Von Alexandroúpoli nach Kavála
(26. Mai 2004)

Copyright puchheim = MartinPUC, 2004, 2007



Geschrieben aus der Erinnerung

AUFBRUCH

Wenn es ein nicht allzu übereilter Abschied vom östlichen Thrakien werden soll, musst du früh aufstehen, Martin.
So steht ein Morgenspaziergang im erwachenden Alexand(h)roúpoli auf dem spontan erstellten Programm. Er führt quer durch die südliche Stadt hinunter zu den Kafenía vor dem Hafen. Dann zum Fischmarkt, der bereits geöffnet hat, allerdings keine Spur von lebhaft, in dieser Morgenfrühe, aber immerhin ein Riesenangebot zur Schau stellt. Ich werde als einer der ersten Kunden begrüßt, die Enttäuschung wird rasch weggesteckt.

Pünktlich um neun startet der Überlandbus Richtung Saloníki, der auch in Xánthi und Kavála hält. Kostet nach Kavála € 10.60 ((Mai 2004)). Nach Komotiní gehen eigene Busse – darauf wird Wert gelegt. Komotiní ist noch nicht weit genug entfernt, nur etwa 50 km über die neue Autobahn, die Thessalonikiroute darf deshalb durch einen etwaigen Abstecher nach Kom. keine Verzögerung erleiden.

Zeit genug für eine Bougátsa(–Kréma, genau!) schräg gegenüber der Busstation. Ein kühler, atmosphäreloser Raum, dieses Lokal, kein Vergleich zu jenem in Kamariótissa Samothrákis (Genitiv).

Noch ein wenig herumsitzen, zusammen mit den Aufbrechern in alle möglichen Richtungen.
Wieder bin ich der allereinzigste Tourist am Busbahnhof, in– und ausländisch gesehen, unschwer zu peilen. Was ist nur los mit (Nord–)Griechenland – kommt denn niemand mehr?

Fast zwei Monate später lese ich Berichte vom unerwartet leeren Kreta im Juli (!) – wieder deutlich touristenärmer als die Jahre zuvor.
Hat das erreichte (olympische) Preisniveau die Leute in die Türkei vertrieben? 43 Prozent beträgt der dortige Anstieg der Besucherzahlen im Vergleich zum letzten Bemessungszeitraum. Schon eine aussagekräftige Ziffer, trotz der Rückgänge im Tükeitourismus wegen der Terroristengefahr und einer entsprechenden Aufholjagd von einem wesentlich niedrigeren Niveau aus. Bieten die jetzt immer NOCH mehr fürs Geld? Zumindest mehr Komfort für noch weniger Euro? Von den großen Reiseveranstaltern werden sie bestimmt genauso geknechtet wie die griechischen Hoteliers.

Wir federn also im modernen Überlandbus die westliche Uferstraße entlang durch Vororte. Hotels. Ein bisschen plastikhaft, künstlich, wirkt das schon. Eine große Uniklinik hügelwärts. Wieder der Anblick der Insel Samothráki. Die Berge zu meiner Rechten rücken merklich näher. Vorberge, Ausläufer des Hinterlandes, die bis zur Küste vordringen.

Etwa 7 oder 8 km hinter der Stadtgrenze weitet sich die Straße zu einem vierspurigen Expressway. Nach einigen weiteren Kilometern erreichen wir das dunkle Band der neuen Autobahn, die hier ihren Eroberungsfeldzug gen West fortsetzt – das Stück um Alex’poli herum ist wohl noch ausgespart. Ruhig und zügig geht es auf der verkehrsarmen Strecke sanft bergauf durch das grüne Vorgebirge. Eine morgendlich richtig verlassene Gegend ohne größere Siedlungen, kaum zu glauben!
Welch schöne Strände sich wohl im Südwesten hinter dem Bergland verstecken?

