Kássos aus der Rückschau
Copyright puchheim = MartinPUC, Juli 2003, September 2006


Nach einer Übernachtung im Archontikó (= Herrenhaus), der einfachen aber sehr gepflegten Pension oben im dritten Glied der Straßenstaffelung, vom Hafen in Sitía aus gesehen, mache ich mich auf zur nahen Außenmole, dem Fährhafen. So gegen 10 Uhr morgens legt das Schiff ab, die übliche leichte Verspätung. Nimmt nicht wunder bei dem langen Weg vom Piräus her über Milos, wo ein mitternächtlicher Stopp eingelegt wird. Kurz nach Mittag werden wir in Kássos ankommen. So um halb eins rum. ((Diese Zeiten ändern sich natürlich ständig!))

Habe beim Passieren des Empfangspultes am Ende des „Geh–Schlauches“ parallel zum Autodeck das Gefühl, der Herr, der die Tickets auf der "Vitsentzos Kornáros" kontrolliert, kennt mich allmählich. Ein leiser Anflug von Lächeln und ein spürbares Aha–Erlebnis bei ihm wie bei mir. Ich grüße.

Wir gleiten gemächlich aus der weiten Bucht von Sitía mit ihrer einige Kilometer zurückgesetzten Bergumrandung und nähern uns dabei einem größeren weißen Dorf am Gegenufer, das sich etwas in die Länge zieht. Es ist der aus dem Boden gestampfte Touristen–, Retorten– u. Eigentumswohnungs–Ort namens Diónysos Village, die Fehlinvestition mit dem unweit davon platzierten Lokal deutscher Einwanderer an der nahen Überlandstraße Richtung Palékastro. Die Siedlung wirkt richtig echt und ursprünglich, aus einiger Entfernung. Ganz anders aus der Nähe. Stelle mir eine deutsche Bockwurst vor, mit Nitrat und Sauerkraut, Schweinebraten, Schwarzwälder Schinken, kulinarische Köstlichkeiten für alle Langzeiturlauber, denen der Greek Salad allmählich im Hals stecken zu bleiben droht, als mir zum Glück original griechische Essensdüfte aus der Schiffskombüse in die Nase steigen. Die Crew darf bestimmt wieder früher speisen als die Passagiere.

Lange Reihen von Windkraftrotoren verschwinden in der Ferne. Ich lasse die noch sehr ursprünglich kretisch gebliebene Mezédhes–Stadt hinter mir, das wunderbare Café Sitía (wurde inzwischen kräftig modernisiert, und ich garantiere für nichts mehr) beim ersten Kiosk schräg gegenüber dem grell bemalten Fußballklubhaus am Beginn der westlichen der beiden Uferpromenaden.
Auch die hellbraune Baustelle des neuen, deutlich vergrößerten Flugplatzes, auf ganzer Länge hoch über der Stadt, sozusagen ihre Krönung, entzieht sich nach und nach meinen Blicken. Bald also Charterflüge auch dorthin, in den Fernen Osten Kretas? Stand Herbst 2006: Pustekuchen! – Immer noch keine Charterflüge, immer noch unvollendet, dieser Airport, bis auf die fertige neue Start- und Landebahn.
Ob die auf Bewahrung ausgerichteten, in den Augen der Investoren vielleicht "starrköpfigen" Mönche des Moní Toploú im Streit um Grundstücksverkäufe zwischen Vái und Palékastro wohl bald nachgeben werden? Wo bringt man ansonsten die Chartermassen unter?

Unweit des neu gebauten und schon im Bankrott befindlichen D.–Dorfes eine Art Klostersiedlung etwas über dem Meer.

Es tauchen die kahlen Ausläufer der äußersten Nordostecke des Minoslandes auf, kleinere verlassene Buchten. Backbords die letzten paar Inselfetzen der Gianisáda, Dragonáda, Paximáda, wo einst angeblich sogar die Sowjetflotte zu lauern pflegte. Deshalb wohl auch die einzelne, etwas verhüllte Kanone mit Panorama auf der äußersten Landspitze Kretas, militärisches Sperrgebiet – schweres, schweres Geschütz (!), erfolgreicher Wahrer der kretischen Freiheit.

