Saisonende in Keratókambos/Kastrí
Copyright puchheim = MartinPUC, Dezember 2004, September 2006


Meinen schwarzen Schweizer Rucksack habe ich gegen eine der Eisenrohrstützen der nicht aufgespannten Tavernenterrassen–Canvasbedachung gelehnt. Nebenan unterhalten sich zwei einheimische Fischer, in lockerer Pose, die nahe Bank wird mit einbezogen in ihren Diskurs. Der Nachmittag still, kein Lüftchen streichelt die Haut, verborgene Sonnenstrahlen, über den Kronen der Salztropfbäume brennend, Schatten, Ruhe, allein bin ich zurückgeblieben, abwartend. Es ist noch Zeit.

Wie die Einleitung zu einer Oper, eine Ouvertüre, oder ein Vorspiel, nicht dramatisch, gar nicht süßlich, vielmehr sehr lyrisch, doch ohne Töne, notenlos, ohne Vogelstimmen, aber man weiß nicht, was kommen wird. Nichts Aufdringliches, sich Aufdrängendes – tiefe Entspannung, Besinnlichkeit. Eine Kirche, Kapelle eher, querab im Rücken, der Gottesdienst vielleicht einmal die Woche, höchstens, Ostern weit.

In meiner Taverne ist Leben, Leben der Familie, die Großmutter als stiller Höhepunkt draußen in der Ecke vor dem Eingang ausruhend, wartend, betrachtend, Enkelkinder nicht zu sehen. Ob es sie gibt? Nur EINE Hilfe, Albanerin wohl, oder Slawin.
Sie steht ihre Frau und bedient mich als einzigen Gast, bis Autopassanten sich entschließen einen Halt einzulegen in dieser friedvollen Idylle. Die Ruhe überträgt sich sogleich auf sie, wie auf die nächsten Rastenden, die altbekannte Stille, die griechische, unter den Tamarisken in einem dieser abgelegenen Orte, kein anderer Baum würde diese unmittelbare Nähe zur abgeebbten afrikanischen Brandung ertragen.
Es gibt wohl Menschen, die nicht unterscheiden können, nicht wahrnehmen wollen, vielleicht keine Chance dazu bekommen, einen Unterschied wie diesen, zu all ihren Pauschalsituationen, den Unmengen dort, dem Lauten, dem Vollen.

Eine Oktoberstille wie das ganze Jahr über sonntags früh an der Westspitze von Föhr, oder auf dem Lister Bogen von Sylt, zur Zeit der Morgenmesse – oder auf höchster Bergeshöh auf einem österreichischen oder Schweizer oder auf irgendeinem Gipfel.

Mein Festmahl wird mir gebracht, die Jajá, die Oma, hat es persönlich gezaubert, ihre Liebe zum Kochen schmecke ich aus jedem Bissen heraus. Das Kounéli (Kaninchen) ist so köstlich, dass ich es zunächst nicht glauben mag. Dazu die ersten Wildkräuter als Gemüse, "Chórta", so bekömmlich wie nie, denn so eine ausgefallene, reichhaltige Mischung ist mir neu, dazu die besten gekochten Patátes. Eben ein wirklich gutes Gedicht – du schlingst es in dich hinein, ein langer Traum greift nach dir, und du vergisst für eine Weile alles Bisherige.

Nun muss ich aber gehen. Hinter der bekannten Luxusunterkunft, jetzt leblos, 150 m vor der Grenze zu Kastrí, liegt meine nicht minder schöne Bleibe, noch in Tschäratókambos. Dahin zieht es mich ein zweites Mal. Der alte Herr, ein echter Kírios/Tschírios, äußerst hilfsbereit, höflich, durch und durch gesittet, mit den besten Manieren, erkennt mich wieder, und auch seine Frau erinnert sich.
Ich hab keine Skrupel, der etwas muffigen, immer recht verhärmt dreinschauenden, für die Zimmer im ersten Stock zuständigen Frau im "Kriti" bereits das zweite Mal nicht mehr die Ehre zu erweisen, obwohl ihr Mann gestorben ist. Wie nett dagegen Maria und Jórgos, die die Taverne betreiben.

Herr Doriákis/Doriátschis, im anderen, östlichen Teilort ist Fremden gegenüber eine Seele von Mensch, man möchte nicht glauben, welch hohes Alter er inzwischen erreicht hat. Ich wünsche ihm noch viele Jahre. Gerne hätte ich wieder das kleine Appartement ganz oben, das mit der riesigen Dachterrasse und den unbeschreiblichen Ausblicken, trotz Sonnenkollektoren, Verdrahtungen, Satellitenschüssel. Die Schlüsselsuche gestaltet sich nicht mehr so problematisch wie letztes Mal, als ich erst ausgiebig mit Freunden gefeiert, dann gegen Mitternacht anrückte, viel zu spät.

