Stille Tage in Lýkos
Copyright puchheim = MartinPUC, Mai 2006


Wir sind verunsichert. Wird uns Jórgos tatsächlich in Loutró mit (s)einem kleinen Boot abholen kommen? Am Telefon hieß es, seine Várka sei kaputt. Für ihn als Zimmervermieter und Tavernenwirt ein existenzbedrohendes Unglück. Er bemühe sich, eine andere auszuleihen.

Welcher Tourist möchte schon freiwillig mit schwerem Gepäck die schmalen Geröllpfade von Loutró aus hinauf- und hinunterkeuchen und nach gut 35 bis 40 min sich beim Abstieg nach Lýkos (gesprochen: Líkos) den Knöchel verstauchen? Die Pfade, die ohne Gepäck und mithilfe guten Schuhwerks und eines oder zweier Teleskopstäbe durch ein wahres Paradies aus Kalkfels, Gewürzsträuchern, uralten Oliven, Johannisbrotbäumen, zottigen Ziegenherden, Bienenkästen, venezianischen und phönizischen Ruinen, braunroter Erde und fantastischen Panoramen führen.

In nicht viel mehr als 50-minütiger Fahrt schafft es das Küstenschiff "Samariá" von Agía Rouméli zu der glücklicherweise immer noch nicht ans Straßennetz angebundenen Touristensiedlung namens Loutró. Zu Füßen hoher Berge sowie eines großflächig ins Meer vorspringenden Kaps liegt sie, fraglos traumhaft inmitten einer herrlichen Wanderlandschaft, einem Reich der Adler, einiger weniger Geier und Käuzchen (auch einiger menschlicher, letzterer Gattung), in dem man schnell das Auto oder die heimische Großstadt vergessen hat.
Eine kurze, aber einmalig schöne Schiffspassage, mit Blick auf Berggipfel, Felskämme, Steilwände und Schluchten. Schon ein gutes Stück vor Agía Rouméli hat bei der Tripití-Schlucht die Sfakiá begonnen, das im Abseits gelegene "Land der Schluchten", das bis östlich der Ebene von Frangokástelo reicht. Wendet man sich um, sind bei guter Sicht lange noch die weißen Häuser der Halbinsel von Paleóchora auszumachen.

Ein etwas ungewöhnliches Paar ist seit Ag. Rouméli mit an Bord (Ich glaub, die hab ich schon früher mal erlebt, same place.) Ein gut in die Jahre gekommener, in Rot und Orange gekleideter, total flippiger alter Holländer, der sofort seine Klarinette auspackt und in einem stilleren Winkel unterhalb des oberen Sonnendecks gleich zu jazzen loslegt. Aber wie!, sagenhaft gut! Nicht von seiner Seite weichend eine eher schüchterne, junge dunkelhäutige Frau, wohl aus Bangladesch oder Südindien stammend. Ihr Ziel ist ebenfalls Loutró. Man kann gut mit ihm reden - ja, Komplimente nimmt jeder gern entgegen.

Atemberaubend schön die Vorbeifahrt an der Mármara-Bucht mit ihrer von russischen Hilfskräften betriebenen Taverne (sie gehört einem Sfakioten aus Anópoli), den zwei, drei Häuschen auf der Felsnase mit mietbaren Zimmern weit weg von jeglichem Dorf, abends von Petroleumfunzeln erhellt.
Dahinter die Hauptattraktion der Fahrt, die dunkel klaffende hohe Spalte des Ausgangs der imposanten Arádhena-Schlucht - was für ein Anblick! Eine gut begehbare Schlucht, inzwischen. Die gefährlichen Stellen sind entschärft. Auf Treppenstufen umgeht man das Stück mit der noch sicht- wie benutzbaren langen Eisenleiter. Weniger Ausdauernde und Klaustrophobe können an mehreren Stellen aus der Schlucht aussteigen und von oben in sie runtergucken.
Die hübschen, nur vom Meer aus einsehbaren Höhlen von Mármara, der kleine aber feine Kiesstrand mit nicht wenigen nackten Leibern, zu dem man sich auch per regelmäßig verkehrendem Boot von Loutró aus herbringen lassen kann, wenn man nicht gleich das teure Taxiboot aus Chóra Sfakíon nimmt oder mit einem Mietkajak herpaddelt - auch in Fínika/Phönix vermieten sie welche, nicht nur in Loutró.

Die eiserne Klappe senkt sich, schabt auf dem Beton der Anlegestelle, bis das Schiff festgezurrt ist und alle aussteigen dürfen, die nicht bis zur Endstation, Chóra Sfakíon, weiterschippern.
Man holt den an einer Seitenwand der untersten Deckfläche (da, wo auch die Autos transportiert werden) abgestellten Rucksack ab und trottet von Bord.

