussichtswarte 500 Kilometer himmelwärts, hinein ins goldene Licht.
Ein weißliches Häusermeer, nicht so grell und makellos persilartig strahlend wie manche andalusische, südportugiesische oder maghrebinische Kleinstadt, aber dennoch hell leuchtend, durchsetzt mit hochstämmigen Palmen, schlanken Zypressen, blühenden Citrus– und Zierbäumen. Eingerahmt von der fantastischen, glitzernden Felskulisse karger hoher Berge mit ihren markanten Flanken, Höhlen und Schluchten. Kapellen als weiße Punkte im Fels.

Uralte steinerne Pfade ziehen sich unmittelbar aus der Stadt und ihrer Fortsetzung, der Chóra (so sagen sie hier, statt offiziell Chorió), in die Berge hoch. Sie führen hinauf zu Höhlen, über die östliche und nordöstliche Bergkette hinüber ins fruchtbare Tal von Vathí, auf den Profítis Ilías mit seiner weißen Kirchenanlage, knicken auf den Höhen teils ab in andere Richtungen, verlieren sich manchmal im Geröll, weil nicht mehr begangen. Lauter zu entschlüsselnde Geheimnisse, diese abwegigen Nebenpfade.

Im oberen Talhintergrund auf der linken, südwestlichen Seite erblicke ich das kleinere Kástro auf einem Felsen mit seinem weißen Kirchlein, dessen durchbrochenes Türmchen über die Mauern der Festungsruine ragt, die den Hauptort und seine nördlichen Ausläufer gegen die Chóra hin abschließt. Rechts von der ferneren Chóra ist das große, das ANDERE Kástro mit seiner verstreuten, außen gut restaurierten Kapellen– und Häuserschar, getarnt auf einem einzeln stehenden, jäh hochragenden Vorberg mit erstaunlich gut erhaltener, ziehharmonikafaltenartig die Bergränder umgebender Ummauerung, aus dieser Distanz nicht mehr deutlich auszumachen.

Bei dem zitronengelb gestrichenen Haus am östlichen Berghang mit der dunkelgrünen Baumreihe dahinter beginnt ein großartiger Weg, sein Zickzackverlauf ist gut von der Greek–House–Dachterrasse aus zu verfolgen. Es ist der Pfad nach Vathí, der mir so sehr gefallen sollte.

Ein riesiges Hafenbecken. Unzählige Fischerboote, in der Regel recht kleine. Daneben Ausflugs–Kaikis im Maxiformat, auch ein bauchiges türkisches mit dem typischen mittelbraunen hochglanzlackierten Schiffskorpus, Typ kleines Piratenschiff, das abends eintrifft und eine kleinere Segeljacht aus Rostock in arge Platznöte am Kai bringt. Wie gewagt und verquer da die Taue an den Pollern befestigt werden. Ich fage mich, wie die jemals wieder zu entflechten sind. Das Boot, das täglich nach Psérimos ausläuft, die "Psérimos Express", die einfache Fahrt kostet nur € 3.
Eine wirklich lange Mole für die seltener gewordenen Großfähren und den kleinen, aber pfeilschnellen "Dodekánisos Express" und seine Demnächst–Gefährtin, die "Dodekánisos Pride", die ihren frühmorgendlichen Inselparcours von Pátmos aus beginnen wird.
Die "Níssos Kálymnos", das fleißige Lieschen des nördlichen Dodekanes, liegt bereits vertäut da, wirkt klein und unscheinbar, zeigt ihr nicht besonders beeindruckendes schmales, geöffnetes Heck. Heute war ein Astipálea–Tag, und da ist sie ziemlich früh zurück, schon am frühen Nachmittag, nicht erst nachts um 10 herum, wie nach den Fahrten Richtung Nord. Tatenlos wartet sie an solchen kurzen Tagen bis zum nächsten Morgen um sieben, wenn es wieder auf große Fahrt Richtung Pithagório, Samos geht. Im Zickzackkurs durch die nördlichen Dodekánissa, angelegt wird neben Léros (in Lákki, nicht in Agía Marina, wie es die Tragflächenboote und Katamarane tun) und Pátmos auch auf den kleineren: Lipsí, Arkí, Agathoníssi. Leider ist ihr die Südroute nach Rhodos und Kastel(l)órizo nunmehr endgültig verwehrt, schon seit einigen Jahren. Dafür hat sie ihr Aussehen ein wenig verändert. Ein dicker blauer und ein dünner gelber Längsstreifen zieren jetzt ihre weißen Flanken. Man erinnert sich noch genau an ihr gänzlich weißes Erscheinungsbild. Témpora mutantúr (– et nós mutámur in íllis). Die Zeiten ändern sich(– und wir mit ihnen). Unmerklich über kurz, ganz gewaltig über lang.

