Zwei (nicht ganz freiwillige) herbstliche Wochen auf Kreta
Teil 6: In Piräus und darüber hinaus

Copyright puchheim = MartinPUC, Mai 2012


Nicht nur im Kafenío Foúrni Ikarías (so nenne ich es wegen des einen Wandgemäldes) ist die resignative, verzweifelte Stimmung der ärmeren Großstadtgriechen zu spüren. Aber wenn man dort zuschaut, kriegt man doch schon einiges davon mit. Sitzt ein Stammgast mit schmierigem silbrigem Haar vornübergebeugt da, beide Hände hinter den Ohren, die Ellbogen auf die Tischplatte gestützt, ahnt man, woran er ist.

Natürlich hätte ich auch etwas noblere Cafés aufsuchen können, cleanere Lokale mit höherem Preisniveau ohne Auffälligkeiten in Form von benachteiligten „kleinen Leuten“. Das überlasse ich anderen mit ihren positiv eingestellten Fotoreportagen, die durchaus berechtigt sind, kurbeln sie doch den dringend benötigten Tourismus an und drücken sie doch den Enthusiasmus eines rundum gelungenen Urlaubs aus.

Ich selber kann und will nicht über das immer stärker anwachsende soziale Elend in den Großstädten dieses EU–Landes hinwegsehen. Inzwischen zeigt es sich nämlich ganz deutlich selbst dem, der nicht viel Griechisch versteht. Wenn man Augen und Ohren aufsperrt, auch auf den Inseln.
Bei mir ist sozusagen die Verklärung meines bevorzugten Reiseziels verflogen, die mich noch mit 35 oder 40 zu Schwärmereien beflügelt hat. Wenn ich heute orgiastische Jubeltexte über Hellas im Stil der Aufbruchstimmung der Massen noch in den frühen Achtzigerjahren Richtung Südosteuropa lese, wird mir fast übel. Ein neulich erschienenes Buch über eine meiner Lieblingsinseln im Dodekanes mit stilistisch äußerst gewagt formulierten Bildern und Assoziationen fällt für mich beispielsweise in eine solche Kategorie.

Es sind mehr Besitzlose geworden, die man heutzutage auf den Straßen von Piräus sieht. Einer von ihnen hält in seiner Gasse ständig Autos auf, um irgendwelche Oboli zu ergattern, die Autolenker nehmen es gelassen, kennen ihn allmählich.
Andere durchwühlen Abfalltonnen nach Essbarem. Ganz Heruntergekommene nächtigen am Straßenrand. Einer gleich vor einer zugesperrten, verriegelten und gut vernagelten Bankfiliale. Passiert ihm nicht so oft, dass ihm ein zu ihm hinabgebeugter Tourist unaufgefordert einen Geldschein in die Hand drückt. „Gott sei Dank!“ ist die schwach geflüsterte Antwort.
Man trifft auf mehr Bettler als zuvor, an allen möglichen Ecken, egal ob arme Ausländer oder neuerdings verarmte Griechen. Die einen gehen auf die Leute zu, die anderen sitzen nur schweigend und Mitleid erregend auf ihren Plätzen.


Piräus–Spaziergang in ein neues Viertel, viel Müll und tausend Katzen

Mir scheint auch die Anzahl der streunenden Hunderotten zugenommen zu haben, die ich auf einem langen Spaziergang zur SW–Spitze der Großstadt Piräus wahrnehme. Und die der frei herumlaufenden Katzen.
Gerne erforsche ich immer wieder neue Viertel in mir fremden Städten. Dafür opfere ich sogar Museumsbesuche oder Musikveranstaltungen. Wo, wenn nicht hier in einem der Sammelpunkte aller möglichen Inselgriechen und allgemein der weniger Betuchten lernt man ganz nebenbei Land und Leute besser kennen?