Ein paar Meter links vom Schiff wartet eine kleine Barke mit zwei Jungs drauf, deren einer gleich die Kaimauer hinauf ans Ufer klettert und uns was zuruft. Ich zumindest war ja schon ein paarmal in Lýkos, wenn auch bei der Konkurrenz, sodass sie mich wohl erkannt haben. Es ist der Pávlos, ein Sohn von Jórgo. Sie haben sich das Boot eines Verwandten geborgt, und ein Vetter steuert es.
Unsere Sachen sind schnell verstaut, ein Sack Kartoffeln, eine Kiste Tomaten, die das selbstangebaute Gartengemüse ergänzen, werden noch ins Boot gehievt, wir lassen uns hinunter, dann geht es los.

Zwischen dem Felsbrocken von Insel und dem Ausläufer des Kaps mit einer kleinen Aussichts-Ruine drauf (in die auch mal ein Zelt reinpasst, oder zwei) flitzen wir, vorbei an einem gerade ins Wasser steigenden, überrascht wirkenden Paar, mit etwas Abstand an der Südseite des großen Kap-Hochfläche vorbei, die gefährlichen Flachwasserstellen mit den spitzen Steinen unter der Wasseroberfläche, besonders dort, wo das Kap nach Nord umknickt und einem plötzlich die 5 oder 6 Häuser von Fínika/Phönix ins Auge springen, weit umfahrend.
Oben die gelbliche Burgruine mit dem Turm. Unten, unweit der Wasserlinie eine Art Höhlenkapelle, außen weiß angestrichen. Ein paar Zelte stehen in der kantigen Felslandschaft rum, unter Bäumen, zwischen schützendem Gestein.

Gleich ist auch Lýkos sichtbar, die Felsnase zwischen dort und Fínika ist nicht sehr "prominent", wirkt von See aus nicht sehr trennend. Oben am Berg die Häuser des fast verlassenen Ortes Livanianá, aus dem meine Lýkos-Wirtsleute stammen. Dort gibt es immerhin noch eine Taverne, betrieben von der Mutter der Lýkos-Maria.
In die Bergflanken schmiegen sich rötlich die Serpentinen der neuen Erdpiste, die es erst seit einigen Jahren gibt, und deren einer Abzweig in Fínika, der andere in Lýkos endet - geröllübersät und nicht gerade empfehlenswert; weiter oben eine echte Katastrophe für PKWs.


Lýkos, es bedeutet "Wolf", das ist eine Ansiedlung einer Großfamilie ("Niko's Small Paradise" plus diverse Brüder mit ihren Frauen und Kindern und mehreren, nebeneinander gebauten Häusern mit Fremdenzimmern), einer (verglichen mit ihren Nachbarn) Kleinfamilie direkt daneben (Jórgos u. Maria vom "Akrogiáli" mit ihren drei Kindern) und eines etwa 150 m weiter westlich in einem Häuschen mit ebenfalls, aber sehr bescheidener, Zimmervermietung ganz alleine lebenden Junggesellen, der auch Jórgos heißt und nur mehr Getränke anbietet. Ein echter Eremit, der häufig in seinem einräumigen Untergeschoss (bzw. -geschoß) das Bett hütet, ausgedehntes Nickerchen.
Im recht begrenzten Hinterland, bevor es steil hochgeht, ein, zwei Gärten, eine Hühner- und Ziegenkoppel, herumhängende Felle geschlachteter Tiere, vereinzelt Bäume, an der Staubstraße eine angeblich über 2000 Jahre alte Olive, die immer noch grünt und Früchte trägt. Ein verehrungswürdiger Alter, dieser Ölbaum!

Anlegen an der kleinen Mole, die beide benachbarte Tavernen gleichzeitig nutzen. Ein bisschen schäme ich mich vor Theo und Niko, die mich von ihrer Beobachtungswarte aus sicherlich längst erkannt haben. Und ab geht es zur Konkurrenz!

Jórgos ist hocherfreut, mich einmal bei sich und seiner Familie beherbergen zu dürfen. Nach einem Begrüßungsgetränk werden die Zimmer verteilt. Da die oberen vier im zweiten Stock belegt sind, wohne ich in der Nr. 1 im ersten. Die Aussicht ist dieselbe: in drei Richtungen, übers Meer und die Küste nach W und E entlang bis zu den begrenzenden Kaps. Der andere Jórgos döst an einem Tisch vor seinem Haus in den Nachmittag hinein.