All die Schlüssel von Herrn Doriákis sind letztlich vergeblich (einer sperrt am Ende wirklich die Tür auf), denn diesmal haut es einfach mit dem "Rheuma" nicht hin (aua, sagt mein verstorbener, leidgeprüfter Vater im Einklang mit allen Rheumatikern dieser Welt), dem ρεύμα, und ohne Strom ist jeder aufgeschmissen, besonders nachts – trotz meiner megastarken Taschenlampe, die es gut drei ganze Nächte ausgehalten hätte.
Dabei habe ich zusammen mit dem alten Mann einiges bewegt, den vorderen Raum ausgeräumt, den großen Plastiktisch hinausgehievt auf die Terrasse, ganz sachte, das Zubehör drauf, Gerätschaften, Stühle, ganz sigá. Alles wieder zurück, ebenfalls sigá, mit zahlreichen behutsam erteilten Kommandos und Anweisungen und Ratschlägen des weisen, bemühten netten Gastgebers.

Man einigt sich auf das größere Appartement einen Stock tiefer, das von Marianna und Fritz, wenn man so will, den geschätzten Bekannten, wohl mehrfach bewohnte, hinten raus in die Kräuter, zur Hügelseite, mit schöner überdachter Terrasse seinerseits, die Dachterrasse eine Außentreppe höher oben stellt die kostenlose Dreingabe dar – so lässt es sich urlauben.

Auf der genauso großen Terrasse gegenüber meiner lizensierten ganz oben, ist mir ein in stoischer Gelassenheit sich sonnender Herr aufgefallen – wahrscheinlich Italiener – denkste!.
Er sollte sich als waschechter, sympathischer Bayer entpuppen, noch dazu aus der weiteren Münchner Gegend.

Der Abend mag anbrechen, ich fühle mich ganz unbeschwert. Ein ausgedehnter Uferspaziergang ist dringend geboten, zur generellen Orientierung, was sich alles verändert hat, seit dem letzten Besuch, seit dem ersten gar, im eiskalt gefühlten März.

Kastrí vor allem, der westliche der beiden Ortsteile, zieht sich in die Länge. Erst ein Höflichkeitsbier in der Taverne Kríti und Begrüßung der Familie; wo ich denn all die Jahre gewesen sei? Sie wirken gesünder, heiler geblieben als das letzte Mal, dass ich sie gesehen habe, ziemlich erschöpft und gezeichnet waren sie damals.
Ein eingemieteter deutscher Dauergast wird von Jorgo verköstigt, es sieht so aus, als ob sie sich ihr Abendessen teilten.

Ein netter, sehr kritischer, sehr kretischer Kerl, der Jórgos, mit scharf formulierten politischen Fragen, auch zum Umgang der Deutschen mit ihren Asylanten, soeben sei ein diesbezüglicher Skandal im Fernsehen aufgezeigt worden. Ob wir sie alle auf einmal wegschicken wollten, in ihr Verderben? Ob uns ihr Schicksal tatsächlich völlig gleichgültig sei(, ob wir Menschen seien)? Das Eingeklammerte spricht er nicht aus.
Ich deute an, dass es halt inzwischen einfach zu viele geworden seien, es nicht immer so weitergehen könne angesichts unserer finanziellen Lage. Was haben wir uns im Rahmen der Weltwirtschaft nicht alles zuschulden kommen lassen, denke ich bei mir, zu unserem Vorteil ......

Ein schwüler Abendspaziergang. An der Taverne "Morgenstern" drücke ich mich vorbei, kann mich die paar Tage nicht spalten, hab genug Verpflichtungen. Den Moútzo seh ich gar nicht, all die Tage, er soll sich sehr verändert haben, sagt man mir.

Einige hübsch neu aussehende Häuser mit Fremdenzimmern markieren den Weg am Meer entlang nach West zum großen Supermarkt mit der OTE–Telefonkabine davor. Eine Familie mit behindertem Sohn im Rollstuhl sitzt in einem der Häuser am Tisch.

Hinter dem Supermarkt beginnt die freie Strecke, einige hundert Meter ohne Bebauung. Vereinzelte Bauernraser.

Nun kommt die Fischtaverne, bei der Straßengabelung zum neuen Hafen, dem gut ausgebauten mit hohen Kaimauern, mit einer Fischer– und Pivatbootflotte. Ist dennoch vergleichsweise nichts gegen den großen Fischereistützpunkt Ierápetra.
Die Straße spaltet sich lediglich in zwei parallel laufende, durch Tamarisken getrennte Streckenarme, der eine höher, der andere tiefer verlaufend.