Zwei ANEM–Schiffe (ANEM = Anónimi Naftiliakí Etería Masticharíou), die wenigstens drei– bis viermal täglich die Route nach Mastichári bedienen, einem noch relativ netten Ort (die östlichen Nachbarn kann man nicht damit vergleichen – weniger gelungene Konglomerate aus überdimensionierten Großhotels mit hübschen Sandstränden) mit so etwas wie einem noch spürbaren Dorfcharakter an der mittleren Nordküste der Nachbarinsel Kos, warten auf ihren Einsatz.

Nur ab und zu taucht ein großer Pott von GA Ferries auf, zurzeit meist die "Rodánthi" oder die "Marína", auch die alte, so charakterisch schön lang und schmal geformte "Romílda" mit ihrem ausgedehnten, laaaaangen Bugvorspann, bevor endlich die Aufbauten beginnen. Seltener eine moderne, viel gesichtslosere Fähre von Blue Star Ferries – die meisten Blauen ziehen schnöde an Kálimnos vorbei: Kos, dann Rhódos. Man freut sich richtig, einmal zufällig die größeren Schiffe im Hafen von Póthia mitzubekommen. Täglich klappert man die Fährenagenturen zu Füßen des Stadtteils Ágios Nikólaos auf die Schiffsfahrpläne hin ab.

Mag sein, dass Kálimnos nun spürbar im wirtschaftlichen Abseits gehalten wird, was sich ebenso am Einfrieren des Flugplatzbaus auf einer kühnen, völlig den Winden ausgesetzten Rampe hoch über Árgos zeigt. Dabei ist die Piste längst geteert, nur das Abfertigungsgebäude wirkt noch wie ein Rohbau – die Olympiade hat die griechischen Staatskassen regelrecht geplündert, und da wundert es nicht, wenn die Vollendung des Airports auf Eis gelegt wird und selbst der komfortabelste, innen krankmachend tiefgekühlte Inselbus, den ich im Mai vorigen Jahres (2004) noch benutzen konnte, nach Athen abgezogen wurde. "Sie haben ihn uns wieder genommen", hört man die enttäuschten Kalymnier sagen.

Doch bei all diesen wirtschaftlichen Benachteiligungen haben sie immerhin Póthia, die große Stadt mit ihren engen Straßen und Gassen, ihrer Vielfalt an Geschäften und ihrer blühenden Geschäftigkeit.

Diese Stadt ist schlichtweg unvergleichlich, auf ihre Art ganz einfach toll, ehrlich, ohne jegliche Künstlichkeit, aufrichtig bis zum Geht–nicht–Mehr. Zwischen der bulgarischen Grenze Ost–Thrakiens und Kreta kenne ich nichts Vergleichbares in dieser speziellen Mischung aus Kleinheit und großartiger Lebendigkeit – obwohl Souflí und Didimóticho im östlichen Thrakien oder Árgos und Trípoli auf der Peloponnes auch eine ganz eigenartige Atmosphäre ausstrahlen, doch denen fehlt halt spürbar eine Öffnung zum Meer hin.