Bald schau ich zu "Niko's Small Paradise" rüber und begrüße die dort gerade anwesenden Familienmitglieder.
Zu dem sehr netten schwarzhaarigen und -äugigen, schwarzschnurrbärtigen Theo, dem waschechten Sfakioten mit dem gebietstypischen, quasi "amerikanisch" klingenden "R" in seinem Griechisch (- einem "R", das auch für Anógia im Psilorítis-Gebirgsstock ganz typisch ist), Ehemann von Eidheen aus Irland (ich schreib den Vornamen jetzt mal so, dass er lesbarer ist), sag ich gleich: "Please don't kill me, Theo, I'm staying at the other place!". Da lacht er und meint: "Kill you? Who told you I'm a killer???" Da lachen wir zusammen. So ist die heikle Situation schon einmal entschärft. Und die Großmut eines Sfakioten ausgelotet. Das nächste Mal werde ich wieder mal bei ihnen übernachten.

Des öfteren komme ich zumindest auf ein oder zwei Getränke herüber, denn auch hier sitzen sehr sympathische Gäste herum, nicht gerade viele Touristen, aber doch mehr als in meiner viel kleineren Bleibe, darunter einige recht interessante. Ein nettes Schweizer Paar ist da, das wir einmal abends beim Heruntersteigen oberhalb von Livanianá antreffen - auf Geiersuche (sie wurden fündig).
Mit einer äußerst netten Chiemgauerin, offensichtlich Stammgast, spreche ich leider nur kurz. Sie zieht sich gerne auf die Terrasse des hintersten Gebäudes zurück, um mit der Deutschen namens Conny, der Ehefrau des dritten der Brüder, Jórgos, lange Gespräche zu führen.
Der anderen Deutschen, die 6 Wo. Zeit hat, gleich zwei Tangokurse absolvieren wird, einen in Plakiás, einen am Kóraka-Strand von Rodákino, und die anschließend noch nach Kárpathos weiterreisen will, kann ich keine von ihr dringend erbetenen Tipps mehr geben, da sie sich nicht im Akrogiáli blicken lässt, lieber auf der Terrasse gegenüber festklebt, wie fast alle anderen auch. Und nachlaufen will ich den Leuten nicht.

Ítalo, der Sarde, der hier schon so oft ausgeholfen hat, sei nun in Rente, die er in Deutschland beziehe. Er komme künftig als Pensionsgast, nicht mehr als Bedienerix. Diese Arbeiten macht jetzt ein Stéphan(os), den ich leider nie sprechen kann, nur ab und zu aus der (so nahen) Ferne meiner anderen Tavernenterrasse sehe. Er ist Deutscher und wirkt ruhig und sympathisch.

Einmal sitze ich wieder drüben, da nähert sich etwas vom Meer her, jemand, der hinter einem fast nicht mehr sichtbaren flachen roten Kajak schwimmt, es dabei vor sich her schiebt. Der gute Mann hat das Kunststoffgehäuse des Bootes aufgeschlitzt! Er paddelte zu nah an der Küste, und da geschah es, ein spitzes Riff, und er drohte abzusaufen. Einer schwimmt ihm entgegen, hilft ihm. Erschöpft steigt er über die Steinplatten von Lýkos an Land. Da werden sie sich freuen, drüben in Fínix oder Loutró!

Als insgesamt sehr sympathisch entpuppt sich auch die Gästeschar meiner Unterkunft bzw. Terrasse, des "Akrogiáli".
Nur ein einziges Paar mit Kleinkind ist, im Gegensatz zu anderen Jahren, zu diesem Zeitpunkt anwesend. Was für eine nette Kleine, die Sophía, allerdings ziemlich fremdelnd, mit ihren jungen Eltern aus dem Schwäbischen bzw. Badischen, die nur abwechselnd, also einzeln, auf längere Wanderungen gehen können, denn einer muss sich immer um das Kind kümmern, das nicht so weit laufen kann. Sie schaffen es einmal aber zu dritt bis Loutró, ganz langsam und mit viel Tragen. Dann ein etwas ungewöhnlich aber lustig gekleidetes Bioladen-Pärchen aus dem Westerwald, der männliche Part spielt Gitarre und begleitet sogar einmal den Lyra spielenden jüngsten Sohn des Hauses, der weibliche Part spielt Flöte. So vernimmt man morgens manchmal rätselhafte Flötentöne, von denen man nicht gleich weiß, woher sie kommen.
Schließlich ein älteres Paar aus meiner näheren Heimat, das sich noch nicht so lange gefunden hat. Beide stellen sich als leidenschaftliche Kretakenner und -liebhaber heraus. Der J. ist sogar Archäologe, mit Fokus insbesondere auf Olympia (Peloponnes), weniger auf die Minoer. Die H. ist eine wirklich ganz Liebe, erfrischend natürlich und spontan und hat viel Power. Recht jung gebliebene Menschen. Kann gut sein, dass dieser Kontakt erhalten bleibt. Ich sag ja immer wieder: Je kleiner der Ort, desto lieber die Gäste. Auch diesmal keine Ausnahme.