Auch die altbekannte Pension Kastrí gibt es noch, die Kinder führen sie weiter, es sind auch Gäste da; die zugehörige Taverne unten hat allerdings dichtgemacht; seit dem tragischen Tod des Besitzers, Manólis Somarákis, ging es wohl bergab.

Das winzige Kafenío der freundlich älteren Dame ist auch noch da, schön! Etwa 50 m weiter noch eine Taverne (mit einem Frauennamen), ein paar ältere Männer sitzen draußen, bestaunen mich diskret.
Bis zur schmucklosen Kirche am westlichen Dorfrand gehe ich, kehre dort um.

An meinem ersten Abend verteilen sich die Gäste auf den überdachten Uferterrassen des "Kriti" und des "Morgenstern", die direkt aneinandergrenzen, zunächst etwa zu gleichen Teilen. Es sind noch vielleicht 15 Paare da, die meisten mit ihren Sprösslingen. Nicht zu vergessen die gelegentlich hinzukommenden neuen Häuslebesitzer des Neubauortes für deutschsprachige Zungen nordwestlich von Kastrí, oben auf einem Hügel. Dort scheint jetzt alles, sogar die Wasserversorgung, zu funktionieren.

Wenn ich ganz ehrlich bin, gefällt es mir in den hinteren Ufertavernen von Keratókambos von der friedvollen Atmosphäre und der Ästhetik her inzwischen besser als im Zentrum des Geschehens von Kastrí, wo die Hauptstraße einmündet, wenn ich auch nur die erste Taverne von Keratákambos, das "Livikó", richtig essensmäßig ausprobiert habe.
Denn das "Níkitas" machte tagsüber immer einen geschlossenen Eindruck, gegen Abend entwickelte es sich zu einem Kafenío für eine (einzige) Tischrunde Einheimischer – sooo spät im Jahr, der Standardspruch. Dabei soll dort die Küche hervorragend, die allerbeste sein, wie mir Freunde versichern.
Aber weiter vorne, in Kastrí, wird man eben so nett und herzlich bedient, und das zieht die Leute natürlich an – und Fisch haben die auch immer zu bieten.
Jeden Tag werden noch ein paar Pfund frisch gefangen, direkt von den Tavernenbesitzern.
Selten so gute, so extrem frische Fische gegessen, das waschmittelweiße Fleisch, gebraten, die glänzenden Augen, in ungebratenem Zustand!, wie hier bei Jórgo im "Kríti", zu einem sehr (sehr) fairen Preis. Ich verstehe die Familien gut, die sich hier wohlfühlen.

P&A werden ja frühestens übermorgen zurückkommen von einem Besuch an der Nordküste, so bleiben mir abendliche, nächtliche und morgendliche Ausblicke übers Meer und zurück ins Land, auf die Anhöhen einer abgelegenen, stillen, erholsamen Gegend ganz im Südosten der Provinz Iráklio.

Diese Dachterrasse – wie ich sie liebe! Ein kleiner Tisch, ein einziger Stuhl wurden mir gelassen, aus dem Appartement–Innenraum da oben. Reicht auch, ich nutze sie gerne. Wer immer sich einmal entspannen und richtig erholen möchte: genau hier seid ihr richtig.

Anderntags, frühmorgens, verhilft mir meine Terrasse, zu der ich, an der erwartungsvollen Katzenparade vor meiner Appartementtür vorbei (– etwa ein Nicht–Kochender!? – Nicht einmal ein Miau haben sie für so einen übrig –) hochgestiegen bin, zu ungeahnten Einsichten. Ein echter Morgenbus der Gemeinde Viánnos kommt die geteerte Kurvenstrecke von Áno Viánnos über Káto V. und Chóndros herunter, so um halb acht rum, die Schulkinder aufzusammeln. Den könnte man also besteigen, mit hochfahren. Am frühen Nachmittag, je nach Schulschluss, sehe ich ihn wieder hier unten. Erst fragen, dann fahren!

Eine Wanderung die Straße lang, weit über die westliche Dorfgrenze hinaus. An jenem Morgen sausen die Bauernlaster in kurzen Abständen an mir vorüber – zur Arbeit, bereits von der Arbeit zurück? Verkehr in beide Richtungen. Man wundert sich.
Als Erstes war mir der Besitzer des "Morgenstern" aufgefallen, der zu seinen Hühnerställen ausrückte, mit Essensresten, sie die paar Meter von der Straße den Hang hinaufschleppte, arbeitsam wie immer. Ein hartes Leben haben sie hier, und wenig Schlaf, ganz gleich, wie ihr jeweiliger Charakter sein mag. Frische Eier für alle Gäste. Frischen Fisch.