Fast zwanzig Kilometer geht es durch dieses Vorgebirge, bis wir hinuntergleiten in die große Ebene.
Ich traue meinen Augen nicht. So eine Großartigkeit der Landschaft, eine Art von Gepflegtheit wie in Mitteleuropa, habe ich hier nicht erwartet. Ein äußerst wohlorganisierter Landstrich, grün bis dorthinaus, überall Felder, kleine Dörfer und ein Bergblick auf die Rhodopen, der sich gewaschen hat. Wow!

Dicht vor dem Gebirgspanorama im Norden taucht von Ferne der erste Hinweis auf die Stadt Komotiní auf, ein Großkraftwerk mit gewaltigem Kühlturm.

Die Ebene in all ihrer Weite erinnert mich schließlich sogar an das Oberrheintal, an dessen Weitläufigkeit bei Baden–Baden, noch vor dem Schwarzwald, an irgendetwas in unseren Breiten.
Doch im Detail ergibt sich zugegebenermaßen ein anderes Bild. Ein fremdländisches, was die Siedlungen anbelangt, in erster Linie diese.
Zwar rauschen wir nur mit dem Bus vorbei, aber die schlanken, hochragenden Minarette in fast jedem Ort sind unübersehbar, die dazugehörigen Moscheenkuppeln, das offensichtliche Fehlen christlicher Gotteshäuser in den meisten Ortschaften – vielleicht sind sie einfach zu unscheinbar um aufzufallen.

Bis etwa Xánthi sollte es so weitergehen mit einer fast türkisch wirkenden Siedlungslandschaft. Offenen Auges betrachtet der Neuankömmling die für ihn so untypische griechisch–türkische Szenerie, während die Mitreisenden ihre Bücher hervorkramen, wissenschaftliche Fachbücher, Romane, die Zeitung. Oder ins Dösen verfallen, es sind noch Stunden bis Saloníki.

In mehreren Kilometern Abstand ziehen wir an Komotiní vorbei, seine Außenbezirke sind schon sichtbar, so wie die einfachen Dörfchen davor, eine typisch türkische Gemeinde mit ihren kleinen Höfen, dem Vieh, der Moschee direkt rechts der Autobahn. Strahlt nicht gerade Wohlstand aus.

Hinter der ersten großen Stadt kommen die Berge immer näher. Auch die Autobahn läuft ganz nahe an ihnen entlang. Wieder die vielen Dörfer mit Minaretten, es ist nicht zu fassen. Wo bin ich hier? Eine ganze Menge kleinerer Täler zerfranst die Rhodopenränder, in einer Enge, die das Lüften ihres Geheimnisses verbietet.

An einer Stelle ist die bulgarische Staatsgrenze nur mehr 15 km entfernt, Luftlinie – so schmal kann Griechenland sein. Das Bähnle ist noch viel näher, ganz nahe, weiterhin eingleisig und unbedeutend, diese Strecke, ganz nebenbei, halt auch vorhanden.
Es ist die Gegend, wo sich ein durch den schmalen Landriegel von Lágos (– nein, nicht Lágusch, nicht Algarve – Wirklich Nordgriechenland!) von der Vistonía–Bucht abgetrennter Binnensee (der Vistonídha–See) weit nach Norden vorschiebt, wegen der Flachheit des Landes vom Busfenster aus nicht zu erkennen. Wären wir doch die andere Strecke gefahren, über den Landriegel von Lágos!

Bald ist die Grenze der Nomí (Verwaltungsbezirke) „Rodhópi“ und „Xánthi“ überquert, sie teilt besagten großen Binnensee in zwei Hälften. Unser Busfahrer fragt über Lautsprecher, ob es Passagiere gibt, die in Xánthi aussteigen. Es gibt! So müssen wir die Autobahn verlassen und einen größeren „Umweg“ einschlagen.

Bis fast ins Zentrum der Stadt komme ich auf diese Weise. Eine moderne Stadt, wie es scheint. Keine großen Highlights ersichtlich.
Sehr schön anzusehen sind allerdings die Klöster über der Stadt, steil oben auf dem Fels über der Schlucht mit der Straße nach Dhráma.