Um die Ecke reicht nun der Blick, Richtung dem Tafelberg am Meer bei Angathiá. Es grünt von weit her. Eine größere Insel vor der schmalen Ostküste zeigt sich. Erinnerungen an den Fernblick auf die vorbeiziehende Fähre von der Terrasse des Kafenío Anatolí über dem Olivenmeer, aus der entgegengesetzten Perspektive.

Die Vitséntzos Kornáros erzählt nicht den Erotókritos, wie ihr Namensgeber, sie beginnt vielmehr etwas zu stampfen und graugrüne Wellenberge zu zerteilen, deren Reste sich in vielfältigen Flächen weißlich umsprudelt den Rumpf entlangschieben.

Auf dem hinteren Oberdeck fixiere ich lange das schwindende Kreta, um möglichst viel Neues zu erfahren und zu erfühlen, mit dem meersalzhaltigen Fahrtwind einzusaugen, es mir einzubrennen.

Nach gut einer Stunde fühle ich mich im freien Meer, heute gibt es keinen Sichtkontakt mehr mit einer Insel. Hoffnung auf Schiffe. Gelegentlich ein Frachter. Woher wohl? Alexandria? Limassol? Haifa?

Allmählich entsteht eine neue Inselkontur aus dem Nichts. Mit recht schroffen Formen, je näher man kommt.

Ich kann allerdings den Verlockungen der ostkretischen Küche nicht lange widerstehen und folge schließlich dem Ruf des bordeigenen Self(–Service–Restaurants), zumal es sich nicht gerade um meine erste Annäherung an Kássos handelt.
So viel bessere Qualität als etwa auf den GA–Schiffen. Guter Retsina Sitías aus grünlichen Flaschen mit gelbem Etikett ((damals)). Dazu viel Wasser. Ein Fleischgericht mit Makaroúnia und Parmesan in gut bekömmlicher öliger Soße und dazu Maroúli–Saláta mit viel Öl und großem Zitronenstück. Einige Weißbrotscheiben aus dem großen Container. Wichtig: ein Fensterplatz steuerbord, die ersten Felsabhänge von Kássos schräg vorne zu bewundern.
Das Essen preislich nicht annähernd so schlimm wie bei manch anderer Fährgesellschaft. Ein kleines Trinkgeld aufs Tablett für den Abholer. Dann schnell wieder an Deck, möglichst hoch hinauf.
Ein oder zwei Nussschalen von Fischerbooten hüpfen auf den Wellen.

Kleine, sehr kleine, sandig wirkende Buchten mit recht hohem Wellengang, zum Baden etwas riskant. Eine Kapelle mit Nebengebäude direkt am Meeresufer. Eine Küstenebene. Oben auf der Anhöhe das hintere Ende eines weißen Dorfes ausgebreitet: Agía Marína. Ein Feldweg führt hoch. Eine kleine Straße verläuft uferparallel. Da taucht, direkt am Meer, die konvex gebogene, asphaltierte Landebahn auf, angeblich 1 km lang, aber eher 800 m, wie ich später bemerkte. Bestimmt recht windempfindlich, so nordexponiert, wie die ist. Ein kleines Kloster jenseits des Flugplatzgebäudes.
Der Leuchtturmwinzling, und um die Ecke der Hafenort Phry.

Ein wie aus dem Ei gepellt wirkender hübscher Bilderbuchort, vom Schiff aus gesehen, gegen eine kahle Landschaft mit buckeligen, rundlichen Bergstöcken gesetzt. Es ist wohl die frisch blau gestrichene Kirche mit ihren weißen Umrandungen und dem Glockenturm im typischen Dodekanes–Stil, die dem ganzen Ort Glanz verleiht. Auch der recht bescheidene Kaiki–Hafen östlich des sehr schmalen Anlegers rundet mit seinen bunt bemalten Booten den freundlichen Eindruck ab.

Einschub:
Das war einmal, mit dem niedlichen, gefährlichen "schmalen" Anleger. Die letzten Jahre hat ein findiger Politiker der EU so viel Zuschüsse entlockt, dass nunmehr ein gewaltiges System von Anlegern, die sogar dem viel größeren und bedeutenderen Kárpathos größte Ehre machen würden, allen Schiffen auch bei widrigen Winden sehr großzügig die ersehnte Zuflucht gewähren kann – fast immer, einen Ausnahmefall durfte ich miterleben, da machte man doch wieder lieber am alten Anleger fest.. Der wirkt mit seinem Wartehäuschen wie ein Relikt aus uralten Zeiten.