Die Sonne im Rücken, gehe ich Kurven aus. An einer Hausbaustelle klopfen sie schon eifrig, die braven Albaner. Das Gehöft mit den Treibhäusern. Um den Felsbrocken herum, in einigem Abstand. Unten respektable Strände, nicht wirklich nötig, in Abseitslage. Oben, nördlich, die Hügel. Die Siedlung der Häuserkäufer mit ihren Prachtautos, der eine oder andere Riesenjeep, weit oben. Stichstraßen, eher Feldwege.

Eine letzte enge, steile Kurve führt zum ersten großen straßennahen Strand hinunter, mit den Unterkünften gegenüber. Einen Blick erhascht hab ich zumindest, bis vor in die Gegend von Dérmatos. Das alles weiter zu Fuß zu gehen, bis Tsoútsouros, hab ich heute keine Lust. Früher schon zweimal gemacht.

Here comes the sun (king), fast gerade ins Gesicht. Frühstück bei Tiffany? – zu posch, lieber im Livikó, den Wellen lauschen.
Etwas herumtrödeln, ein wenig einkaufen. Den Kühlschrank wenigstens ein bisschen bestücken. Was für eine Prachtküche ich hätte; an alles ist gedacht, sogar einige Plastikbeutel fürs Picknick liegen bereit. Wäsche waschen, die Leinen draußen, vor der Geländekante gleich an der bergseitigen Begrenzungsmauer meiner unteren Terrasse.
Eine ältere Griechin, die im ersten Stock mit Türschild permanent zu wohnen scheint, guckt ganz auffällig raus, als ich vorbeigehe. Von nun an stehen wir auf Grußfuß.

Irgendwie ist es hier doch viel schöner als in den total neu gebauten Studios an der Ausfallstraße bergauf. Das Doriákishaus hat viel Atmosphäre, ich meine das alte, nicht das neue gegenüber, in dem die Eigner selber unten wohnen.
Und eine alte Schulbank hat es auch, die einem die paar Stufen oberhalb des Hausaufgangs gleich einen kleinen Schrecken einjagt – hoffentlich keine Wiedergeburt, wieder jahrelang Schule, werden einige sagen?! Unter verschärften Pisa–Bedingungen noch dazu.

Schnell einen Kafedáki beim Jórgo, dann zieht es mich den Berg hoch, einfach die Straße rauf. Muss es gerade Mittag sein? Was soll's. Hitze bin ich inzwischen gewohnt, da ist es mir schon egal, ob bergauf oder ganz eben, jeweils in praller Sonne. Schwitzen ist so gesund, und wann schwitze ich je so ausdauernd? Einige Daumenversuche beim Annähern von Autos schlagen fehl, dann geh ich eben die ganze Strecke bis Chóndros. Ich hab Zeit und mir gefallen die immer neuen Aussichten, und nachdenken lässt es sich auch gut, beim meditativen Bergaufwandern auf wenig befahrenen Kurven.

Wer jetzt meint "warum bist du nicht in der Sfakiá geblieben? Da hättest du kleine Wanderpfade und alte Maultierwege zuhauf gehabt!", der irrt, der kennt mich nicht. Ich hab mir K&K plus Chóndros eingebildet und den Traum Realität werden lassen – schon vor Wochen. Die Sfakiá wäre mir geradezu langweilig geworden, nachdem ich diesen Plan gefasst hatte. Gerne hätte ich mich einmal länger mit der Schriftstellerin unterhalten, bewusst oder unbewusst auch Sprachkünstlerin, die mich wiederholt so begeistert hat. Aber das Schicksal wollte es nicht, wie ich kurz darauf erfahren sollte.

Sind schon etwa 8 km, von Keratókambos nach Chóndros, da weiß man, was man hinter sich gebracht hat, wenn man, an einer über ihrem Essen schmatzenden Großfamilie vorbei, in den südlichen Ortsteil einläuft.
An der Rechtskurve frage ich die beiden alten Frauen vor einem kafenioverdächtigen Gebäude nach dem Haus von E.&E., das ich vor Jahren schon einmal von außen sehen durfte, unrenoviert, wie es sich darbot. Nein, kein Kafenío, meinen sie, und das gesuchte Haus liege viel weiter weg – im anderen, nördlichen Ortsteil! Das Kafenío einer mittelalterlichen Frau bei der Kirche wird gerade geschlossen, Mittagspause. Da schwant mir schon, dass ich die nächste Zeit ohne Getränk auskommen werden muss.