Etwas mühsam und langwierig gestaltet sich die Ausfahrt nach Südwest. Ein Gewerbegebiet, dazwischen Hotels. Merkwürdig und uninteressant. Ein Touch von Norditalien.
Irgendwann sind wir wieder auf einer vierspurigen Schnellstraße, die sich rechtzeitig vor dem Néstosfluss zu einer schmalen Landstraße verengt.

Auf einmal, vor den Lastwägen, mehrere Wohnmobile. Aus D? Nein, es sind Italiener, die sozusagen im Konvoi fahren. Die haben sicher die Strände westlich und östlich der Vistonía–Bucht erlebt und geschätzt. Oder gar die Bergwälder im Norden?

Der Néstos. Bekannt für die Ursprünglichkeit, den Waldreichtum seines Oberlaufes. Hier unten muss er sich sein östliches Ufer sogar noch mit der Eisenbahnstrecke teilen, die ab diesem Flussknie einen Haken nach Nordwest einschlägt. Das Grün, die Dichte der Bäume fällt aber schon hier auf.
Der Néstos bildet auch eine würdige Grenze der Nomí „Xánthi“ und „Kavála“. Ab jetzt fühle ich mich also in Makedhonía.

Meine Blicke schweifen schon nach links, weg von den nahen Bergen, um vielleicht eine Ahnung vom Standort des Flughafens „Μέγας Αλέξανδρος“ (aha – wir sind tatsächlich in Makedonien!) 10 km südwestlich von Chrissoúpoli zu erhaschen. Es landet oder startet aber gerade nichts. Er ist aber nur 6 oder 7 km entfernt, der Airport, laut Karte. Wiederum nicht weit von der Küste, doch schon etwas weiter als der Δημόκριτος–Airport von Alexandhroúpoli.
Die Berge, die mir da drüben im Süden entgegenschimmern – die zieren bereits die Insel Thássos!

Kurverei über eine Ausfahrt auf eine andere Straße, dicht vor dem Bergsporn, der die große Ebene gegen die Stadt Kavála hin hermetisch abriegelt. Da hilft nur noch ein Tunnel.

Geht es nun ein Stück hoch oder hinunter? Die Erinnerung verlässt mich. Kavála schafft es jedenfalls im Nu, sich den Anschein einer Großstadt zu geben, wenn man seine Grenzen von Osten her überschreitet.


ANKUNFT IN KAVÁLA

Ein Häusermeer im libanesischen, ostmediterranen Stil, das meiste aus Beton, Stockwerk um Stockwerk übereinandergeschichtet, zieht sich die steilen Hänge des östlichen Stadthügels vor der eigentlichen Altstadt hinauf. Steile Gassen, teils Treppen, gliedern dieses Bergviertel. Ich denke zurück an ferne Tage auf Gran Canaria, als ich mir die Großstadt Las Palmas und deren Außenviertel nach und nach erschloss. Außenviertel von ähnlich abrupter Steilheit, mit ebenfalls einem Häusermeer, eher jedoch aus Favelas, Armenunterkünften bestehend.

Wir da unten umfahren eine Bucht hinter dem Panagía–Vorberg über dem Meer, dem Altstadthügel, und ich frage mich, wann wohl der Hafen kommt.

Durchqueren müssen mir aber erst noch die Gegend zwischen den Hügeln, am Meeresufer entlang. Da plötzlich eine Art Aquädukt, eine aus hohen steinernen Bögen gemauerte riesenhohe Wasserleitung! Aus byzantinischer Zeit. Nicht römisch. Wir fahren unten durch.