Die Platía, der große Stadtplatz, ist hier tatsächlich ein in die Länge gezogenes Rechteck am Meer, ein Areal gleich neben der Hafenstraße mit etwa anderthalb oder zwei Dutzend Kafenía der neuen wie der älteren Sorte, in welch letzteren man auch ausgewachsene Gerichte verspeisen kann, und an der Stelle, wo die verkehrsreiche schmale, vielfach gebogene Einfallsstraße aus dem Inselnorden und –westen im rechten Winkel auf das Event von Uferpromenade trifft, liegt – hinter einem der neueren Cafés versteckt – das betagte "Tholámi", das Kafé–Ouzéri vom alten Grigóri, eine nicht wegzudenkende Institution, deren Existenz wohl nur mehr bis zum Ableben ihres Betreibers gewährleistet sein wird. Hier lässt sich ohne Weiteres ein Riesenstück noch warmen Tintenfischarms in Essig frühstücken, zu einem Preis, der schon vor 6 oder 7 Jahren auf Lipsí weit höher angesetzt war, bei wesentlich kleineren Portionen.

Wenn man an einem der hellblauen Tische eine Weile Platz nimmt, kriegt man 50% vom Stadtgeschehen mit, denn hier ist erstens der Geldautomat der Nationalbank in die Wand eingelassen und zweitens mündet eben besagtes wichtiges Sträßchen ein. Die beiden Telefonkabinen zu benutzen ist deshalb meist sinnlos, außer man hat ein Gehör wie eine Fledermaus, bei dem Verkehrslärm um einen herum. Aber wer und was da vorbeikommt, das regt, kurz gesagt, unaufhörlich die Fantasie an, korrigiert im Sekundentakt die mitteleuropäische Vorstellung davon, was sein soll und wie es zu sein hat. Ja, es gibt sie wirklich noch, derartige Unglaublichkeiten!

Abenteuerliche Gefährte knattern vorüber, Paarungen von Mensch, Dingen und zwei großen Hunden, auf ein rostiges Michanáki (= Moped) gequetscht. Ein Bauernlaster, japanisch wie fast alle Pick–ups, mit einem gewagten Bogen von Eisenstangen, die ihn nach vorne und hinten um das Zweieinhalbfache verlängern und die an ihren Enden gerade noch nicht auf der Fahrbahn schleifen. Wahre Tonnen von Menschen. Weiber, die erst ab der Hüfte zu quellen beginnen, aber dann ganz kolossal in die Breite gehen. Daneben ausgemergelte, vom Leben gezeichnete Fischergestalten, wie die auf schaukelnden Booten. Dreirädriges, bunt wie Kaíkis gestrichen, mit optimistisch dreinschauenden Transporteuren, Schirmmütze auf, ihre runzligen Gesichter wettergegerbt: Hauptsache Arbeit! Ein unaufhörliches Begrüßungsgehupe – jeder kennt schließlich jeden.

Die allseits geduldete Hundemeute zieht vorbei, überraschend gepflegt aussehend, wenigstens im Vergleich zu den abgestürzten Katzenelenden. Der gewiefte weißliche Leithund begattet ständig und allerorten seine Auserwählten. Fünf Tage später taucht dann sein blutüberströmtes, zerbissenes Hundegesicht am Hafen auf, um das sich doch niemand kümmert. Das nackte, harte Straßenleben.

Und spätestens nach fünf Tagen bin ich in aller Munde, Inselgespräch. Der ganz leidlich einfaches Griechisch sprechende allein reisende Deutsche aus München, der nie ein Taxi nimmt, obwohl es davon 40 gibt, immer zu Fuß zu sichten ist, neulich hat er die Insel von A nach B durchquert, er fährt dann immer mit dem Bus zurück, ist unsterblich in XY in Vathí (Vathýs) verliebt, weil er dort schon zweimal gegessen und sie nach ihrem Namen gefragt hat.
Was sich wohl die Inselhonoratioren unter dem imposanten Säulenvorbau des allerschönsten, Richtung Hafengeschehen blickenden alten Hallencafés so erzählen? Da lauscht man anderen Themen als nur Gesprächsfetzen über die Vorübergehenden. Sogar um Geschichte und Religion drehen sich die Unterhaltungen.