Lasst uns aber auf die wartende Menge schauen, das Schiff gemächlich wenden, Heckklappe auf, wie früher langsam auf den ALTEN, viel zu kleinen und damit bei stärkerem Seegang gefährlichen Anleger zusteuern. Ich erkenne einen stolz daherschreitenden Herren in ockerfarbener Hose und kurzem Hemd, in einer Hand einen Aktenkoffer, wirklich gelassen und würdevoll zum im Schiffsportal stehenden Offizier hinblickend. Es sollte der legendäre Emmanouil Manoússos sein, mit seinem Hotel inklusive Ticketagentur und Minimarket und der Kássos–Webseite http://www.kassos–island.gr/. Die einzige Person, scheint es, die Fähren angemessen empfangen kann.

Bei Schönwetter sehr nah die Westseite der lang gestreckten Nachbarinsel Kárpathos, man wäre zu Fuß in vielleicht gut zwei Stunden dort, wäre da nicht die Meeresbarriere! Schier ins Unendliche zieht sich der gewaltige Inselriegel gen Norden.

Links oberhalb von Phry eine hübsch wirkende kleinere Siedlung namens Panagía mit großer weißer Kirche und der merkwürdig aneinandergebauten Kapellenfolge, ebenfalls ganz in Weiß. Einige Kilometer bergauf ist noch ein Dorf vom Meer aus zu sehen: Póli. Östlich an Phry anschließend der verlassen wirkende Ort Emborió mit ebenfalls hübscher Kirche und bescheidenem Hafen, der als Badestrand genutzt wird. Hinter den Dörfern Bergmassive, die der Insel Fülle geben.

Zu meiner Enttäuschung steigt außer Einheimischen kein Mittourist mehr aus, nur ein Pärchen mit Rucksack ein – und hier bin ich also wieder, auf einer verschlafenen Dodekanesinsel, die nur wenige kennen bzw. wahrhaben wollen. Der Auflauf der Abholenden, Neugierigen und Ankommenden fällt bald auseinander. Zwei ältere Frauen versuchen mir ein Zimmer einzureden. Ich lehne erst einmal dankend ab, da ich mich wieder im Hotel des Ex–Kapitäns einquartieren möchte.
Das geschieht auch,, obwohl ich mich angesichts der Mobilfunkantennen ganz dicht über meinem Zimmer nicht so wohlfühle. Die Situation wäre im Nachbarhotel übrigens dieselbe.

Die erstaunlich vielen kleinen Super– bzw. Minimärkte erleichtern den Einkauf. Ein recht üppig ausgestattetes Obstgeschäft sowie eine Konditorei mit zwei Tischen draußen, von einem alten Ehepaar betrieben, liegen im unmittelbaren Umkreis meiner Bleibe, die zum Meer hin auf die Großbaustelle des neuen Anlegermonsters schaut – eher eine gewaltige vieleckige Anlegerplattform. Großbaustelle, aber sehr bescheidene Arbeiten! Ganz gemächlich, hat ja Zeit.
Das Motorboot, das zweimal die Woche nach Finíki bei Arkássa auf Kárpathos rüberfährt, dümpelt am Kai vertäut vor sich hin.

Jeder Ladenbesitzer fühlt sich geehrt, wenn man bei ihm/ihr Einkäufe tätigt. Eine sehr kleinstädtische, eigentlich trotz der Ruhe gar nicht unbedingt dörfliche Atmosphäre.