Auf der Koundourióti–Straße zu Füßen des Panajía–Hügels nähern wir uns langsam dem Hafenboulevard mit seinen vielen Kafenía und den beiden Hotels, dem großen Galaxy und dem kleinen und ziemlich schäbigen Acropolis, das ich dann doch nicht gewählt habe.
Ein Stück nördlich vom Busbahnhof hält der Bus an einem Park mit Parkplatz. Es soll schnell weiter nach Thessaloniki gehen.
Ich schleppe mein großes Gepäck rüber zur Busstation, nach kurzer Besichtigung dann weiter ums Karrée herum am Ufer entlang, bis ich an einer Wasserzapfstelle an der Ecke zum inneren Fischerhafenbecken pausiere. Bald fragen mich griechische Touristen, ob das Wasser trinkbar sei ... Es wird ein ganz schön warmer Tag. Ich sitze in der Nähe der Anlegestelle der Flying Dolphins.

Zum ersten größeren Ufercafé mit Markisen der „Hotelfront“ ist es nicht weit. Drinnen frage ich, ob ich in einer Ecke des schön hergerichteten z. T. Kartenspielsalons meine großen Sachen dalassen kann. Kaffeepause draußen auf weichem Polsterstuhl.

Dann die Besichtigung des Acropolis, das mir doch zu ungemütlich ist, das Besitzerpaar mit seinem Wohnzimmer in der Diele und dem aggressiven kleinen Hund strahlt Geiz aus – vielleicht auch nur Verbitterung, weil bisher nur ein einziges Zimmer belegt ist und kaum Gäste bleiben. 20 Euro ohne Dusche – das Zimmer behagt mir irgendwie nicht. Mit Dusche wollen sie 30 Euro, ein unschöner Einbau, dieser Klotz von alter Duschkabine, recht ungemütlich. Eine wirklich beklemmende Atmosphäre.
Ich rufe lieber die Nummer aus dem Lonely Planet an, „Jórgos Alvanós Rooms“ oben in der Altstadt südlich unterhalb des Kástro. Die haben Zimmer genug. Meinen, ich könne ja mit der bereiften Minibahn, die Touris herumkarrt, rauffahren.

Aber lieber geh ich zu Fuß, hol meine Sachen ab und wandere die Promenade entlang, ostwärts. Vor der großen Zufahrt zum Fährhafen, links liegt der kleine Park mit einem sehr netten Kafenío, im letzten Winkel dahinter die einzige auffindbare Schiffsagentur, „Nikos Miliádis“, besetzt von einer absolut netten, zuvorkommenden Frau mittleren Alters, biege ich im rechten Winkel nach links, vorbei an einem Bougátsa– etc. Ecklokal, nach 50 m drehe ich rechts rein in eine Nebenstraße, die sich weiter nach rechts hügelan windet, bald gerade wird, Souvenirläden linker Hand, bald die ersten Tavernen, eine neben der anderen, alle nur von Griechen frequentiert.

Rechter Hand breitet sich das fantastisch aussehende „Imaret“, die ehemalige ägyptische islamische Theologieschule mit ihren herrlichen Torbogen und den noch herrlicheren vielen, ganz ungewöhnlich geformten Kuppeln auf dem Dach ein gutes Stück Straße entlang aus. Der Gebäudekomplex soll auch ein gutes Restaurant beinhalten, nur schade, dass das nun alles für längere Zeit gesperrt ist, denn es wird kräftig restauriert, an allen Ecken.
Irgendwie kommt mir das Islamische Zentrum am linken Seineufer mitten in Paris in den Sinn, in dem ich mich so wohlgefühlt habe, mit den zwei guten Restaurants (unten im EG und ganz oben – nicht der mickrige „Self“!) und einem schönen Bazári im Flachbau gegenüber mit einer Ruheoase von Café, sogar einem Springbrunnen mittendrin, der mit seinem Plätschern das gestresste Großstadtgemüt beruhigt. Schade, dass das Islamische Zentrum von Kavála gerade geschlossen ist!