Wie mir Póthia nach so kurzer Zeit bereits ans Herz gewachsen ist! Wie sehr ich das Publikum mag, das sich hier ergeht, aus den hangwärtigen Stadtvierteln, wie etwa Ágios Stéphanos, mit ihren tausenden kleinen Geheimnissen und der fraglos spürbaren Schlichtheit und Ursprünglichkeit, hafenwärts zusammenströmt.

Die meisten Kalymnier machen auf mich einen eher ärmlichen, durchaus sehr einfachen Eindruck, trotz der vereinzelt dastehenden palastartigen Stadtvillen eines Geschäftsmannes, Arztes oder Advokaten. Schon die Art, wie viele von ihnen gekleidet sind, würde bei uns zu Hause Aufsehen erregen: "Zigeuner", "Balkan".

Auf einer der Eisenbänke beim Schifffahrts– und Volkskundemuseum vor der Kathedrale direkt am Hafen liegt wieder der etwas schmuddelige, mopsartige Mann so um die 45, der einfach dazugehört: die Kálimnosvariante eines Penners, doch er trinkt nicht permanent. Er wirkt in seinem schmutzig–braunen Pullover und den Badeschlappen mit seinem breiten Gesicht wie ein gestrandeter Däne, ein verirrter Wikinger. Seit Jahren hält er sich im stets gleichen Planquadrat auf, meist mit nacktem Oberkörper. Die Wirtin eines der beiden netten Kafenía hinter dem Gerichtstempel aus italienischen Besatzungszeiten muss ihn abends manchmal zurechtweisen, gar von einem ihrer Tische vertreiben, wenn er sich wieder etwas ungebührlich aufführt. Das geschieht mit leicht beschwörenden, fast mütterlich besorgten Worten. So macht man das in Póthia. Achtung auch gegenüber den Randgruppen der Gesellschaft. Selbst der Schwarzafrikaner mit seinen im spärlichen Gebüsch bei der Mitrópoli verstauten Habseligkeiten darf sich unbelästigt fühlen, und irgendwie akzeptiert.

Hoch über der Westflanke der Stadt thront das fest gebaute, weithin übers Meer und noch in Mastichári, Kos gut sichtbare Nonnenkloster des Heiligen Sávvas. Er gehörte ganz der Neuzeit an, starb im 20. Jahrhundert, wurde erst nach dem zweiten Weltkrieg heiliggesprochen und war Zeitgenosse unserer Eltern.

Aus dem Viertel Ágios Nikólaos heraus nehme ich einen Treppenweg als Abkürzung zur Teerstraße den Hang hinauf Richtung Vlichádia. Nadelgehölz, Nadelduft über der Hangstraße. Ich passiere den Abzweig zum Kloster mit den Gebeinen eines zweiten wichtigen Inselheiligen: dem des Heiligen Vassíli(o)s. Noch einen dritten haben sie: den Heiligen Pandeléimon.
Ein Aussichtslokal, noch im Winterschlaf. Eine Straßenbiegung, und es geht westwärts, der sinkenden Sonne entgegen, bis rechterhand ein Schild zu einem Dodekanes–Museum weist, an dem vorbei die Teerstraße hinauf zum großen Sávvas–Kloster verläuft, alles in allem ein gar nicht so kurzer Abendspaziergang.
Mittlerweile hat sich ein anhänglicher Hund, ein ganz kleiner, zu mir gesellt. Da er das Kloster gut zu kennen scheint, vielleicht schon häufig daraus vertrieben wurde, kehrt er sang– und klanglos kurz vor dem Eingangstor um.

An der Hangkante das große weiße Steinkreuz, Mahner gegen den nahen Islam. Kos ganz nah, der Bergwall des Dikéos–Gebirges, selbst das Erdölkraftwerk westlich von Mastichári an der Nordküste noch erkennbar, schon ferner die teils vulkanischen Höhen der Kéfalos–Halbinsel im Westen. Und natürlich das ausgebreitete Psérimos, das ostwärts die Lücke zur Türkei hin füllt.