Schon in einer Parallelstraße der Aktí Miaoúli hinter dem südöstlichen Hafenbereich beginnt der Verfall, bröckeln Fassadenteile ab, lagert Bauschutt auf den schmalen, halb zerbrochenen Gehsteigen. Ein paar verkommene Geschäfte, verwaiste Passagen, eine leblose, finstere Gegend. Nach Passieren eines Eckhotels treffe ich auf eine belebtere Straße, überquere sie, gehe an dem Straßenzwickel nahe der Ágios–Nikólaos–Kirche südwärts weiter. Ein Geschäftsviertel.
Rechts abbiegen, im Zickzack lande ich auf der geschäftigen Chatzikiriákou–Straße, einer langen, kerzengeraden Magistrale mit häufigem Busverkehr und einfachen Wohn– und Geschäftshäusern. Keine große Schönheit, und in manche Nebenstraße schaut man besser nicht hinein. Wenn man es doch tut, lassen sich die Müllberge (ein Relikt des großen Streiks?) und die Hundertschaften von Katzenelenden darauf in wenigstens einer Gasse garantiert nicht übersehen.
Balkonlandschaften mit einfachem Mobiliar, Vogelkäfigen, der einen oder anderen neugierig herablugenden Bewohnerin. Verparkte Trottoirs vor schmucklosen Läden. Gar nicht so viel Verkehr für einen Samstagmorgen.
Die Klisóvis–Straße, eine Nord–Süd–Magistrale, durchschneidet mein langes Straßenband in zwei Hälften, die westliche weniger belebt als die östliche.
Ich gehe an der Ampel rüber zur Südostecke eines Parks, daneben der Endhalt einer Buslinie, gegenüber der Südseite des Parks ein ganz einladend aussehendes Esslokal.
Vorbei an einem großen Schulkomplex, die nächste größere Kreuzung mit einer fast gleichnamigen Straße, diese hier hat aber noch einen Vornamen (Marías Chatzikiriákou).

Nun wird es ruhiger, tritt man in gefragtere, meresnähere Wohngebiete ein. Nach Süd hin eine Steigung hinauf nach Kallípoli. Ich aber bleibe im Idhréika–Viertel (Υδραίικα) und nähere mich allmählich dem Westende von Πειραιά.
Ein Seitenarm meiner nun endenden Hauptstraße taucht hinunter zu den vertieft liegenden Erdgeschoßen großer Wohnhäuser, eine ruhigere Nachbarschaft, trotz ab und zu einparkender Autos.
Schluss meiner westwärtigen Gehrichtung ist endlich vor dem Tor irgendeiner großen Seefahrtsschule hoch über dem Saronischen Golf, knapp außerhalb des Hafens von Piräus.

Rechts vor der Einfahrt befindet sich eine ziemlich nobel aussehende Taverne, aus einem PKW wird gerade ein Zentner Fisch für die abendlichen Esser ausgeladen. Wie sollte mir da nicht das Wasser im Mund zusammenlaufen? Bestimmt ein empfehlenswertes Speiselokal, wenn auch abgelegen. Doch zum Glück ganz weit weg von der allseits bekannten Fressmeile des Limáni Zéas, des Pasalimáni. Hat bestimmt sein Publikum.

Nun schlendere ich durch eine enge Gasse nordwärts, durchquere ein weiteres reines Wohnviertel. An dessen NW–Rand angelangt, stoße ich auf einen kilometerlangen Zaun, der die etwas unterhalb liegende riesige Teerfläche der westlichen Hafenzone vor unerwünschten Besuchern schützt. Ein Straßenstück zu besagter Seefahrtsschule hin ist randlich vollgepackt mit einem gigantischen Müllgebirge, das man in größter Not hier aufgetürmt hat, um wenigstens den Gestank vor der eigenen Haustür zu verbannen. Er harrt seiner hoffentlich baldigen Abtragung entgegen.
Weitergehen auf der Proponídhos–Straße in nordöstlicher Richtung. Zu meiner Rechten die privilegierten Wohnblocks mit ihren Dachterrassen und großen Balkonen. Wer hier zu Hause ist, zahlt bestimmt eine hohe Miete. Denn diese Ecke ist nicht nur gut mit einer würzigen Brise von See her durchlüftet, sondern gewährt auch großartige Ausblicke über den westlichen Hafen von Piräus, auf die angrenzenden Großstadtgemeinden und bis hinüber nach Salamína und hinaus auf den Golf mit seiner Unzahl auf Reede liegender Schiffe.