Nach den letzten Tavernen und Lädchen führt gegenüber dem Imaret steil eine Gasse hoch. An ihrem oberen Ende befindet sich ein kleiner Platz mit Bäumen, auch Parkplatz für ein paar Autos. An der Westseite ein Pandopolío, Lebensmittelgeschäft. Man dreht aber gleich nach links, ost– und dann nordostwärts, um den Beginn der Anthemíou–Gasse zu finden – nicht unmittelbar vorher noch weiter links gehen, wo es steil rauf zum Kástro geht! Vielmehr an einer Engstelle vorbei, bis sich die hier bereits erreichte Gasse wieder weitet und nach weiteren 2 min zum Haus mit dem EOT–Zeichen führt. Es ist ein prächtiges altes Traditionshaus mit netten, einfachen Zimmern, Holzgeruch und einem blitzblank geputzten Gemeinschaftsbad. Als ich die Fensterläden öffne, sehe ich einen Gutteil des grünen, bergigen nördlichen Thássos vor mir ausgebreitet. Fast greifbar nahe wirkt die Insel von meiner Warte aus.
Die 20 Euro für eine Ü finde ich in diesem Fall durchaus angemessen in einer Stadt, in der ein Hotelzimmer ansonsten deutlich teurer käme.

Befreit vom schweren Gepäck, bietet sich eine kleine Altstadterkundung an. Den steilen Treppenweg von meiner Unterkunft aus hoch, die stille Gasse nach rechts. Ein Platz mit Parkbank, dahinter ein Tor in der alten Stadtmauer, wenn man hinausgeht, eröffnet sich einem der Ausblick auf die nördlichen Viertel, auf andere Stadthügel, auf ein Stückchen Meer.
Zurück in den Bereich innerhalb der Mauern. Aus einem Garten bellt mich ein Schäferhund an. Rechts hoch Richtung Kástro. Türkische Laute dringen an mein Ohr, irgendwo da hinten, aus einem Wohnzimmer, und türkische Musik. Die Überreste einer ehemals prosperierenden türkischen Gemeinde?
Ich steige die Stufen zum Eingangstor des byzantinischen Kástros hoch, hab aber keine Lust Eintritt zu bezahlen und reinzugehen, obwohl die Rundumblicke von innen heraus verlockend wären. Eine Schulklasse mit sehr lebhaftem, von den Kindern geliebtem Lehrer trifft ein, stürzt die Treppe hoch, umringt mich, macht Fotos, verschwindet im Inneren des Burggartens.

Thássos gegen die Mittagssonne ist auch nicht ohne. Diesmal habe ich mir keine Zeit für einen Besuch dieser Insel reserviert.
Abstieg. Vorbei an dem Lebensmittelgeschäft, Richtung Südspitze zu. Aus einer der Gassen komme ich schließlich wieder auf die breitere Poulíd(h)ou–Straße hinunter, die weiterführt zur hoch über dem Felskap gelegenen Marienkirche mit ihren großen zentralen Kuppel. Auf dem Platz davor die Steinreihen eines mäßig großen, neu aussehenden „griechischen Freilichttheaters“. Beim Zurückgehen erkenne ich das Haus des Mechmet Ali in einer östlichen Seitengasse.
Hinunter zur mittleren Hafenpromenade geht es wieder auf demselben Weg. Bis vor zum Swimmingpool am Meeresufer und einem anschließend gelegenen Park schaffe ich es in der Hitze. Mir gegenüber die westlichen Hügel und Hänge der Stadt, die viel größer wirkt als etwa Alexandhroúpoli.
Da der Park den Nachmittag über geschlossen wird, werde ich von einem Offiziellen von meiner Bank aufgescheucht und gehe wieder den Sportbetrieb im Schwimmbad beobachten. Sehr ambitionierte Jugendliche trainieren hier für künftige Größe.

Laufend treffen die Thássosfähren ein, im Hafengelände gleich unterhalb des Panagía–Viertels, genau da, wo laut meinem Reiseführer die Fähren zu den anderen Ägäisinseln andocken sollen (– die docken jetzt 200 oder 300 m weiter hinten an).

Rast auf einer Bank in der Nachmittagssonne.