Eine überirdische, mystische Ruhe liegt über dieser Abendszenerie. Die große Klosterkirche ist aus grauen Steinquadern zusammengesetzt, von der Stadt aus erscheint sie wie ein unfertiger, mörtelloser Betonbau. Prachtvolle Blicke bieten sich da hinunter, oberflächliche Einblicke in die Tiefen und Abgründe des alltäglichen menschlichen Treibens.
Gegen die Abendsonne zeichnen sich Umrisse hochgewachsener, ganz in Schwarz gekleideter und mit Kopftüchern verhüllter Nonnen ab, die der letzten Besuchergruppe im alten Teil der Anlage mit dem Grab des Heiligen aufwarten. Ich trete ein in das Innere der großen Kirche vor dem neuen Teil des Klosters. Es ist wunderschön mit Fresken ausgemalt und in jeder Hinsicht bestens gepflegt. Ereignisse und Wundertaten aus dem Leben des Heiligen entfalten sich vor dem staunenden Auge. Niemand anders steht betrachtend in dem Raum. Allein bin ich, eingestimmt auf den Geist, der da fühlbar waltet. Zusammen mit den üblichen Leuchtern, den hohen Holzsitzen, der prunkvollen Ikonostase mit den Heilgenbildern, den mit Sand ausgefüllten Kerzenständern und anderem liturgischen Gerät ergibt sich im Halbdunkel etwas unaussprechlich Schönes, Transzendentales, etwas nicht mehr von dieser Welt Kündendes.
Mehrere andere kleinere, älter wirkende Kirchen und das einfache Wohnhäuschen des Heiligen zwischendrin mit den wenigen Büchern, simplen Utensilien und dem steinharten schmalen Bett – nicht gerade eine Felsennische wie das "Bett" des Franziskus von Assisi, aber hart genug, wie ich ertaste – vervollkommnen innerhalb der Mauern des alten Klosterteils die abendliche Mystik. Noch ein Blick auf das glänzende Häusermeer tief unten. Pinien– und Blütenduft.

Kálimnos, die Fromme, hat noch mehrere andere aktive Klöster. So mancher Mönch hat wohl sein Leben großenteils in einer der unzähligen Höhlen im Fels zugebracht, in denen jetzt Wanderer und alpine Kletterer herumsteigen. Denn Kálimnos wurde in letzter Zeit in erster Linie als Bergsteigerparadies bekannt, in dem sich die bei allen Schwierigkeitsgraden doch wohl etwas weniger Ambitionierten, denen vor allem kürzere Touren genügen, bzw. die heimlichen Griechenlandfans austoben. Genügend Überhänge, Steilwände und Klettersteige sind vorhanden und auch penibel an den Straßenrändern der Westküste gegenüber dem Inselsatelliten Télendos ausgeschildert.

In den Augen der Griechen gilt Kálimnos als eine sehr gläubige Insel, als eine einst schwamm– und fischreiche, deren Fischkutter heutzutage überall in der Ägäis auftauchen, um fremde Gewässer zum Leidwesen der heimischen Fischer leerzufischen. Selbst während meiner Tage auf Kárpathos lagen zehn (!) fangbereite Fischerkaikis aus Kálimnos im Hafen von Diafáni, sehr zum Unmut von Pávlo, einziger berufsmäßiger Fischer vor Ort und Popis Bruder, von der Taverne Ta Delphínia.
Kurz vor dem Einsteigen in die Fähre nach Rhodos hatte ich noch die Besatzung eines dieser Boote gegrüßt, ihnen erzählt, ich sei auf dem Weg zu ihrer Heimatinsel. Ich erhielt eine eher höhnische Antwort. Ich solle es doch herzlich grüßen, das "geliebte" Kálimnos. Der Ton machte die Musik. Vom Leben enttäuschte Heimatvertriebene, die niemand verjagt, "weil sie AUCH Griechen sind".

Copyright puchheim = MartinPUC, 2005, 2006

Zu Manóli in Vathí, Kálimnos