Ein prächtiges Terrassenkafenío thront über dem winzigen alten Fischerhafen. Darunter ein unscheinbareres, von den jungen Leuten bevorzugtes. Ein, zwei Fischer bieten an der Tamariske vor dem „oberen“ morgens ihren Fang feil, die Waage kurzfristig an einem Ast aufgehängt. Die meisten einheimischen Gäste sitzen drinnen und spielen Karten oder sehen fern.
Ich nehme natürlich draußen Platz. Hoffe auf wenigstens ein paar andere Touristen, die sich im Laufe des Tages auch hie und da einstellen. Insgesamt so etwa 6 oder 7 sind auf der Insel, insgesamt nur 3 Deutsche – außer mir noch ein Paar. Es ist Nebensaison (April). Und die guten Badestrände liegen eigentlich auf einem Inselsatelliten einige Kilometer draußen im Meer, wohin es nur im Sommer Boote gibt. OK, man könnte natürlich auch eines privat und für relativ viel Geld anheuern, dafür ist das Wasser aber auch noch zu kühl.

Es ist seit einigen Tagen zu windig draußen auf See, der Seegang wird immer stärker. Das bedeutet für mich, wie einmal auf Foúrni (die Insel westlich von Samos, so berühmt für ihren Fischreichtum), dass es die nächsten Tage keinen frischen Fisch geben wird. Echt schade!

Geöffnet hat zu dieser frühen Jahreszeit tavernenmäßig nicht so viel, hauptsächlich das "Milos" auf einer weiteren Terrasse über dem Meeresufer mit recht gutem, wenn auch bescheidenem Essensangebot.
Dann noch eine Art Grillstube unweit des von mir geschätzten Kafeníos mit Fischverkauf und auf Anforderung das zu dieser Zeit nur als Kafenío genutzte Lokal 100 m weiter Richtung altem Fähranleger, wo ich auch zweimal ganz alleine gut esse. Die angeblich so leckere Ouzéri an der Straße Richtung Emborió hat noch zu, ebenso das von der Frauenkooperative geführte Lokal an einem Platz weiter landein unweit der Bäckerei.

Hinten in Emborió scheinen zwei Kafenía geöffnet, d. h. sie stehen offen, und die Wirtinnen lassen sich herbeirufen, eine davon etwas aufdringlich mitteilsam. Die Taverne vorne an der Ecke der Zufahrtsstrasse zum „Hafen“, wo quasi als Strafe ein auswärtiger Fischkutter aus Kálimnos im Abseits geparkt liegt, öffnet leider auch erst im Sommer.

Oben in Agía Marína, einem weitläufigen Ort mit sehr hübschen alten Winkeln, befindet sich in Nähe des vorderen Ortseingangs – von der Teerstraße zum Flugplatz aus gesehen – eines jener alten Kafenía, die es gar nicht mehr geben dürfte, mit irre niedrigen Preisen und „alter“ Stimmung. Ein moderneres Lokal war weiter zur Ortsmitte hin gerade im Aufbau, müsste längst fertig sein.

Aber zurück zu Phry, das ebenfalls eine Art „Altstadt“ zu bieten hat: westlich des hässlichen großen Sendemastes beim OTE. Lauter hübsche kleinere und größere Häuser mit gelegentlicher Zimmervermietung, Obstgärtchen, Blick vom Hügel ins Land und aufs Meer. Und mit viel Ruhe.

À–propos Ruhe: Warnung: Kássos ist nicht zu empfehlen für Leute, die leicht melancholisch werden, wenn nicht viel bzw. gar nichts los ist! Für die wäre die Insel Chálki deutlich besser – aber auch nicht länger als zwei, drei Tage.

Man lernt eben die wenigen anderen Urlauber kennen, trainiert sein Englisch oder Französisch. Oder hält es mit den Griechen, auf (Einfach–)Griechisch.
Viele Einheimische sprechen aber auch Fremdsprachen, eben die kleinen Inseln, von wo aus viele fürs Berufsleben in die weite Welt ziehen. – Daher vielleicht auch eine Art ägyptisches Brot, in der Inselbäckerei erhältlich. Die Beziehungen von rückgekehrten Auswanderern bzw. Exilierten zum gar nicht so fernen Ägypten sind noch lebendig.

Wenn man nicht besonders gut im Meer baden kann, so kann man doch wandern. Und zwar ganz schön, für ein paar Tage sternförmig etwa von Phry aus. Auch ein Taxi kann da streckenweise behilflich sein. Vom Fahrer bekommt man bestimmt einige Tipps, was die Wege anbelangt.