Chóndros hat mir schon immer gut gefallen, mit seinem Straßen– und Gassengewirr, auch diesmal bin ich begeistert. Immer habe ich diesem Ort eine spirituell wirksame Qualität zugeschrieben, eine richtige Ausstrahlung, für mein Empfinden.
Mitten im Dorf, die schmale Durchfahrtsstraße ist ein kleines Stück gerade, biege ich bei einem Haus mit Baustelle im ersten Stock rechts in eine wirklich schmale Gasse ein, denn hier sehe ich einen Kühlschrank mit Getränken und Kafenío–Stühlen locken. Aber alles ist dicht – wie schade. In den Dörfern weg vom Tourismus gibt es eine lange Mittagsruhe, ich wusste es schon. Eine Runde dreh ich durch die hinteren Teile des Dorfes, sehr hübsche Häuser, einige mit imposanten Durchgängen und Innenhöfen, bis ich wieder zu dem Enge–Gasse–Kafenío gelange, wo ich mich auf einen der Stühle fallen lasse. Verführerisch, verlockend, die eingesperrten Amstelflaschen! Egal, ob Mythos fehlt oder nicht. Mir läuft das Wasser im ansonsten ausgetrockneten Mund spärlich zusammen. Wie es schaffen, den Wirt, aus seiner Mittagsruhe aufzustören?

Während ich so nachsinne, schaltet ein paar Meter weiter, an der Durchgangsstraße, jemand blitzschnell. Wie ist es nur möglich, dass ein, wenn auch langsam, Auto fahrender Mensch nebenbei in eine nur knapp 2 m breite Seitengasse zwischen zwei Häuserecken blickt und dabei sofort einen apathisch vor sich hindösenden Bekannten wahrnimmt?! Ein Mensch mit Wohnanhänger noch dazu, ein gerade in Chóndros aufs höchste geforderter! Kreta beruhigt eben, stärkt Nerven und Konzentrationsfähigkeit, verleiht Vorahnung und Erkenntnis. Anders ist es nicht zu erklären. Qualitäten, die man auf der Insel wahrscheinlich zum Überleben benötigt.

Da steht es nun, das Gespann, blockiert alles. Fenster runter. "Hallo Martin!"

Ich darf einsteigen, vergesse vor lauter Überraschung meine weiteren Erkundungsvorhaben, die nördliche Ortshälfte und ein mögliches spontanes Treffen mit dem Autorenpaar.
P. beruhigt mich, A. sowieso, mit ihrer stets beruhigenden Art. They're both off to Germany. Sauber!

Wir verabreden uns, in Kastrí angekommen, für den Abend, und nach einer Ruhepause geht es erst einmal hinter zu einem der östlichen Strände. Ein wunderschönes spätnachmittägliches Bad nehmen, kurz vor der großen Düne, die den Hang bedeckt. Weit außerhalb der Siedlung, herrlich der Rückblick auf den Ort und die nahen und ferneren Berge, bis zum Asteroússiagebirge im Westen. O fortunato, fortunato Ulisse! Das Glück bis zu seiner Neige versuchen? Nicht zu weit gehen! Das Glück ist gefährlich, es macht blind und stürzt einen ins Gegenteil, wie die Alten wussten.
Ein richtig hübscher, ausgedehnter Sandstrand, da hinten.

Dusche. Ich komme zu spät zum Treffen im Privathaus. X. kommt auch, mein "Italiener" von der Nachbarterrasse.
Ein netter, unterhaltsamer Abend, es wird spät. Neuigkeiten, Sorgen, Erlebnisse.
Interessant für alle: die Autos sind inzwischen in GR wesentlich billiger zu bekommen als bei uns zu Hause. Früher war es umgekehrt. Man spart bei einem japanischen Mittelklassewagen bis zu 5.000 Euro, wenn man ihn in Hellas und nicht bei uns ersteht (!).
Ein Geruch nach – pardon – Hühnerdreck stört mich. Der Nachbar hat seinen kriminell kleinen, beengten Hühnerstall direkt an den Zaun gebaut, kümmert sich nie um Entleerung der Hinterlassenschaften des Federviehs. Na Mahlzeit. Ein unbeschreiblicher Gestank an diesen schwülen Abenden. Die ganze Nachbarschaft muss darunter leiden.
Mir dämmert, warum sich so viele zugezogene Ausländer an den äußersten Ortsrändern niederlassen, oder ein Stückchen oder gar weit außerhalb der Ortschaften – vielleicht um einfach ungestört sein. Aber alles in allem gehören meine Sympathien denen, die sich dem Dorfleben in ihrer neuen Wahlheimat aussetzen, nicht an die Ränder flüchten – es sei denn, es hat sich halt zufällig so ergeben.

