Teil 1: Ganz ungeplant nach Mílos
Copyright puchheim = MartinPUC, Juni 2010


Spontane Entscheidung nachts in Piräus

In gut eineinviertel Stunden schafft es der Busfahrer vom Athener Flughafen zum Karaiskáki–Platz. Es geht auf 23:30 Uhr zu. Ah, endlich wieder Hafenluft und Levante–Flair, wenn auch etwas leblos. Noch eine halbe Stunde Zeit, sich für eine sofortige Weiterfahrt mit dem letztmöglichen Schiff, das auf der Leuchttafel an der Hafeneinfahrt als Einziges angezeigt wird, zu entscheiden und auf ein bequemes Hotelbett zu verzichten.
Keines der Ticketbüros am Hafen hat zu dieser späten Stunde mehr geöffnet, alle haben sie zugesperrt.
Warum ist es eine größere Entscheidung? Weil tags darauf, also am 1. Mai, Generalstreik ist. Das bedeutet im Klartext, ich müsste zweimal hier übernachten und würde erst am Mittag des 2. Mai in ein Schiff nach Sífnos steigen können. Einen Tag lang zu Fuß durch die Großstadt und vielleicht bei aufgeheizter Stimmung seitens vieler Einheimischer – wäre zwar interessant, aber es scheint mir irgendwie verlockender, mich gleich auf ein Schiff zu begeben – wenn ich es nur sähe!

Ich entscheide mich für die unbequemere Variante, erinnere mich an eigene ANEK–Ticketbuden weiter drüben im Bereich des Tors E 3, da, wo üblicherweise die ANEK–Fähren liegen, die jetzt alle irgendwo draußen auf hoher See schaukeln.
Schleppe also meine Sachen ums Hafenbecken herum. Wieder eine Leuchttafel, die dazu auffordert, doch den Bus zum Schiff zu nehmen. Doch längst gibt es keinen mehr, heute Nacht.
Immerhin warten eine Menge LKWs und Dutzende von Menschen dort hinten, wo sich aus der Dunkelheit die Verkaufsstände von ANEK herauszuschälen beginnen. Hat sich die Lauferei doch gelohnt!
Beim Ticketkauf erfahre ich, dass die Prévelis verspätet eintreffen wird, erst um ein Uhr nachts. Aber auslaufen dürfe sie noch. Da es bis Mílos nur knapp 5 Stunden sind, buche ich keine Kabine, sondern nur einen jener altmodischen Air Seats im Gemeinschaftssitzraum, für 31 Euro.
Stelle meine großen Rucksack gegen eine betonierte Sitzbank, neben der sich eine Gruppe bereits leicht apathischer wartender Touristen aufhält (darunter ein Paar, das ich erst auf Sífnos kennenlernen sollte) und hau einfach ab, will noch was trinken. Bei all dem hier versammelten Gepäck fällt mein Stück nicht als herrenlos auf.

Steige also die Straße rauf nach Drapetsóna, in der Hoffnung, bald auf ein noch geöffnetes Lokal zu treffen – das einzige nahe gelegene unten an der Hafenstraße reizt mich nicht so sehr. Eine Kulisse wie in einem Theater–Nachtstück, nicht unbedingt vertrauenerweckend.
Nicht lange muss ich gehen, da biegt meine Straße auf einen Platz mit Kiosk ein, zusätzlich mit einem Schnellrestaurant und gegenüber einer Grillstube, die noch gut besucht ist – von lauter Einheimischen. Erst schleich ich um sie rum, der angepriesene Garten ist nur eine Freifläche neben der Straße und wegen der allmählich aufkommenden Kühle ganz ohne Gäste, so geh ich also rein.
Nach Getränken lasse ich mich noch zu einem späten Essen nötigen, da das hier so üblich ist. Mache Milieustudien und werde selbst beobachtet. Ein einfaches Tavernchen, aber die Souvlákia mit Beilagen haben durchaus ihren Preis.

Am Kiosk erstehe ich noch Mineralwasser für die Überfahrt und trotte zum Hafen hinunter, wo das Schiff gerade eintrifft, tatsächlich um Punkt eins. Abfahren wird es jedoch erst um halb vier! Dann erst beginnt der Streik.

Die Ostasiaten werden immer mehr, nun sind es bereits gut 100 Leute, die sich um ihren Reiseleiter gruppieren. Sehen eher wie Chinesen aus, nicht wie Japaner. Und sie wollen nach Santorin. Die Prévelis läuft auf ihrer langen Route nach Mílos auch Thíra an, dann Heraklion, Sitía, Kássos, Kárpathos und schließlich Rhodos. Ich werde als einer von wenigen gleich am ersten Stopp aussteigen.