Sehr schön beispielsweise der Weg hinauf nach Ágios Mámmas, einem picobello renovierten unbewohnten Kloster mit Artischockengärtchen hinter den Bergen hoch über dem Libyschen Meer und Blick zum Südende von Kárpathos. Ziel einer alljährlichen Wallfahrt am Fest des Heiligen. Nicht wundern, wenn gelegentlich ein großes Fährschiff hinter Kássos vorbeizieht: Keine Fata Morgana, manchmal (sehr selten!) wird Kássos – oder wurde zumindest früher – als Halt ausgelassen, und die Fähre legt erst wieder in Pigádhia auf Kárpathos bzw. Sitía auf Kreta an. In diesem Fall kürzt sie die Route ab und zieht ungesehen entlang der Südseite von Kássos vorbei.

Man nimmt zunächst die Teerstraße hinauf oder bis kurz vor Póli, kürzt quer durchs Dorf ab, kommt an der Kirche vorbei wieder raus und geht den Feldweg nach rechts weiter hoch. Bald erkennt das geübte Auge eine Abkürzungsmöglichkeit an einem Einschnitt bei einer Gartenmauer entlang, die einem viele Serpentinen erspart. Weiter oben nimmt man wieder den Feldweg. An einer Straßengabelung noch vor den Kamm nach rechts weiter, links käme man zu einem hübschen Kirchlein mit grandioser Aussicht nach Nord.
Nach Erreichen des Sattels (Kamms) mit dem Steinhaus den Hauptweg weiter nach Ost. Bald eine Weggabelung. Rechts halten, auf der Südseite des Hauptkamms. Dann bald wieder rechts abzweigen, auf die Stichstraße bergab zum Kloster, sie dreht allmählich Richtung West, ein kurzes Stück den Südabfall der Insel entlang. Querfeldeingehen ist nicht zu empfehlen. Besser auf den Feldwegen wandern. Gehzeit von Phry aus einfach knapp anderthalb Stunden, wenn man einigermaßen gut zu Fuß ist.
Trinkwasser und Verpflegung ist mitzubringen, denn auch im Dorf Póli gibt es kein Kafenío mehr, geschweige denn oben in der Bergeinsamkeit. Es dürfte aber nie dramatisch werden, wenn das Wasser ausgeht, denn in gut einer Stunde ist man wieder unten in Póli oder gar Phry, und ab und zu rattert auch ein Moped mit Hobbyjäger drauf oder ein Pick–up vorbei.

Auch ein Rundkurs ist möglich, wenn man aus dem etwas erhöht gelegenen Ort Panajía östlich hinauswandert, alles auf dem Feldweg, vorbei an einer einsam gelegenen Pension noch ein Stück vor der Müllhalde mit den bewusst entfachten Feuern und angesengten, weil fressgierigen Ziegen und Schafen, bis weit hinter zu Häusern. Dort evtl. fragen oder vor dem hohen Berg an dessen Westflanke nach einem Trampelpfad suchen, der hoch zu einer Ebene an der Südflanke des Berges führt, von wo aus man den Feldweg nach W zurückwandert – alles keine allzu große Aktion, auf Kássos sind die Entfernungen noch gehbar.

Versucht nicht, die östlichen Buchten unterhalb dieser Hochebene zu erreichen – sieht gefährlich aus und lohnt sich nicht, da keine Traumbuchten.

Gespräch mit E. Manoússos in seiner Ticketagentur neben dem Minimarket. Er war lange Jahre Hochseekapitän von Frachtschiffen, hat alle Weltmeere befahren. Hat sich dabei seine ethisch–moralischen Vorstellungen und den gesunden Menschenverstand bewahrt, das Kommando auf zu stark überalterten und nicht mehr tauglichen Schiffen wenn irgend möglich abgelehnt. Irgendwann war ihm klar, dass die Ehefrau auch wichtig ist. So gründete er eine neue Existenz auf seiner Heimatinsel: Hotel, Ticketagentur und Minimarket.

Wie komme ich nur, es ist kurz nach griechisch Ostern, in das für diese Insel weit entfernte Kloster Ágios Geórgios Chadiés am Ende einer Straße in den Inselsüdwesten, oberhalb der großen Bucht Chélatro gelegen? Ich frage im Milos, ob mich am Abend jemand dorthin mitnehmen könnte – zu einem der größten Inselfeste, dem Panijíri am Georgstag! Sie sagen, ein Lastwagen würde sie hinbringen. Doch ich warte abends zu lange im Zimmer, ruhe mich aus. Phry hat sich schon geleert, Totenstille in den Gassen.