Sehr besorgt um unser Wohl, aber nicht die Spur von aufdringlich, unsere Wirtsfamilie.
Maria wirkt schüchtern, ist in Wirklichkeit aber nur ein stiller Menschentyp, sehr bescheiden, zurückhaltend und freundlich.
Jórgos ist der dynamischere, mit blitzenden Augen, der alles in die Hand nimmt, das Regiment führt, aber keinesfalls in lauter Manier.
Das älteste der Kinder, Pávlos, ist sehr aufmerksam, grüßt immer als Erster, strahlt einem ins Gesicht, stellt seine Schulpflichten am Gymnasium in Chóra Sfakíon allerdings ganz, ganz hintan. Das heißt, er bringt es während meiner Anwesenheit schon mal, Montag bis Mittwoch schulfrei zu nehmen und erst am Donnerstag im Klassenzimmer zu erscheinen, obwohl er nahe an der Schulentlassung wegen ständigen Fehlens steht. Würde er gefeuert, müsste er an eine deutlich weiter entfernte Schule wechseln, vielleicht nach Vámos in Apokóronas, jenseits der Berge, oder nach Paleóchora! Er spekuliert wohl darauf, einmal die Taverne mit den Zimmern zu übernehmen.
Kostas, der jüngere der beiden Söhne, vielleicht 14, ist ein lieber, angenehmer Junge mit großem Interesse für Musik - kretische Volksmusik, versteht sich. Gespannt hört er sich am zweiten Abend meine aus Nord-Kárpathos mitgebrachte CD an, mit den fremdartigen Klängen einer Insel, die er noch nie betreten hat. Nur eine einzige Nummer mit einem speziellen Lyra-Spiel gefällt ihm wirklich, auch die den Rhythmus betonenden Glöckchen am Bogen beeindrucken ihn; deshalb muss ich ihm die Scheibe auch bis zu meiner Abreise überlassen. In Chaniá bekommt er in Abständen Lyra-Unterricht. Mag sein, dass er es war, der in meinem Zimmer ein Bild, genauer gesagt, das Cover einer CD, von Zoidákis (einem der zurzeit besten aus der jüngeren Lyra-Spieler-Generation) über dem Bett angebracht hat.
Die ganze Familie ist der Überzeugung, die kleinere von beiden auf Kárpathos gespielten dreisaitigen Lyra-Varianten sei etwas typisch Türkisches. Die stille Déspina, die einzige Tochter ihrer Eltern, vielleicht 15 (aber ich bin schlecht im Schätzen von Kindesaltern!), ist schon jetzt eine schlanke, dunkelhaarige Schönheit.

Nur das Boot ist kaputt, eine Katastrophe! Tatenlos lehnt der grauschwarze Außenbordmotor älteren Baujahres an der Tavernenwand. Man hofft, die sich telefonisch anmeldenden, gegen Mitte Mai wieder eher seltenen Gäste mit dem Boot von Verwandten hertransportieren zu können. Erst am Sonntag trifft das neue weiße Kunststoffboot in Lýkos ein. Sogleich wird der Außenborder befestigt, und stolz kurvt Jórgos aufrecht stehend mit der 4.000 Euro teuren Errungenschaft herum. Er musste wohl einen Bankkredit dafür aufnehmen, äußert sich einmal in dieser Richtung. Ein Auto besitzt die Familie nicht, keiner hat den Führerschein. Braucht es auch nicht. So kann niemand von ihnen nach Chaniá fahren um den Lidl leerzukaufen, wie es andere Tavernenwirte in der urigen "Sfatschá" (Sfakiá) ohne weiteres machen. Hier gibt es tatsächlich noch Essen aus dem eigenen Garten und Fleisch aus eigener Schlachtung. Und recht selten Fisch. Keinen aus Norvijía (Norwegen)! Es ist fast wie früher, als man nur ein- oder zweimal im Monat Fleisch auf dem Teller hatte. Natürlich kriegt man das hier auch täglich, wenn man will. Aber eine Speisekarte sucht man vergebens. Maria kocht eben jeden Tag einige Gerichte, aus denen man dann, in die Töpfe guckend, auswählt. Jórgos meint, der Mensch sei gar nicht als bzw. zum Fleischfresser geboren. Kichererbsen oder Bohnen gäben mehr Kraft als Fleisch. Wie gut sie mir schmecken, die Angináres me patátes (frisch geerntete Artischocken mit zugekauften Kartoffeln). Doch auch die hier servierte Leber ist etwas Feines.

Bush und ein möglicher Iran-Krieg: Man lebe in dieser Ecke der Welt und Kretas in Frieden mit jedem, wolle keinen Krieg. Den eventuell entstehenden radioaktiven Fallout müssten dann die Griechen ausbaden, verseuchtes Gemüse, verseuchtes Weideland, meinen sie.