Aufzeichnungen vor Ort:

Nachmittag. Erst jetzt versprechen Wolken aus dem Norden der gleißenden Sonne ein Ende zu setzen.
Ein Zigeunerpaar, Mutter und kleine Tochter, dunkelbraune Haut, billig gekleidet, natürlich mit Kopftuch, eilt zielstrebig hinter meiner gelbblau gestrichenen Bank vorbei, das Mädchen streift mich ungeniert mit der Hand.
Die Palmenpromenade. Metallicgrün gespritzte Eisenkugeln wehren Autos von der zementierten Uferpromenade ab.
Linker Hand der Burgberg, das alte Türkenviertel mit dem Kástro, hinter dem ich „aussichtsreich“ wohne – Blick auf das große Thássos, das nahe.
Vier Stadtbusse im Mittagsschlaf aufgereiht hinter mir, weiß–blau (!). Stadtviertel im „libanesischen“ Stil kriechen mehrere Hügel hoch.
Ab und zu eine Fähre von Thássos ((den ganzen Tag)), meist die Thassos IV. Einmal ein Delfíni (Flying Dolphin).

Drei große Fischkutter am Kai. Einer davon ein Großkaiki: die Taxiárchis. Sie zeigt der Hafenmauer nur ihr Heck. Ein kleines Trittbrett mit Querleisten und 2 Rollen am landwärtigen Ende stellt die Verbindung zur Stadt her.
Liebespärchen schlendern vorbei. Gelegentlich ein alter Mann mit Kombolói. Ein Mopedfahrer. Ein Handy–Man.

Was für ein göttlicher Anblick, diese Taxiárchis! Sie ist herrlich lindgrün, pastellgrün lackiert. Auch das Beiboot am Heck des oberen Decks. Das obere Ende des Schiffsbauchs umgürtet eine rote, wulstige Leiste. Parallel dazu, in der Mitte des Rumpfes, läuft ein gelb lackierter Wulst.
Weiße Ballone hängen ringsum herab, schützen vor Kollisionen. Ein weißes Eisengestell strebt zum oberen Deck hoch, das einen Stapel von Fischkisten trägt. 2 Radars. 2 Funkantennen, schön symmetrisch. Eine dritte reckt sich gegen den Himmel.
Vom 1. Stock hängen links und rechts jeweils 2 große Lampen herunter, ebenso hinten am Heck – die Fische nachts anzulocken.
Ein roter Rettungsring ziert das obere Seitengeländer. Ganz am Heck das Riesennetz, schön gestapelt.
Am hinteren Mast weht vorsichtshalber die gelbe griechisch–orthodoxe Fahne mit dem schwarzen Doppelgreif.
Im unteren Stockwerk flicken 4 Fischer die Netze, jeder ein Baseballkäppi auf. Ein vierter, arabisch aussehender, sitzt regungslos auf einem weißen Plastikstuhl im Schatten.

Eine Gruppe alter griechischer, einfach gekleideter Ehepaare streift vorbei. Man sieht ihnen ihren bescheidenen Lebensstandard an. Ein Mütterlein mit kurzen, schiefen Beinen und kleiner, schmuddeliger Handtasche.

Die Taxiárchis wiegt die ganze Zeit sanft hin und her. Eine eigenartige, langsame Szenerie spielt sich auf ihr ab.
Backbords hängt die Wäsche. Beiges Hemd, beige Hose. Blaues Hemd. Eine grau–weiße lange (!) Unterhose. Mehrere grau–weiße U–Hemden.
Ein kleines Kaiki mit weißem Steuerhaus und dem „Kreuz“ auf dem Dach dümpelt munter neben dem Kutter, mit dem es vertäut ist. Der Rumpf ebenfalls lindgrün–pastell. Die Farbstreifen allerdings drei: rot – gelb – rot. Sein Bug blickt zu mir her.

Links im Hintergrund, hinter dem großen Zollgebäude, ein Stückchen Thássos. Die Sonne brennt auf meinen Armen. Ich rolle die Hemdärmel herunter. ENDE LIVEBERICHT.


Es folgt ein nachmittägliches köstliches Fischessen in der hintersten Taverne vor dem Tor zum Fährhafen. Leider nicht gerade billig. Ich werde die Tage darauf sparen müssen. Der Ober hatte mich gewarnt.