Gegenüber auf der Drapetsóna–Seite des Hafenbeckens liegen einige Dodekanes–Fähren vor Anker, warten auf ihre nachmittägliche oder abendliche Abfahrt. Orangefarbene Schornsteine mit blauem Stern, weiße Aufbauten und dunkelblaue Rümpfe. Ab und zu zieht ein Delphíni, ein Tragflächenboot, oder ein kleineres Schiffchen nach Égina und anderen Inseln des Saronischen Golfs vorüber, nur selten ein größeres Kaliber von Fähre.

Bei einer kleineren Grünanlage dreht die Straße nach Ost, hinein ins Viertel. Die Anlage dient Kindern als Spielplatz und Hundehaltern als Anziehungspunkt fürs Gassigehen. Eine regelrechte Feiertagsstimmung breitet sich aus. Erst gut nach Mittag wird es etwas lebhafter werden.
Kurz darauf finde ich mich auf der Marías–Chatzikiriákou–Straße wieder, lasse mich hafenwärts treiben. Wieder diese pittoresken, teils ärmlichen kleineren Geschäfte, auch mal ein Friseur oder ein Café.
An einem für griechische Verhältnisse etwas eigenartigen Kirchenbau vorbei gelange ich so zum Beginn der großen Uferstraße unweit des Hafens, die sich anfänglich Aktí Xaverioú nennt. Nach wenigen hundert Metern wird sie zur unendlich langen Aktí Miaoúli werden. Hier draußen in dieser nüchternen, wenig einladenden Gegend mit viel seitlichem Beton befinden sich eine Unmenge Anfangs– bzw. Endstationen städtischer Buslinien. Endlich habe ich einmal ihre Grenzen erreicht.
Kaum Platz für Fußgänger, auf dieser stadtwärtigen Straßenseite. Wer außer den Busbenutzern ist da auch freiwillig zu Fuß unterwegs?

Eine abenteuerlich hässliche Straßenlandschaft gegenüber den Anlegekais der Kreuzfahrtschiffe mit den Gebäuden der Hafenverwaltung. Viele Meter tief könnte ich mich auf meiner Gehwegseite hinabseilen in unbeachtete Schächte, betonierte Schluchten für Ratten und Obdachlose, darüber eine ärmliche Hausfassade, irgendein verlorener Holzbau, Wohnung für die Armen.
Erst am großzügig weiten, modern gestalteten Melína–Merkoúri–Platz gleich östlich der Kreuzfahrer wird es wieder etwas menschlicher, ein wenig gemütlicher. Das findet bestimmt auch der Großclan von Bellos aller Größen, der just hier sein Unwesen treibt. Verstaubte, verlauste Hundeseelen, arme Viecher, die doch auch dazugehören wollen zur Stadt und ihrer Bewohnerschaft. Sie haben es nicht leicht, ihre Mägen wenigstens halbwegs zu füllen, sind aufs Mitleid der Barmherzigen aus der Nachbarschaft angewiesen.

Irgendwo hier passiere ich den auffällig noblen und respektabel erscheinenden Stammsitz einer Handelsreederei. Schiffsmodelle in sehr dezent gehaltenen Schaufenstern, sonst keinerlei Einblicke in die dunkle Eleganz. Wirkt fast wie eine Zentralbank, wie eine abweisende, uneinnehmbare Festung.

Spätestens hinter der Ágios–Nikólaos–Kirche trete ich wieder ein in ein mir etwas vertrauteres Viertel näher dran am Fährenbereich. Immer noch relativ weit zu meinem Hotel, das ganze östliche Endstück der Aktí Miaoúli entlang. Am meisten beeindrucken mich die vielen Kioske, einer nach dem anderen, an denen man auch nachts noch einkaufen kann, wenn die Geschäfte schon geschlossen haben – die Rettung für so manchen Spätankömmling.