Die zweite Nacht in den Studios Doriákis, und sie beginnt mit einer abschließenden meditativen Sitzung auf der großen Dachterrasse, bevor ich mich in mein kleines Studio zurückziehe.
Der dritte Tag. Als Erstes zieht es mich wieder auf die Dachterrasse, den Rundblick über Meer und Land voll auszukosten.
Vorbei an den wartenden Katzen – auch heute keine Küchenreste, auch keine übrig gebliebenen Fische parat, ich Schuft, nicht wie am Vortag, als sich eine von mir ausgesuchte schäbige, krank aussehende, auf einer schmalen Bank dösende arme Katze am Ortsende so gewundert hat, einen gebratenen Fisch vor die Nase gelegt zu bekommen, dass sie sich kaum aufzuwachen traute, um mit der Beute davonzustürzen in ein sicheres Versteck.

X., mein Terrassen–Gegenüber, meint, diese gezackte Felsengruppe weit oben über dem Dorf habe es ihm angetan, er liebe es, da raufzugehen, die Abzweigung nach West von der Teerstraße schon gut außerhalb von und über Kastrí.

Frühstück im Livikó, wie erprobt. Die Ruhe unter den Bäumen.
Zwei Frauen mit Tourenfahrrädern tauchen auf, nehmen Platz. Ich frage , ob es nicht mühsam gewesen sei, hierher zu kommen, per Fahrrad? – Nein, meinen sie, die Route hätten sie gut geplant, es ginge weiter Richtung Ost, Árvi, dann Mírtos, jetzt sei der Osten dran.

Dermaßen motiviert, wende ich mich auf einen Ortsspaziergang nach West, hab ich doch kein Fahrrad hier, obwohl ich es gerne hätte, wenn ich ehrlich bin, als alter Radlerfreak, ADFC–Mitglied.
Wie weit ich, mit meinen trainierten Wadeln (= Waden), doch radelnd käme, selbst auf dem gebirgigen Kríti! Statt mich nach kooperativen Autofahrern umzusehen, für gewisse Strecken, sollte ich das nächste Mal vielleicht auf ein Mountainbike setzen (?!).

Was sagen da die Autovermieter? Was die bekannten Websites mit ihrer ausschließlichen Auto–Werbung? Eine echte Lücke, Freunde, aber auch berufsmäßige Verzögerer.
So wenig Ideen habt ihr, dass ihr kaum je einen Fahrradverleih empfohlen habt. Man setzt auf Bewährtes, geht sozusagen nicht über Schuhgröße 42 hinaus, obwohl die nachwachsenden jungen Leute inzwischen bei Größe 48 angelangt sind! Wüsstet ihr, was mit Mountainbikes zu verdienen ist, käme es vielleicht zu einem Umdenkungsprozess, der in Resultaten enden würde. Wie lästig es doch ist, sein eigenes Bike (in diesem Fall: Fahrrad, nicht Motor–Hobel!) plus großem Gepäck zum Flughafen zu schaffen, für Condor oder LTU zu verpacken, einmal gelandet dann wieder auszupacken und zurechtzubiegen, die Verpackung zu entsorgen. Gibt es denn niemand, der einem das erspart? Muss ich in Großhotels gehen, um dort um ein gutes, ja tadelloses Fahrrad zu bitten?
Kreta ist bestimmt kein Radler–Land, aber wenn die Leute es so wollen .....

Beim Hafen angelangt, steuere ich auf das kleine Kafenío neben den Zimmern "Kastrí" zu, die wenigen Tischchen über dem Hafen, von wo sich eine deutsche Familie gerade aufmacht, ihre Tagestour zu absolvieren.
Drinnen bestelle ich meinen griechischen Kaffee, die Frau nickt freundlich, sie hat seit jeher einen sehr souveränen, zuvorkommenden, besonders gelassenen Eindruck auf mich gemacht.

Platz nehme ich draußen, erst allein. Kaum sitze ich, nähern sich nach und nach Familienmitglieder. Zunächst ein älterer Herr, der mit einem angekommenen Bekannten verhandelt, was aus dem Haus bringen will, ihn lange in seinem Agrotikó warten lässt, ungeachtet des nur auf einem Instrument gespielten Hupkonzerts, Hupsolos eines Aufgebrachten.
Das Agrotikó rangiert gelangweilt herum, leicht beleidigt, erst zur Hafenmauer hin, dann wieder zurück, parkt schließlich in meiner Nähe.

Einer dieser unscheinbaren Plätze, die ich spontan liebe, schon beim ersten Mal geliebt habe. Die paar Meter haben was, ein atmosphärischer Hot Spot. Die Erdkruste, das Weltgeschehen, mag darüberdriften, das Atmosphärische verweilt, bleibt da.