Hinauf zur Dusche, in die Pension. Dann Vorspazieren zur Landspitze hinter der Marienkirche, etwas unterhalb des gelben Schulhauses, wo noch immer Kinder Ball spielen, den Treppenweg hinunter, übers Meer blicken. Áthos und Thássos, Berge und eine Frühabendstimmung.

Hinunter zur Stadt, vorbei an einem/einer Ouzéri, noch ein Stück vor dem Imaret. Es wäre ein schöner Ort für einen beschaulichen Abend.
Unten bei der Ticketagentur Miliádhis das Ticket nach Samos kaufen. Kostet € 32.70 ((Mai 2004)). Es wird die Miléna kommen, wider Erwarten nicht die Rodánthi. Die Abfahrtszeit wird sich verschieben, aber um Genaues zu erfahren, soll ich bis 21 Uhr noch einmal vorbeischauen.
Schade, wenn das Schiff nicht gegen 06:00 Uhr morgens ablegt, wird sich die Ankunft in Vathí auf die frühen Morgenstunden des Folgetages verschieben. Und ich hatte so gehofft, wenigstens gegen Mitternacht dort anzukommen.
Auf einen Ouzo in das nahe Kafenío bei der Grünanlage hinter dem Kiosk. Etliches jüngeres Publikum hat sich hier bereits versammelt. Ich der Grufti. Drinnen sieht es aus wie in einem britischen Pub, viel dunkles Holz. Wie schön, dennoch, draußen unter Bäumen sitzen zu können.
Thássos–Touristen pilgern vorbei, zurückkehrende Tagesausflügler.
Es ist ganz nett hier, aber ich spüre einfach nicht die Stimmung des Südens, die mir so liegt. Ich vermisse die südliche Ägäis schon ziemlich.


Philosophischer Exkurs:

Warum bin ich hier? Warum nicht geflogen, von Alexandhroúpoli aus – nach Rhodos, oder Ostkreta?
Flugangst? Wie!? Ich Flugangst?
JIMMY (James) LEVINE hat Flugangst – das ist allgemein bekannt. Hat wohl deshalb seinen Vertrag bei den Münchner Philharmonikern nicht verlängert. Aha!?
Vollkommen anders als der Celi. Unser im Abschied begriffener, nicht so sehr geliebter James, der Amerikaner, der Schuberts „Neunte“ und Beethovens „Siebte“ so fürchterlich entstellt hat.
Was er heute (16.07.04) in der Probe abgeliefert hat (14:00 – 17:40 Uhr), war zumindest sehr beeindruckend, zum Teil sogar überwältigend. Das Lied von der Erde und die „2. Symphonie“ von Gustav Mahler. Jimmy’s weißes Handtuch über der Schulter bei den Proben ist längst aufgegeben, war einmal, ist längst Geschichte.
Stattdessen bringt man ihm jetzt große Becher voller ..... Kaffee??? Nein, Mineralwasser! Das Orchester hätte auch gerne was, bei 40 min Probeüberziehen, aber leider .......

Der halbe freigenommene Tag, einer meiner beeindruckendsten bisher, musikalisch gesehen, weil er mir, eigen (oder nicht besonders vorhanden) wie die Interpretation vielleicht war, Mahler dennoch wieder um Meilen nähergebracht hat. Ich bin eigentlich immer noch nicht hier bei meiner Reisebeschreibung, sondern in der Mahler–Welt. Wenn es auch ein Jimmy–Levine–Mahler war, durch und durch, es war dennoch der Wahnsinn. Das Orchester spielt inzwischen dermaßen perfekt, dass man fast explodieren möchte, es kaum mehr aushält.