Ein Ausflug nach Salamína

Kurz ausruhen im alten, einfachen Kafenío. Dann wieder zurück zum Park bei der Kathedrale der Agía Triádha, der Hl. Dreieinigkeit.
Hafenwärts einige Busendhalte und ein Häuschen mit Fahrkartenverkauf. Ich nehme wieder mal gleich zwei Tickets, für Pérama und zurück, aber man kauft ja längst nicht mehr nach Zielen, sondern hat eine gewisse Zeit zur Verfügung, die Busse inkl. Umsteigen zu benutzen.

Heute hab ich es im Fährhafen von Pérama etwas ruhiger erwischt. Mein Boot, eine vergleichsweise große, offene Autofähre mit Passagierdeck darüber, wird nicht einmal voll. Aber es legen immer wieder neue Fähren an, und da hier nur Platz für vier oder fünf von ihnen nebeneinander ist, müssen auch halb volle Schiffe bald ablegen.
Im Schatten und Abseits der Großen das kleine, schaukelnde, geradezu mickrige Boot mit allseitig geschlossenem Verdeck, das für etwas weniger Geld lediglich Passagiere auf derselben Strecke befördert.

Die Fahrt dauert vielleicht 20 Minuten, soweit ich mich erinnere. Man überquert die Meerenge von Sálamis/Salamína mit Dauerblick auf die Insel, nach Nord hin auch tief hinein in die Bucht von Eleusis/Elefsína.
Am faszinierendsten finde ich die durch einen Damm mit dem Kriegshafen von Salamína verbundene Nebeninsel Ágios Geórgios. Verfallene und verfallende Häuschen im Stil eines verstreuten Militärlagers oder einer Strafkolonie überziehen dieses gartenartig begrünte Eiland. Ein mächtiger Bootsanleger deutet auf eine ausgeprägte Nutzung zu irgendwelchen Zwecken hin.
Ja, gleich nordöstlich meines Ankunfthafens liegt ein ausgedehnter Marinehafen mit einer Anzahl älterer Kriegsschiffe, dahinter etliche Lagerhallen und Unterkünfte. Seit Xerxes’ Zeiten hat sich an dieser historisch entscheidenden Stelle die Marinepräsenz erhalten.

Paloúkia, mein Zielhafen, ist nicht gerade eine Augenweide. Natürlich beeindruckt die Zahl der vor Anker liegenden Fährschiffe – es sind, über etwa 1 km verteilt, gut über 20 Stück, die eng nebeneinader vertäut sind. Doch nur die in der östlichen Hafenecke sind aktiv.
Ansonsten eine breite Rennbahn für den Autoverkehr, der hier bei jeder Schiffsankunft übermächtig werden kann. Danach wird es wieder ruhiger. Auch Linienbusse warten, doch ich will ja zu Fuß gehen. Anregend finde ich dann nur die Düfte eines Souvlákigrills vor einem Laden der Häuserfront etwa 300 m weg von meiner Ankunftsstelle, ich nehme mir vor, hinterher dort etwas zu essen und die bereits wartende Katze zu ignorieren.
Bald flüchte ich ins zweite Glied der Bebauung, mit Erfolg, denn hügelwärts wird es tatsächlich etwas pittoresker und anheimelnder, wenn auch in Maßen.
Bei einem Verkehrskreisel komme ich wieder auf die Uferstraße raus, überquere sie und wende mich südwärts. Leider wirkt hier alles so uninspirierend, so öde und 0815, dass ich nicht scharf darauf bin, vielleicht noch 2 km nach West in den eigentlichen Ort Salamína weiterzuwandern.
Einige Minuten verbringe ich an einer abgelegeneren Stelle weg von der Straße beim südwestlichen Hafenende und schau mir die vom Wind etwas aufgepeitschten Wellen an, dann kehre ich um.
Als ich noch einmal bei dem winzigen Souvláki–Grill vorbeikomme, wird mir klar, dass sich hier nur die Angestellten einer Metzgerei ihr spätes Mittagsmahl bereiten – keine Chance für mich.