Auf einmal steht die Witwe des Herrn Somaráki unter einem der Bäume, stellt ruhig ein paar Fragen. Ich gebe mich als Münchner zu erkennen, der vor langer Zeit erstmals im kalten Frühjahr erschien, das erste Tavernenessen zusammen mit einigen anderen Gästen bei ihnen zu genießen, als ihr Gatte noch am Leben war – aufgetaute Fabrik–Biftékia (Gefrierbuletten, tiefgefrorene Fleischpflanzerl, bzw. österreichisch –laberln) waren es damals zu meiner Enttäuschung, eine Notverköstigung, im kalten Winter, Ende März oder die ersten Apriltage, Patátes und Choriátiki Saláta dazu. Damals hatte man sich im Somarákis–Clan über soeben angekommene Fahrradfahrer gewundert, perfekt Griechisch sprechende alte Bekannte aus Deutschland, die vom Kazantzákis–Flughafen her die ganze Strecke als Pedalritter bewältigt hatten – apó Iráklio me to podhílato!, hieß es damals verwundert und leicht abschätzig.

Zimmer hätten sie noch, die Taverne jedoch sei zu. Da kommt auch der ältere Herr von vorhin wieder aus dem Haus heraus, erledigt sein Geschäft mit dem Bekannten, stellt sich dazu, mir gegenüber, hört zu.
Ob es denn in München die "Bäcker" noch gebe, die "foúrnous"? ––– Meint er Großbäckereien? Oder meint er vielleicht "Öfen" – Ach! "Dachau?", frage ich. Ja, Dachau. Ob es dort die Öfen noch gebe.
Sinnlos, ihm klarzumachen, dass Dachau zur Nazizeit kein Vernichtungslager war wie etwa Auschwitz – Birkenau, das mich bei meinem Besuch noch viel stärker erschüttert hat als das KZ–Museum in Dachau. Es gibt sie noch als Gedenkstätte, als Denkmal, gebe ich zur Antwort. Ich glaube mich zu erinnern, diese seine Frage vor Jahren schon einmal gestellt bekommen zu haben.
Fakt ist, dass dieser kretische Landstrich im Krieg sehr unter den Deutschen zu leiden hatte und so manche Familie von ihnen (fast) ausgelöscht wurde. Wen wundert es, dass die Überlebenden nachfragen? Der ältere Herr hatte damals noch das Alter, unter zwölf (!), das ihn vor der Füsilierung, Erschießung bewahrte. Wir sagen zwar, wir hätten damit nichts zu tun gehabt, aber wir haben es sehr wohl immer noch. Kann sein, dass man so nur mit Deutschen und Österreichern redet, die es auf Griechisch versuchen, denen man sich offenbaren will, nichts ahnende Touristen dagegen verschont.

Es bleibt trotzdem eine entspannte Atmosphäre, denn die persönlichen Kriegserinnerungen meines Gegenübers betreffen und treffen mich nicht sehr tief. Die Frau vom Kafenío macht ihre beste Miene, ganz ungezwungen, lächelt und verlangt für mein Getränk besonders wenig.
Diese so atmosphärische Ecke im Westen von Kastrí gibt immer zu denken, über die Langsamkeit der Zeit, etwa. Sie ist in der Tat etwas Besonderes. Sie sagt manchmal: "Zeige deine Wunde", und es ist nicht so schlimm damit, denn man hat letzten Endes voreinander Respekt.

Einmal möchte ich auf den Hügel steigen, den hinter meiner Unterkunft, der mir oben so verdächtig eingeebnet erscheint.
Ohne meinen Bergstock geht es sehr mühsam hoch, den steil abfallenden Südhang. Ich klammere mich an Büsche, zieh mich irgendwie rauf. Es ist eine großes, langes und schmales Oval, die ideale Fläche für eine antike Siedlung. Doch Grabungen haben hier wohl noch nicht stattgefunden. Was alles man hier wohl finden würde!?

Am hinteren Ende der Hochfläche arbeite ich mich mühsam wieder hinunter, in die Oliven eines ansonsten umzäunten Privatbesitzes. Nach einigem Suchen finde ich einen Weg hinaus, steige über einen umgekippten Zaunteil und komme endlich auf eine Staubstraße, die mich in den landwärtigen hinteren Teil von Kastrí führt. Eine Nebenstraße hintergehen, zwischen großen Gärten mit blühenden Büschen und rückwärts versetzten Häusern. Das ist der Beginn der kleineren, anfangs noch asphaltierten Straße hinauf zum Kératos–Berg, mit Abzweig nach Árvi, zu Weiden und Oliven und weiter nach Áno Viánnos, die man auch von weiter hinten, kurz vor den Sandstränden, noch erreicht. Ich kehre um und gelange auf derselben Straße an einem anderen abgeflachten Hügel vorbei schließlich zur winzigen Dorfkirche von Kastrí vorne an der Uferstraße mit meiner geschätzten Taverne.