Jascha Horenstein und sein international wenig bekanntes BBC Northern Symphony Orchestra sind besser beim Lied von der Erde – die Aufnahme vom April 1972 ist traumhaft schön. Otto Klemperer und Simon Rattle sind besser bei der „Zweiten“. Bruno Walter auf der digital zurechtgerückten (inzwischen:) SONY–Aufnahme aus der Carnegie Hall vom Februar 1958 sowieso – klingt jetzt wie erst vorgestern aufgenommen. Aber Jimmy war einfach gut, locker, alles andere als ernst, bis zur ablehnenden Verzweiflung, meinerseits. Und heraus kam eine gar nicht so üble „Deutung“ der beiden Werke, an der der herrliche Mezzosopran einer Anne–Sophie von Otter beträchtlichen Anteil hatte.
Meine Zweifel möchte ich jedoch anmelden, ob die älteren Orchesterrecken das astreine amerikanische Englisch des Herrn Levine wirklich verstehen, oder ob sie nicht doch fünf Jahre lang eher auf Verdacht gespielt haben und Jimmy „unverstanden“ blieb. Nur die Zahlen kennt er inzwischen, sodass er manchmal „Takt zwölf bis vierzehn“ oder Ähnliches zu sagen in der Lage ist.

Im Hintergrund, laut!, die Horenstein–Aufnahme. Zu meiner Rechten der Olympic–Flugplan neben der Maus.

Tags darauf. Heute, Samstag, ist das Konzert, das letzte Programm des Amerikaners, bevor er in wenigen Tagen nach New York City und Philadelphia zurückgeht.

Sonntag: Auch das Konzert war beeindruckend, besonders Das Lied von der Erde. Anne–Sophie von Otter und Johan Botha so großartige Sänger. In der 2. Symphonie etwas viel Donner und Getös. Virtuosität, aber stellenweise wenig Herz, wegen fehlender Dirigentenanweisungen, kein Wunder bei nur zwei bis maximal vier Proben. Aber die leisen Stellen meist wunderbar. Die ostasiatischen Klänge des „ Liedes“ so unter die Haut gehend.

Ende des Exkurses.


Werde ich um vier aufstehen müssen, wie eigentlich erhofft, oder (leider!) später? Bei „früh“ käme der Lohn abends, in Form einer noch sozialen Ankunftszeit auf dem fernen Samos, auch viel wert.
Entlangschlendern an der inzwischen vertrauten mittleren Hafenfront, vor den vielen Cafés und Kafenía. Niemand Ansprechbarer, kein Mittourist in Sicht. Früh am Abend dünnt die Besucherschaft auf den Stühlen im Freien aus. Nach 21 Uhr frage ich noch einmal bei der sehr sympathischen Frau nach der Ankunft der Miléna. Sie wird erst so gegen Viertel vor acht ankommen. Hätte eigentlich um 05:30 Uhr auslaufen sollen. Na Mahlzeit!
Darauf ein Bier, und bald ab ins Bett, aber erst nach einem Spaziergang durch die ausgestorbenen Altstadtgassen.

Der nächste Morgen sieht mich eher aufstehen als nötig. Die leichte Nervosität vor jeder Schiffspassage. Vielleicht kommt die Miléna wider Erwarten doch eher in Kavála an?

Schon um halb sieben sitze ich unten, etwa 250 m vom Hafeneinlass entfernt, Bougátsa konsumierend, vor dem Ecklokälchen.
Der große Rucksack sitzt stellvertretend für mich auf einem der Kafenío–Stühle unter den Bäumen, als einziger Gast – es ist noch zu.

Gegen halb acht setze ich mich Richtung Anlegestelle in Bewegung, parke das Gepäck auf der langen, umlaufenden Sitzbank des Wartehäuschens gleich hinter den Einlass–Gates. Es warten schon viele. Einige aus der Menge sind aber Thássos–bound. Um acht herum taucht ein Schiffsbug draußen vor der Kaimauer auf. Es ist die Miléna mit ihren beiden seitlich hinten angebrachten Schornsteinen. Der alte Pott. Der Ladevorgang dauert.
Erst kurz vor neun stechen wir in See. Endlich!

Copyright puchheim = MartinPUC 2004, 2007