Den stets zum Spielen aufgelegten relativ großen Setter-Hund haben sie "Saddam" getauft - ausgesprochen originell, zumindest selten. Wenn er sich wieder einmal einem der Gäste zu sehr aufdrängt, wirft ihm Jorgos schon mal einen Stuhl nach (er trifft nie!) - ansonsten liebt er sein Haustier über alles, und dieses folgt ihm auch auf Schritt und Tritt.


Vorbeitrott. Speziell im April/Mai und dann wieder im September/Oktober. Nicht wenige Wandergruppen mit Führer(in). Der Europawanderweg E-4 führt - wie umsatzfördernd - mitten durch Niko's Small Paradise (!), quer über die Tavernenterrasse, dann die Stufen zwischen den Häusern hoch - also bitte nicht am Strand entlanggehen und dann zum Amüsement aller eine alpine Kletterei in den Felsen hinter dem Strand hinlegen (- hab diesmal nur einen einzigen armen Unwissenden mit großem Rucksack dabei beobachtet, er hörte nicht auf meine Rufe).
Meist sind es Franzosen, die vorbeiziehen, oder wenigstens Französisch sprechende Belgier. Einmal Österreicher, garniert mit Deutschen, die Gruppe der Schuschniggs aus Kapetanianá - die Route war zu Hause im Internet bei "Korifi Tours" leicht herauszufinden. Den Gunnar such ich vergeblich unter ihnen. Bin wirklich enttäuscht. Erst später erfahre ich, dass nun in der Regel Gunnars ältester Sohn die Gruppen begleitet. Sie werden in Loutró wohnen, dann im kleinen Hotel des Ílingas-Beach ein paar Kilometer westlich von Chóra Sfakíon, wo die Zimmer besonders preiswert angeboten werden und der Kieselstrand dreigeteilt ist und ungeahnt hübsch, mit Höhlen als Sonnenschutz.

Eine Großgruppe kommt in Mármara an, wo ich in etwa 30 min von meinem Quartier aus hingelaufen bin (- Vorsicht: der Aufstieg aus der Lýkos-Bucht hat es für Ungeübte wirklich in sich: rutschiger, von den Fußtritten abgeschliffener Fels, dessen Schichten steil einfallen, eine Stelle zum Fürchten, bevor der Weg dann recht einfach begehbar wird, aber nichts für nicht Schwindelfreie und nicht Trittsichere). Sie kommen von Agía Rouméli her. Es sind etwa 50 Franzosen mit einer selbstbewusst und notgedrungen lautstark auftretenden Führerin, die nach dem Essen sogar noch die griechischen Kaffee-Arten inkl. Frappé (mit und ohne Milch) zum Nachtisch in der Taverne über dem Strand geduldig erklärt. Ich sitze unter einem Bäumchen vor einem der Häuschen mit den zu mietenden Zimmern in einigem Abstand, ein Vogel schwirrt immer wieder auf ein Gitter und kommt mich besuchen. Da kommt Lutz, der Papi der kleinen Sophia, von West her angewandert und wir unterhalten uns ein wenig. Seltsame Szene, so eine Gänsemarsch-Truppe beim gemeinsamen Mahl. Aber Hauptsache, sie haben Freude dran.


Jorgos sitzt werktags außer samstags immer so um Viertel vor sieben an einem der westlichsten, strandnahen Tische unter einer Tamariske, den Feldstecher in die Berge gerichtet, auf einen roten Pick-up lauernd. Denn Mo - Fr, am frühen Morgen, eben so um 7 rum, kommt das Agrotikó (der Bauern-Pick-up) mit Nikos, einem Kafenío-Besitzer, von Anópoli herunter, um die Schulkinder in Lýkos abzuholen. Es sind derzeit meist nur zwei - Pávlos fährt oft nur mit, um die Schweine oben in Livanianá zu füttern. Alle möglichen Essensüberreste hat er dabei.
Man holpert dann in steter Angst um seine Knochen (Steißbein!) erst einmal 20 oder 25 min lang ganz fürchterlich herum, falls man hinten auf der Ladefläche sitzt, auf der ausgebreiteten Schaumstoffmatte. Erst die beginnende Asphaltstrecke oben auf der Hochebene bringt die Erlösung.
Die Kinder von Lýkos werden zunächst einmal am Platz mit dem Daskalojánnis-Denkmal abgeladen. Dann steigen sie in den Minibus der Gemeinde Sfakiá um, der sie nach Chora Sfakíon hinunterbringt, ins Gymnasium. Nachmittags das Ganze in der Gegenrichtung.
So umständlich geht das, aber es geht das ganze Schuljahr über, während ein Boot im Winter oft nicht fahren könnte. Insofern ist die neue Piste ein Segen. Nicht selten werden die Kinder beim Hochfahren verstärkt durch eine Erwachsene, eine in Livanianá lebende stattliche Ungarin mit nettem blonden Sohn, die ihre Freundin in Anópoli besuchen will oder ihr Kind irgendwo abholen.