Nehme mir vor, das nächste Mal gleich per Bus loszustarten und entlegenere Inselgegenden zu besichtigen. Das war ansonsten nix Besonderes, heute Nachmittag! Immerhin eine erste Fühlungnahme.

Am schönsten wird dann die Rückfahrt mit den einfachen Leuten, nicht wenige „Gastarbeiter“, auf dem um einige Cent günstigeren kleinen Schaukelboot. Das hat zwar Fenster, aber die sind zu verschmutzt bzw. mit Sonnenblenden verdeckt, sodass man fast gar nichts sehen kann.
Es wird eine wilde Kurverei und Schaukelei bei laut herumgrummelndem Motor, die sich Gegenübersitzenden wissen nicht recht, wohin sie gucken sollen, und zum Schluss dauert es wegen eines Ausweichmanövers so richtig lang, bis wir endlich in der wirklich „letzten“ (streng genommen „ersten“) Ecke des Fährhafens von Pérama angelegt haben. Hätte es noch länger gedauert, wäre ich bestimmt sehr blass von Bord getorkelt.

Hinein in den langen Gelenkbus wieder etwa 250 m östlich, am Busendhalt. Die Hälfte der Scheiben ist ziemlich trüb wegen der Großpunkte einer Zier– oder Werbefläche. Es geht wieder sehr zügig erst in die unteren Ortsteile dieses illegal erbauten Stadtquartiers hinein, dann auf der Rennstrecke entlang der Reparaturwerft und des Container– und Handelshafens ins Zentrum von Keratsíni und im Affenzahn weiter durch schmale, verkehrsreiche Straßen bis zur Metrostation von Piräus, wo ich aussteige.


Sich rumtreiben in Piräus

Es gibt einen wunderbaren Kräuterladen in der breiten Dhimitríou–Gounári–Straße, auf ihrer rechten Seite stadteinwärts und weg vom Hafen, kurz nach der Marktgasse, die zum Tríton–Hotel hinterführt. Dort lässt sich beispielsweise Mastix (μαστίχα) aus Chíos erstehen, dessen unterschiedliche Qualitäts– und Härtestufen preismäßig von teuer bis sehr teuer reichen. Tut jedenfalls dem Magen gut, so etwas zu kauen, man bringt es gerne Freunden auf Bestellung mit. Auch in geschlossenem Zustand duftet dieser Laden Dutzende von Metern weit in die Nasen der Passanten, eine echte Wohltat bei all den Autoabgasen.
Eigentlich hatte man mir ja den Chíos Shop noch etwas weiter stadteinwärts empfohlen, den ich in einer Nebengasse links rein auch ortete. Er war leider immer geschlossen.

Ein sehr leckeres Mahl nahm ich in einer unscheinbaren Taverne gleich um die Ecke des Kräuterladens ein, an dem rechteckigen Platz mit der Tiefgarageneinfahrt und den Marktständen zumindest am Wochenende. Eine Seite des Triton–Hotels liegt gleich gegenüber.
Umgeben von zwei Fischgeschäften mit Unmengen vielfältigster frischer Ware sieht man an zwei oder drei Tischen draußen Einheimische sich vom Marktgeschehen ausruhen und eifrig parlierend nebenbei große Platten diverser Fischvorspeisen verzehren. Um sicherzugehen, auch das Richtige zu bestellen, frage ich erst an einem Tisch nach, wie das Gericht denn heiße und schmecke. Ganz einfach: „Psaromesédhes“, und die seien sehr zu empfehlen, ich solle keine kleine, sondern unbedingt die große Platte bestellen!
Auch die etwas kleinere Version hat mir genügt – genau das, was mir so schmeckt, zusammen mit einem Viertel Wein.
Nur etwa 30 m von hier aus weiter die Gasse zum Hafen hin liegt rechts noch ein einfach aussehendes Rembétiko–Lokal, das natürlich erst später am Abend öffnet.
Wegen der Marktatmosphäre, den vielen Einkaufsmöglichkeiten (auch ein Kreta–Shop ist nahebei), den Fischgeschäften und dem Tavernchen ist dieser Platz zu einer meiner Lieblingsecken in der näheren Umgebung meiner Unterkunft geworden. Bestens zum Zuschauen geeignet, und hat man einen freien Tisch draußen gefunden, auch ein guter Tipp zum einfachen Essen in absoluter Hafennähe. Doch drinnen in dem schlauchartigen Lokal mit den vielen Fotos und Bildchen an den Wänden lässt es sich natürlich ebenso stimmungsvoll speisen.