Diesen Abend schwimme ich wieder, wandere weit nach Ost, bis ich keine Lust mehr habe und umkehre. Es muss nicht unbedingt Árvi sein, und der ganze Weg zurück.
Wie lange ich früher einmal gewandert bin, erst hoch nach Viánnos, die Teerstraße weiter bis Amirás, runter nach Árvi und schließlich den Strand entlang zurück nach Kastrí. Damals kamen wir erst in stockdunkler Nacht zurück.
Die Wolkenszenerie dräut und droht, zieht den Himmel zu, nur um sich nach wenigen Stunden wieder in Bläue aufzulösen.
Irgendwie spüre ich, dass es mich weiterzieht, den folgenden Tag, die letzte Nacht auf Kreta noch anderswo zu verbringen. Das teile ich Herrn und Frau Doriákis auch mit. Der freundliche Herr D. denkt kurz nach und kennt gleich jemanden, der tags darauf Richtung Mátala fährt, wird für mich ein gutes Wort einlegen.

Abendessen bei Jórgo und Maria, mit P. und X., beschaulich.

Am anderen Morgen erscheine ich gegen neun zum Zahlen im neuen Haus der Doriakis–Familie. Man bietet mir Rakí an – ich zeige mich unwillig, ohne etwas im Magen gleich derart scharfe Sachen zu mir zu nehmen. Da werden Kleinigkeiten, Walnüsse, Käse, Brot, Oliven, bereitgestellt, auch größere Sachen stehen zur Debatte. Wie gastfreundlich die beiden alten Leute doch sind. Ich wehre mich so gut es geht, muss aber zwei Ratschés zu mir nehmen, na denn Prost, Schicksal.
Mein Gastgeber holt inzwischen mehrere total veraltete Landkarten hervor, studiert die Route, die ich mitgenommen werden soll. Ich reiche ihm meine neuen Karten, die ihn eher vom Wesentlichen abzulenken scheinen, in ihrer Detailtreue. Er wendet sich wieder den alten zu. Sorgen bereiten dem Ehepaar die Feiern zum Nationalfeiertag – 28. Oktober. Denn in größeren Ortschaften könnte es wegen der Paraden zu Durchfahrtsproblemen kommen. Dann bekomme ich noch eine Flasche Eigengebräus mit auf den Weg – köstlich und so mild–aromatisch, wie es sein soll, wie ich bald feststelle, als ich mir den Tresterschnaps abends darauf zur Hälfte mit einer großen Paréa in Sívas teile.

L. fährt so gegen zehn los, über Tsoútsouros. Auch noch diese entschärfte, sauber geteerte Traumstrecke darf ich erneut erleben.
Mein vierter Tag á 15 Euro für das Studio in Keratókambos hätte es sein sollen – und ich bin stattdessen auf dem Weg nach West, lasse die Pauschalsumme von 60 Euro Pauschalsumme sein. Vorteil des Saisonendes, so ein Zimmerpreis. Mein Vermieterehepaar reist gleich nach mir ebenfalls ab, in seine Winterbleibe in Iráklio.

Wunderbare, schön asphaltierte Autoserpentinen (vom Standpunkt des Autofahrers aus) nach Nord, nach Káto Kastellianá hinunter, von Tsoútsouros aus, was für ein Panorama bietet sich hier. Pírgos ist bald ereicht, kleine Tankpause. Dann wird es wie gehabt unübersichtlich, und wir fahren lieber die Nordroute, obwohl die Abfolge kleiner Dörfer am Südrand viel pittoresker wäre, den nördlichen Rand der Ebenen entlang, mitten durch Assími, schließlich in die Messará–Ebene. Einmündung der Hauptstraße von Iráklio her, Ágii Dhéka, Míres – hier endlich noch Paraden, wir werden umgeleitet, etwas südlicher geht es durch den Ort.

Peters Lieblingsroute eingedenk, weise ich auf die Abkürzung nach Petrokefáli hin, die wir auch nehmen. Bald darauf ist die Hauptstraße nach Mátala erreicht, der erste Abzweig an der großen Kurve führt hoch nach Sívas, dem schönen Dorf mit der Willkommenskapelle auf Bergeshöh, wo ich vor den etwas verblüfften Augen meiner von meiner Ankunft überraschten Gastfamilie den netten L. zum Frühstück einlade.
Es ist noch ein Zimmer frei, etliche Zimmer sogar, doch morgen soll die Verwandtschaft aus dem Elsass anrücken, da wird es wieder voller.

Es ist auch noch recht früh, nicht einmal Mittag. Einige der Hausgäste noch frühstückend. Ich kann noch einiges unternehmen, auf mich nehmen – sich nicht übernehmen, ist das Gebot.

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