Anópoli ist frühmorgens und Anfang Mai zwar kühl, aber zauberhaft. Frischeste Luft. Alle Arten von Grün, die Weinblätter voll entfaltet. Einige Gipfel der Weißen Berge, der "Madáres", spitzen mit ihren an der Südseite kärglichen Schneeresten auf kahlem Fels herunter. Wälder klettern die Hänge hinauf.
Jede Menge großer Hunde, allerdings. Man sollte sich gut mit ihnen stellen - sie erinnern sich an jeden ihnen früher zugesteckten Bissen und quittieren den erneuten Treff mit Wohlwollen und freudiger Erwartung statt mit Knurren und bedrohlicher Zusammenrottung.

Kann gut sein, dass mittags eine lange Tafel vor der Taverne "O Plátanos" am zentralen Platz mit dem Daskalojánnis-Denkmal und der Telefonzelle gedeckt ist, für die erwarteten Wanderer, welche man in den durchaus preisgünstigen Zimmern auf zwei Stockwerken über dem Essensbereich und dem nur von innen erreichbaren Lebensmittelladen gut unterbringen könnte. Die tröpfelweise eintreffenden Paare in ihren Mietwägen haben dann das Nachsehen, wissen bald nicht mehr, wo Platz nehmen, wenn der letzte Tisch aus dem Innenraum herausgestellt wurde und die Marschierer länger auf sich warten lassen.
Tipp: Auch beim Nikos gegenüber dem Iatrío, dem Haus, wo die Ärztin wohnt und behandelt, etwa 200 m weiter Richtung Arádhena-Schlucht, gibt es was zu essen, freilich keine große Auswahl, dafür sitzen dort häufig recht urige Typen. Einen davon identifizieren meine später auftauchenden neuen Bekannten aus Lýkos aufgrund eines älteren Fotos, das sie mitgebracht haben. Der lustige, geistig total fitte Alte aus der nahen Siedlung Limniá in seinem traditionellen schwarzen Gewand freut sich, als er sein Porträt aus etwas jüngeren Jahren wiedererkennt.

Da wie dort ist es schön zu sitzen, zu beobachten, zu essen. Die Gruppe vor dem Plátanos ist satt und zufrieden, bricht auf.
Ich selber tipple später westlich um die Ecke des Lokals und gleich die Dorfstraße nach Süd hinein, die sich bald nach West dreht und schließlich einen Serpentinenknick nach Ost macht, um unterhalb der Aussichtskapelle Agía Ekateríni hoch über dem Meer zu enden.
Als ich mich dem Einstieg in den Wanderweg hinunter nach Loutró nähere, schneidet mir die Großgruppe, von der Kapelle absteigend, den Weg quasi ab, sodass ich ihnen als vorletztes Mitglied folge - ganz am Ende des Wurms trottet ein weniger Leichtfüßiger dem Pulk hinterher.

Ausnahmsweise eine deutsche Gruppe. Fällt richtig auf, bei all den Franzosen, die sich neuerdings wesentlich verstärkt hier herumtreiben.
Mit einigen Leuten komme ich abwechselnd ins Gespräch. Die Führerin ganz vorne ist ein wenig irritiert. (Ich bin aber auch sowas von ........, mich denen einfach anzuschließen! Nicht?)
Sie haben sich alle in Privatinitiative zusammengefunden. Gleichgesinnte aus der Frankfurter und der Kölner Gegend. Die Führerin ist sozusagen eine von ihnen, prima inter pares, die Erste unter lauter Gleichgestellten. Nicht schlecht, so eine Organisationsform!
Ein paar Leute sind ganz aufgeschlossen und freuen sich über die Abwechslung, die ich ihnen biete, sind vielleicht einfach nur freundlich. Ein paar Tipps (z. B. Kárpathos, für alle Wanderfreunde!) werde ich los, und einer recht ruhigen, angenehmen Frau empfehle ich, es doch einmal auf eigene Faust zu versuchen, vielleicht zusammen mit einer Freundin, denn Griechenland ist doch das Paradeland für allein oder zu zweit reisende Frauen, die sich dort bestimmt sicher fühlen können.
Als auf halbem Weg eine Pause eingelegt wird, überhole ich die Gruppe und verabschiede mich. Es war ein nettes Erlebnis. Nach einer Übernachtung in Loutró werden sie wieder in ihr Ausgangsquartier in oder bei Plataniás an der westlichen Nordküste unweit der großen Stadt zurückkehren.