Also mal los, zu Fuß. Sind ja nur etwa 14 Kilometer! Noch hab ich das Ortsende Richtung Arvanitochóri nicht erreicht, da nähert sich von hinten ein Auto. Ich strecke den Arm aus, und es hält.
Eine junge Familie mit zwei lieben Mädchen, eines davon vielleicht erst dreieinhalb Jahre alt, bittet mich herein. Es handelt sich um einen der Volksschullehrer mit Frau und Nachwuchs, die sich das Fest nicht entgehen lassen wollen. Sie sind sehr angenehm, aufgeschlossen und kontaktfreudig. Am Ende meines Aufenthalts auf Kássos hab ich sogar die Schule besucht, um mich noch einmal von M. und dem Bürgermeister zu verabschieden. Kommen aus Vólos in Mittelgriechenland. Finden kleine Inseln wie diese ideal – nicht zu viel Stress im Beruf, brave Kinder, entspannte Atmosphäre. Das kommende Jahr sei aber das letzte Schuljahr hier. Dann ginge es anderswohin.

Vorbei am Gymnasium und dem Friedhof. Nach wenigen Minuten und einigen Kurven liegt linksab schon das Dorf Arvanitochóri, das mir wegen seiner erstaunlich vielen hübschen Herrenhäuser so gut gefallen sollte. Rechts oben das lang gestreckte Agía Marína. Es geht in einen Taleinschnitt hinein, die Straße ist schmal, aber geteert und verläuft an der rechten Talseite, zieht sich weiter hinten in Serpentinen den Hang hoch. Eine oder zwei kleinere Hochebenen, karges Land. Unterwegs schon ein paar in Vorfreude auf die Feier Angeheiterte am Straßenrand, ein Lied auf den Lippen. Alle sind guter Laune.

Wir kommen an. Tief unten, noch etw 2 km entfernt, eine schöne Bucht mit Strand (Kiesel). Unterhalb des Klosters ist entlang der Straße und eines Weges schon fast alles zugeparkt. Wir finden noch ein kleines Plätzchen und gehen dann getrennte Wege.

Hinauf zu den ersten Häusern der recht großen Klosteranlage. Hinein in den Innenhof. Eine Messe findet bereits statt. Der Bischof ist aus Kárpathos gekommen und wird hofiert. Auf einer Seite des mit Tischen und Bänken umstellten Hofes eine Reihe von zweistöckigen Gebäuden mit einer ganzen Menge von Zimmern, aus denen überall Gäste herausgucken. Ein richtiges kleines kostenloses Hotel, anlässlich dieses Festes voll belegt. Ein toller Service für die Inselbewohner. Hier übernachtet später auch eine belgische Freundin. Man muss halt Glück haben – d. h. es muss gerade jemand da sein, an diesem entlegenen Ort.

Draußen knallen die ersten Jungs herum – es sollte später noch viel schlimmer kommen, fast unerträglich werden. Nicht zu überhören die wuchtigeren Sprengsätze, von Wagemutigen zusammengebastelt und gezündet.

Ein Innenraum wird als Speisesaal vorbereitet – manche sitzen lieber drinnen. Draußen werden auf einem langen Tisch verschiedene Körbe positioniert. Auch ein Evangeliar wird dazugestellt. Zwei Priester oder Mönche postieren sich dahinter. Alle bilden lange Schlangen, küssen der Reihe nach das Evangelienbuch und werfen Geldscheine in jeden Korb. Ich frage mich, was das soll. Küsse dann aber ebenfalls und spende.

Die Spendenaktion war teils für das Kloster, teils als Beitrag für die allgemeine Verköstigung und vielleicht auch für die Musiker gedacht. Ich nehme an einer Tischecke Platz, und im Nu steht eine Flasche Retsina aus Kreta vor mir, etwas später wird jedem ein Fleischgericht auf Papptellern serviert! Meine vorsichtshalber mitgeschleppte Weinflasche war offensichtlich zu viel des Guten, eine völlig unnötige Aktion.