Dösen im Passagierraum mit den Bus-Sesseln. Überall quer am Boden die Ostasiaten, hingebreitet wie ehemals wir in den 70ern und 80ern des 20. Jahrhunderts – Nachholbedarf oder einfach Geldersparnis? Kabinen sind teuer geworden.
Alle Lichter auf grelle Volllast gedreht, mehrere Fernseher an. Unter uns das Grummeln der einfahrenden LKWs, später der Schiffsschraube – eigentlich ist an Schlafen nicht zu denken. Es ist wirklich alles, aber auch alles getan, um Schlaf zu verhindern. Hättest ja in einen der besseren Salónis gehen können, rechtzeitig genug, um Dir einen Platz auf einer gepolsterten Sitzbank zu sichern!
Individualisten, Griechen, haben sich eilends die besten Schlafplätze an Bord gesichert. Irgendwo da oben kurz vor einem Ausgang ein einzelnes „Sofa“, kann umgebaut werden – geradezu komfortabel. Ich komm anlässlich des Zähneputzens daran vorbei, werde neidisch.
Ein Offizieller macht regelmäßig seine Inspektion des überfüllten Sitzraums – aus Neugier?

Morgenlicht, rauf an Deck. Suppig graublau bis ganz klar. Relativ ruhige See. Die Dämmerung bereits verdöst, die Sonne schon grell über dem Horizont. Erfrischende kühle Luft. Sífnos querab. Schönste Erinnerungen. Mílos wird konkreter, wächst immer deutlicher aus dem Meer heraus.
Schlaftrunkene Gestalten verschiedenster Nationalität schlurfen übers Oberdeck, den ersten warmen Kaffee in der Hand – was für eine Wohltat, was für ein Lebenselixier! Auch hier oben öffnet endlich die Kaffee–Bar. Wärmende Sonnenstrahlen und kühler Schatten, man hat die Wahl. Und Fahrtwind. 1.Mai frühmorgens.

Links eine größere Insel: Kímolos. Rechts der, grob gesagt, in zwei höchste Höhenstufen geteilte Brocken von Andímilos. Halblinks zwei kahle Inselchen ganz dicht vor meinem Ziel, eine mit Leuchtturm drauf. Es ist eine schöne Anfahrt nach Mílos, und ich bin froh, sie auf dem Seeweg zu absolvieren.
Was für eine Pracht, umfangen von zwei ausladenden Inselarmen in die riesige Binnenbucht einzulaufen – viel schöner, als ich es in Erinnerung hatte.
Doch zuvor dieser majestätische Anblick. Rechts hinten der Kegel von höchstem Gipfel und der Abriss einer höheren südlichen Umrahmung. Davor Felsenküste in allen möglichen Farben, noch draußen außerhalb der Bucht. Linksab sogar ein Blick auf lauter Weiß – die Bimssteinfelsen von Sarakíniko? Dahinter die Krone namens Políegos. Viel näher und in Fahrtrichtung der steile Kástro–Berg über der Pláka. Davor und darunter und ganz nahe einladende kleine entzückende Sandbuchten, wie es scheint, eine davon, die schönste, wohl Pláthiena.

Dann gleitet man hinein ins Wunder. Rechts, nach West hin, eher grüne Natur, mit Siedlungsflecken an kleineren und größeren Buchten, dahinter ausgedehntes Bergland. Links, gegen Ost, mehrere „Bootsgaragen“–Örtchen direkt am Wasser, hoch darüber die ringförmigen oberen Dörfer in ihrem Kykladenweiß. Vor uns die weite Bucht, fast zur Gänze von Inselland umschlossen. Irgendwo da hinten steigt Rauch auf, irgendeine Fabrik, die Vulkangestein aufbereitet. Ein Frachter mitten in der Bucht, an ihrem Ostrand die Verladestelle.
Die Linkskurve in gebührendem Abstand zum Kap Bombárdha. Ein Strand, und dann die weiße Hafensiedlung: Adhámas, oder Adhámanta(s) – wie die Einheimischen sagen. Sie wirkt auf mich viel kykladischer als ich sie in Erinnerung habe – trotz aller Internetfotos. Auf einem Hügel der ältere Ortsteil mit prominenter Kirche, darunter die „Neustadt“. Die Prévelis dreht und tastet sich an die große Mole heran. Um 8 Uhr 30 sind wir angekommen, mit großer Verspätung. Menschen mit Schlitzaugen machen ihre ersten Kykladenfotos. Vielleicht kommt so manchem der Gedanke, dass es eigentlich schade ist, hier nicht aussteigen zu können.

Copyright puchheim = MartinPUC, Juni 2010

Erneute Fühlungnahme mit Mílos nach gut 20 Jahren