Nikos, der Kafetzís in Anópoli, fungiert neben seiner Tätigkeit als "Schulbus"-Fahrer im Ausnahmefall auch einmal als Taxilenker. Da es im Ort kein Agoréo (Taxi) gibt, übernimmt er mit seinem nagelneuen Ostasien-PKW je nach Bedarf Fahrten etwa nach Ágios Ioánnis oder sonstwohin - Hauptsache Teerstraße. So kommen Leute, die zwar etwas gehen wollen, aber einen gewissen Hang zum Durchschnittsgriechentum ("Alles per Auto oder Michaní! - Nie zu Fuß!") in sich tragen, auch auf ihre Kosten.

Man holpert also beispielsweise mit Todesverachtung über die scheppernden Planken der Eisengitterbrücke über die Arádhena-Schlucht. Ein Furcht erregendes Echo aus der Tiefe ist die unvermeidliche Folge. Daraufhin übersieht man beinahe den Kiosk mit den Getränken, Snacks und Speiseeis am westlichen Brückenende gleich beim alten Dorf Arádhena mit seiner schönen Kirche und dem beeindruckenden Friedhof, auf dem einige männliche Opfer der Blutrache begraben liegen.
Die kurvige asphaltierte Strecke endet nach wenigen Kilometern vor einem Gittertor, das man öffnen müsste, um in die Streusiedlung Ágios Ioánnis hineinzugelangen. Gleich rechts über der Straße das meist zugesperrte Kafenío, von einem Ketten-Schäferhund bewacht, der Getränkekühlschrank ist wohlgemerkt (!) aber stets geöffnet; so kann man sich was herausnehmen und das Geld an der dafür vorgesehenen Stelle hinterlegen. Hier hat man noch Vertrauen in die Menschheit!

Direkt vor diesem Sperrgitter führt linkerhand ein Feldweg in die Baumlandschaft. Nach wenigen Metern beginnt rechts unterhalb der markierte steinige, zunächst sehr geröllige Wanderweg Richtung der imposanten Hangkante hoch über der Küste zwischen der Mármara-Bucht und Ágios Pávlos.
Unterhalb zweier weiß gekalkter Kirchen (eine links, eine rechts oben) geht es erst einmal hinab in eine Senke, dann am Waldrand entlang, über einmündende Feldwege in eine richtige Delle hinunter, aus der man gleich wieder aufsteigt, um auf die Hochfläche vor der Geländekante zu gelangen. Eine schöne, beeindruckende und relativ kurze Wanderung, für die ein geübter Schnellläufer nur (gut) 30 min (einfache Strecke) braucht, der Normalgeher etwa 50.
Auch hier hat es einmal gebrannt, wie die schwarzen Stämme verraten. Viele Kiefern sind von einem Schädling befallen, der seine spinnwebartigen Geflechte zwischen den Nadeln anbringt.
Aber dennoch eine herrliche Landschaft, in diesem Spätvormittagslicht. Ziegen stehen herum, ihr zottiges Fell schimmert im Sonnenlicht. Jungtiere ergreifen die Flucht. Gebimmel.

Das letzte Wäldchen direkt vor der Steilstufe. Sogar Schatten ist geboten. Hier beginnt der uralte Stufenweg, der nach vielleicht 1 Stunde sehr steilen Abstiegs (ich erinnere mich an frühere persönliche Großtaten) - nichts für Kniegeschädigte - auf den Erdweg im hellgrünen Kiefernwald über den Stränden bei Ágios Pávlos trifft. Geht man 30 m rechts hinter und ganz nahe an den Abgrund, hält man sprachlos inne.
Ein langes Südküstenstück hat man im Blick. Nach Ost nur bis zum Landvorsprung, über den der hübsche Pfad von Loutró her kommt. Aber nach Westen hin sieht man meilenweit. Nicht nur bis zum weiß glänzenden Agía Rouméli (dem Ort beim Ausgang der Samariá-Schlucht). Nein, weit darüber hinaus, ins Felsengebirge, die steinerne Küste entlang.
Es ist völlig still, bis auf vereinzeltes Glöckchengebimmel der Ziegen, und bis auf Vogelschreie. Lange stehen und sitzen wir und schauen.