Endlich gibt es Musik, ich war schon so sehr gespannt auf die kassiotischen Lyraspieler – die mich abgrundtief enttäuschen. Mag sein, dass es erst nach zwei Uhr morgens so richtig losging, da war ich aber schon weit weg, auf dem Weg ins Bett. Möglicherweise war der Haupt–Star auch ausgefallen oder verreist. Eine sehr dilettantisch gespielte Musik jedenfalls, leider. Kein Vergleich zu den Künstlern in Ólimbos, Kárpathos, geschweige denn den kretischen Lyrastars. Das Fest bestand in erster Linie aus dem gemeinsamen Mahl und einer stundenlangen ohrenbetäubenden Dauerknallerei der Inseljugend – schlimmer, als ich es bis dahin je erlebt hatte.

Kurz nach eins dränge ich nach draußen, den dunklen Hügel hinunter zu den Autos. Vor mir im Dunkeln eine Familie, die sich ebenfalls anschickt aufzubrechen. Ich frage, ob sie noch Platz haben. Ja! Die Stimme kommt mir bekannt vor. Zufällig hab ich – ohne Berechnung – wieder die Lehrerfamilie erwischt und kann es mir in einem PKW bequem machen, also kein nächtlicher Trip auf einer LKW–Ladefläche.
Nun wird auch schon eine Einladung für einen der nächsten Tage zu einer hausgemachten Fasoládha ausgesprochen, die ich gerne annehme. Mal schauen, wie Kíkis Bohnensuppe schmeckt und sich trotz nicht ganz ausreichender Sprachkenntnisse auf eine Familie mit Kleinkindern einlassen ( – immer auch ein bisschen Stress, all das).

Tags darauf mache ich mich auf nach Arvanitochóri. Die 2 km schaffe ich zu Fuß, trotz Teerstraße, aber kaum Verkehr. Fußpfad konnte ich keinen ausmachen.

Ein von außen unscheinbares Dorf abseits der Straße. Genauer betrachtet aber eine Perle, mit allerschönsten, zumeist verfallenden, stattlichen traditionellen Dodekanes–Herrenhäusern durchsetzt, schöner Kirche und interessantem Friedhof dahinter mit Gräbern, die sprechen, erzählen. Ich scheuche von einem der Gräber, 15 m entfernt, eine geradezu umwerfend hübsche pechschwarzhaarige, braunhäutige Frau auf, mit wunderschön hochgestecktem Haar. Eine sehr schlichte, einfache Schönheit, die schweigend und schüchtern den Ort verlässt. Mir werden die Knie weich, und das auf dem Friedhof.
Jenseits der Mauer ein paar Ziegen, ein Feld. Feigenbäume. Mildes Licht und die Bergkulisse. In mir ein Durcheinander.

Das Kafenío hat erst (wieder?) später am Nachmittag geöffnet. Ich muss warten. Setze mich schließlich zu den Männern, an einen eigenen Tisch natürlich. Man wird neugierig. Der Insel–Bürgermeister gibt sich als solcher zu erkennen, ist sehr freundlich und noch relativ jung. Ist enttäuscht, dass mir dieses Dorf besser gefällt als Agía Marína. Ein kretischer Ratschí – sehr wohlmeinend bemessen.

Eine Wanderung den Feldweg und anschließend das enge Tal Richtung Süd hinauf, vom Dorfende aus. Man könnte Meilen gehen, bis zu einer weltabgeschiedenen Hochfläche.
In regelmäßigen Abständen ist das Tälchen mit Steinbarrieren durchaus professionell verbaut – Hochwasserschutz. Der Feldweg windet sich anfänglich noch seitlich herum. Links oben eine Kapelle, versteckt. Nach einer halben Stunde gebe ich die Wanderung auf, zu monoton, diese Stauwehre im Trockenbett. Aber ich kann mir die Wassermassen lebhaft vorstellen, die im Winter da herunterrauschen. Etwa 1 Jahr nach diesem Besuch war es auch besonders schlimm, Arvanitochóri, das „Albanerdorf“ ganz ohne Albaner, bekam einiges ab .....