Es muss wohl am Sonntag gewesen sein, als ich zufällig auf den riesigen Straßenmarkt in der etwas schäbigen Alipédhou–Straße stieß, direkt die Begrenzungsmauer südlich des Schienenstrangs aus der Metrostation Piräus Richtung Innenstadt von Athen gelegen.
Es sei gleich vorweg gesagt, dass es sich nicht um einen pittoresken Einkaufs– oder Flohmarkt wie den an der Platía Avissinías im Monastiráki–Viertel von Athína handelt.
Ganz im Gegenteil, dieser hier ist eindeutig für die Loser der Gesellschaft da, für die Armen und Verarmten oder solche, die nur sehr wenig ausgeben wollen. Geboten ist so ziemlich alles, was China, Indien, Thailand und andere Billiglohnländer im untersten Kaufsegment zu offerieren haben. Der Renner scheint eine schrecklich bunte Art von Mopp mit ebenso buntem Plastikgestänge zu sein, das Modell wird alle 5 oder 10 m angeboten. Schmuggelzigaretten kann man übrigens als Einzelschachteln erstehen, man muss keine Stange nehmen. Angeboten wird das alles von Heerscharen schwarzhaariger, pakistanisch oder indisch oder auch mal schwarzafrikanisch aussehender Unterprivilegierter.
Mit zunehmender Vormittagsstunde wird das Gedränge dichter, bis man schließlich auf seine Schiebekünste in der Masse vertrauen muss.

In derselben Gasse liegt ein ärmlich aussehendes Kafenío, das am Vortag noch richtig verwaist gewirkt hatte. Nun aber platzt es aus allen Nähten vor Leuten, die unbedingt eine Sitzgelegenheit suchen.
Das große Amstel kostet heute nur 1 Euro 50, die kleinen warmen Mahlzeiten kosten nicht die Welt. Man merkt richtig, wie die ganz einfachen Leute mal so richtig einen draufhauen, sich einfach mal etwas leisten möchten und hier auch können. Die Tische biegen sich vor lauter Essen (viele Psarákia darunter) und Gläsern und Flaschen, Neuankömmlinge haben nur eine Chance, wenn sie auf eine Clique aus ihrer Bekanntschaft stoßen.
Sind schon sehr interessante, ausgefallene und auch schräge Typen darunter, teils zum Fürchten. Kein Wunder, dass ich der einzige anwesende Tourist bin, hier traut sich nicht so schnell ein wohlhabender Reisender herein.
Wie durch ein Wunder finde ich einen Platz gleich am Eingang und bestelle eine leckere Bratwurst mit Fritten und was zu trinken. Es dauert eine Ewigkeit, der Wirt hinter der Theke und an der Kochstelle ist im Vollstress, seine äußerst geschäftstüchtige Frau bedient.

Tausende ziehen in geringem Abstand die Gasse entlang an mir vorbei. Unvorstellbar, wie viele Leute nun auf die Schnäppchen auf so einem Billigmarkt angewiesen sind. Das meiste kostet nur einen Euro.
Als ich endlich meine Rechnung begleichen kann, bin ich nicht erstaunt, eher normale Preise darauf zu finden, ich Fremdkörper in einer Welt der Underdogs. Ich hab bestimmt nicht vor, mich darüber aufzuregen.
Dafür hab ich einmal hineingeschnuppert in eine andere Welt, in ein irres Schauspiel, das sich bei uns vielleicht noch in den Zwischenkriegsjahren geboten hat, nun aber längst passé ist.
Wenn man nicht dazugehört, gibt man leicht der Verlockung nach, so etwas faszinierend zu finden, trotz allen Grübelns über Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit bei der Verteilung des Wohlstands auf unserem Planeten.