Nach einer Weile gleitet der erste große Adler tief unten vorbei. Mit der Zeit werden es mehr. Ich sehe vier Stück von ihnen gleichzeitig, neben kleineren Bergdohlen und einigen Singvogelarten, grünlichen und bläulichen. Einer der Könige der Lüfte lässt sich von der Thermik ganz hochtragen, zieht seine Spiralen. Meine Begleiterin kriegt es mit der Angst zu tun, als der Vogel mit seinen Riesenschwingen immer näher kommt. Ich presse die Hand um meinen Teleskopstab. 30 m links vor uns verschwindet er irgendwo im Hang.
Dumpf dröhnt es herauf. Die beiden sich begegnenden Küstenschiffe machen sich akustisch schon bemerkbar, bevor man sie sieht.
Übers Meer her zieht eine Wolken- oder Nebelfront landwärts, kriecht gemächlich hoch. Zwischen Viertel nach 12 und eins wird der Küstennebel alles eingehüllt haben. Ein uns auf unserem Rückweg entgegenkommendes Wanderpaar wird Pech haben, vergebens das wunderbare Panorama suchen, das auch ich vermisse, als ich den ganzen Weg noch einmal im Schnellgang gehen muss, um, eingefeuchtet von den driftenden Nebelfetzen, meine am Steilabfall liegen gelassene Jacke zu holen. Wie rasch sich hier alles verändern kann.


Ein Abend auf der Terrasse des "Akrogiáli" an der Lýkos-Bucht. Man ist zurückgekehrt, heruntergestiegen von irgendwo, hat sich den Schweiß abgeduscht, etwas auf dem Balkon ausgeruht.
Leckeres Essen, einfach und gut. Dazu Retsina aus Chaniá oder offenen Chíma und viel Wasser.

Nach dem Essen wird meine Bitte an den kleinen Kosta, er könne doch etwas auf der Lyra spielen, erhört.
So recken bald auch die Gäste von Niko's Small Paradise auf ihrer der unseren so nahen Terrasse die Hälse, spitzen die Ohren, um etwas von dem handgefertigten Sound nebenan mitzubekommen. Bald setzt sich der Bioladenbetreiber aus dem Westerwald mit seiner Gitarre dazu und begleitet, aber es ist nicht so leicht.
Immer schön, so ein Musikabend. Ich wünschte mir noch ein anderes kretisches Instrument als Begleitung dazu, eine große Laute mit fettem, bauchigem Korpus, oder wenigstens den kleinen Jórgos vom Hotel Stávris in Chóra Sfakíon, der schon viel besser Lyra spielt als unser talentierter Anfänger. Trotzdem toll, dass wir die Ehre hatten. Ich hab ganz beiläufig ein bisschen auf den Tisch geklatscht, um vor allem der Begleitung einen gewissen Rhythmus anzudeuten.
Ein andermal Greensleeves, wunderbar auf der Gitarre vorgetragen - eine echte Ehrenrettung.


Die nur auf eine Ruhestunde Vorbeikommenden. Es sind nicht nur Fernwanderer, bei denen das Ziel meist Loutró heißt, oder Chóra Sfakíon. Nein, es kommen selbstverständlich immer wieder Neugierige, die ihren kleinen Spaziergang von Loutró herüber als Erkundungstour fürs nächste Mal verstehen.
So ein Ehepaar aus Newcastle, Nordost-England.
Carol-Anne und Alex sitzen am Nebentisch und betrachten verträumt und entspannt das westliche Ende der Lýkos-Gegend, die Hand mit dem Buch abgeknickt, keine Lust mehr auf Lektüre.
Engländer, endlich! Eine Ausnahme für alles, was westlich von Loutró angesiedelt ist. Die meisten lassen sich von Alison's Ehemann auf Booten bis Gávdos herumfahren, sitzen selig am Ministrand vor dem Hotel Porto Loutró ("No nudism on this beach!"), plumpsen Bauch voraus ins Wasser, genehmigen sich noch ein Amstel, noch ein Stück Kuchen bei ihrer Landsmännin, sind entzückt über diese im Vergleich zu London oder Manchester oder Leeds "splendid isolation".
Diese hier sind anders, gehen einen Schritt weiter. Schon haben wir Blickkontakt, und wenn man in einigermaßen gutem Englisch loslegt, kann nichts mehr schief gehen.

Sehr angenehme Leute haben sich da eingefunden, das ist gleich erkennbar. C.-A. spricht sogar recht gut Deutsch mit meiner später eintreffenden Wanderfreundin. Sie sind weit herumgekommen, auch ihre Kinder. Alex hat für Versicherungen weltweit gearbeitet. Am besten hat es ihnen und den Kindern in Oman gefallen, wo die Menschen so überaus freundlich waren, die Araber. Ach, was gäbe C.-A. doch dafür, könnte sie wieder dort sein!
Von Loutró sind sie übergesiedelt ins für ihre Begriffe viel schönere, stille Fínika (Fínix, Phönix), wenigstens die letzten beiden Nächte in der Sfakiá dort zu verbringen. Sie haben nur eine Woche Urlaub, und die allerletzte Nacht wird man am Ansatz der Rodopoú-Halbinsel verbringen, in Ravdoúcha, den Tag noch nutzen für eine Rundfahrt im Mietauto. Sie haben ein Gespür dafür, wo es schön ist.

Copyright puchheim = MartinPUC, Mai 2006