Immer ein Erlebnis, diese Starts und Landungen auf den kurzen Inselpisten zu beobachten. Nach jeder Landung werden liebevoll und sorgfältig die Reifen der DO–228 (seit einigen Jahren Dash–8–100) wieder aufgepumpt. Immer wartet etwa auf Höhe der Mitte der Start– und Landebahn ein uralter amerikanischer Feuerwehrkleinwagen mit kanonenförmigem Strahlrohr und verblasstem roten Anstrich auf den möglichen Einsatz. Kurz zuvor trudelt ein bescheidenes Olympic–Airways–Auto aus dem nur etwa 600 m entfernten Phry heran, und man sperrt das Empfangs– und Abfertigungshäuschen auf. Ganz ganz beschaulich.

Kurz vor dem ersten Mittagsschiff – beide Fähren treffen ((trafen)) etwa eine halbe bis Dreiviertelstunde zeitversetzt ein – kommt der Flieger aus Rhodos bzw. Kárpathos an und setzt quietschend auf, kommt ein Stück nach der „Hügelkuppe“ der Landebahn zum Stehen. Der Start erfolgt fast gleichzeitig mit Ankunft der Fähre von Kreta her – na, da ist dann was los auf Kássos! Alles geboten.
Ein bestens gekleideter Offizieller aus Rhodos blickt unverblümt verächtlich um sich, als er auf das unverschämterweise noch nicht anwesende Taxi warten muss. Auf welcher Bauerninsel ist er denn da gelandet?! Ich sehe ihn später zusammen mit seinem Empfangsmenschen zu Fuß die Straße Richtung Agia Marina hinaufschlendern.

Einer der ankommenden Fähren entsteigt eine interessant aussehende Rucksacktouristin – Französin? Wirft einen ausgedehnten Blick auf die Tafel mit den Anmerkungen zu Naturschönheiten etc. beim alten Anleger. Sie verschwindet bald spurlos, trotz der Kleinheit der Insel. Habe sie nie mehr gesehen.
Man freut sich hier wirklich, wenn einmal jemand Neuer ankommt, hofft auf Ansprache, vielleicht auch eine gemeinsame Unternehmung.

Kleines Stück von der Straße nach Póli rechts ab. Ein Baum. Ein alter, schäbiger Hund. Völlig abgestumpft vom sinnlosen Kettendasein. Er weicht die ganze Kettenlänge zurück, hat Angst, sich den mitgebrachten Essensresten – darunter auch Knochen! – auch nur zu nähern, selbst als ich schon 100 m weg bin. Kann es nicht fassen, dass sich einmal etwas in seinem tristen Dasein ändern sollte, einmal etwas anderes als altes Weißbrot, Gurken– und Tomatenschalen in Wassersoße serviert zu kriegen. Hoffnungslos, in jeder Hinsicht. Völlig abgestumpft.

Springende Spinnen, Hüpfspinnen, auf dem Trampelpfad von Panagía hinunter nach Emborió. Eine Einbildung? Grobe Steinplatten, Felsen, auf denen der Fuß Halt sucht, nach dem Gespräch mit dem einsamen Alten im letzten Haus am hinteren Ortsende.

Die Trostlosigkeit von Emborió im frühen Frühling. Nichts. Nur die zwei kleinen Hunde, immer wachsam und immer zusammen.

Vorbei an und kleiner Abstecher hin zu dem verfallenen Gemäuer am Meer mit der mahnenden Aufschrift 1824. Die Türken.

Das furchtbar schüchterne kleine Mädchen einer Fischerfamilie flüchtet hinter den großen Baum – all die Spielsachen bleiben unbewacht zurück.

Nachmittags nach West vorbei am Airport. Erst das Ex–Klösterchen mit der Wasserstelle, gleich beim Flughafen. Ein Stück weiter ein ziemlich hässlich verschmutzter Stein–Kies–Strand. Die Piste hat etwas, wird richtig schön. Später, hinter der Kapelle, hübsche Mini–Badebuchten für ein, zwei Leute, sie enden vor dem Steilhang. Dahinter die Ebene zu Füßen der Berge. Zurück im milden, versöhnenden Abendlicht.

Die Ruhe von Kássos genießen.

Copyright puchheim = MartinPUC, Juli 2003, September 2006