Eines der großartigsten Schauspiele meiner bisherigen Griechenlanderfahrung fand ganz woanders statt, an einem geweihten Ort: In der prächtigen Kirche der Agía Triádha, dem größten orthodoxen Gotteshaus weit und breit.
Ohne wenigstens ein halbes Stündchen mit den schönen Wechselgesängen unter byzantinisch bemalten Kuppeln geht es irgendwie nicht bei mir, das muss einfach sein.
Dass ich das Gotteshaus zu einer Zeit betreten würde, da eine Predigt angesagt war, konnte ich nicht ahnen.
Der Prediger war ein würdevoller, gar nicht so alter (schätzungsweise) Erzbischof. Er strahlte es zumindest aus, sein Auftreten war ganz danach. Ein Kirchenmann mit einer wohl steilen Karriere, möchte ich behaupten.
Aufbau, Gestik und Tonfall bei der Rede vor der versammelten reicheren, sehr gut gekleideten Minderheit der Bürger von Piräus fügten sich zu einer viele beeindruckenden, gekonnt gespielten Hauptrolle zusammen.
Es ging wohl um einen kleinen Heiligen, dessen Leben einem vorgehalten und empfohlen wurde, die Gesättigten hörten andächtig zu. Was der Kirchenmann an Theatralik aufbot, war fast ungeheuerlich. Man könnte auch sagen, einfach eine Spur zu dick aufgetragen. Jede Betonung war einstudiert, wahre Crescendi von einiger Länge waren eingeflochten, von ganz leise bis zum Schrei – alles aber so, dass die Würde gerade noch gewahrt blieb. Wenn ich da an den meist recht künstlich und frömmelnd klingenden Singsang der Stimmorgane vieler katholischer Geistlicher denke, kann ich nur sagen: Wesentlich schlechter im Vergleich zu unserem griechisch–orthodoxen Erzbischof!
Aber es schafft es ja auch nicht jeder auf so einen Posten. Da muss schon einiges stimmen für die Oberen, da muss man seine Fähigkeiten bewiesen haben.

Lustig, wie nach dem Ende des Gottesdienstes einige Bettler näher an die Kathedrale heranrückten. Sie wussten es ja schon, was sie zu erwarten hatten.
Gleich gab es vom ersten der überraschend bald herauskommenden Geistlichen, die beim Gottesdienst assistiert hatten, demonstrativ die offenbar übliche milde Gabe für die Bettler. Ein Ansporn für das gut situierte Bürgertum, es ihm nachzutun.
Wie wir alle wissen, drückt sich das Gros des Bürgertums gerne vor solchen Pflichten.


Schrecknisse der letzten Nacht

Der Portier meines Hotelchens ist ein netter Mann. Auch alle anderen der wenigen Angestellten sind nette Menschen.
Vielleicht hat es der Besitzer darauf abgesehen, deutschen Gästen einen Denkzettel zu verpassen? Oder auch nicht, dann ist es Zufall.
Nie im Leben hätte ich es der üppig ausgestatteten Fernbedienung meines Zimmer–TVs zugetraut, nur einen einzigen Sender herzubringen. Und das im Großraum Athen. Ist aber leider so, ein Fakt.
Den ganzen Abend lang habe ich keine Wahl, müsste mir lauter Kriegsfilme ansehen, in denen deutsche Besatzer auf griechischen Inseln italienische und griechische Soldaten haufenweise standrechtlich erschießen und ganze griechische Dörfer massakrieren. Dieser üble Fernsehsender liegt zu diesem Zeitpunkt voll im Anti–Merkel–Trend. Da passt wirklich alles. Schade, das Brunnenvergiften in so wackeligen Zeiten müsste derart plump wirklich nicht sein.
Sind wir letztlich nicht alle aufeinander angewiesen?

Copyright puchheim = MartinPUC, Mai 2012