Samothráki, die einsame, ganz eigenartig Schöne
(22. – 24. Mai 2004)

Copyright puchheim = MartinPUC, 2004, 2006


April 04. In Paris

Ausnehmend kühl, nur eine Spur milder als bei uns zu Hause, diese Aprilwoche in Paris. Es war vorher bestimmt deutlich wärmer, aus dem Zugfenster gut zu erkennen an der fortgeschrittenen Vegetation, die unseren Frühling bereits um zwei Wochen geschlagen hat.
Nun aber kältelt es wieder, und die Plakate der griechischen Zentrale für Fremdenverkehr in den Metro–Bahnhöfen machen durchaus Sinn:

Greece((auf Englisch)) – vôtre meilleur exploit. „Greece – Ihre größte Heldentat“, etwas ironisch formuliert und auf den kleinen Schritt der Eigeninitiative anspielend. Davor noch der Satz mit der schier unwiderlegbaren Aussage, dass es in Europa seit allen erdenklichen Zeiten nur ein Land mit so viel Sonnenstunden gebe.

Es wäre verlockend, einen dritten Tag zusammen mit weiteren 15.000 und mehr Besuchern im Louvre zu verbringen.
Noch einmal zu De la Tour mit seinen packenden mystischen Kerzenszenen, oder Chardin mit seinen prächtigen Stillleben, oder zum unvergleichlichen, Laute spielenden Hofnarren von Frans Hals, an dem so viele unberührt vorübergehen. Oder den Rembrandts, besonders dem kleinen „Philosophenbild“ mit seinen Kontrasten aus heller Erleuchtung und dem tiefen Dunkel, der Spiraltreppe und der Kellertür, dem geistig Versunkensein, den Höhenflügen der Gedanken und daneben den Notwendigkeiten der Existenz, der unbeteiligten, das Feuer schürenden Hausangestellten.
Zu den beiden Köstlichkeiten Vermeers, zu dem für seine Zeit kühn in Pink– und Violett–Tönen malenden Rosso Fiorentino, dem nahen Pontormo–Bild, das, abgesehen vom Zauber des leuchtenden Gelb–Rot der Gewandfalten einer der Figuren, so sehr an Dürers derbgesichtige Gestalten erinnert.
Oder zu Vasaris herrlicher Verkündigung, Melendez’ Überfliegerstillleben, hinter der Staffelei einer Kopistin verborgen, und zu den wenigen Goyas.

Schnell vorüber insbesondere an der ständig belagerten zweitklassigen Mona Lisa – aus zwanzig Metern Entfernung halten sie schon die Digitalkameras hoch, obwohl etwa 100 m weiter in der langen Galerie viel bessere Da Vincis zu sehen sind.

Aber ich denke auch gerne an GRIECHISCHES im Louvre zurück – ganz zu schweigen von den Schätzen der ägyptischen Sammlung. Die gut ausgestattete griechische Skulpturengalerie (es gibt zwei davon im Louvre), ein herrlicher lächelnder Koúros, die uralten Kykladenidole von Kéros, Sýros und den Nachbarinseln.

In Stein gemeißelt die „Victoire de Samothrace“, die Großstatue der arm– und kopflosen Nike von Samothráki mit ihrem marmornen Flügelwunder, in stolzer, gerader Haltung auf klotzigem Schiffsbug verwurzelt. Sie überrumpelt von ihrer hohen Warte aus jeden, der das imposante marmorne Treppenhaus zu ihr hinaufsteigt. In der Tat überwältigend, so ein Anblick, keiner kann sich ihm entziehen. Eine Tafel mit Kommentar an der Wand. Ich werde neugierig, will mehr wissen, mehr sehen.

Es nimmt einen ganz schön mit – im Glück zu schwelgen, sich tagelang mit den herrlichsten Kunstschätzen der Welt auf Tuchfühlung zu wissen.


Mai 04. Auf Samothráki

Geschrieben nur aus der Erinnerung.

Der erste Tag

Ein paar Wochen später. Dies ist wieder die Níssos Límnos von SAOS–ANES Lines, und es ist früher Morgen, kurz nach sechs, und Samstag, der 22. Mai 2004.

Wir sind auf Höhe des Kaps Moúrtzouflos – Erinnerung an eine Figur bei Kazantzakis –, der Nordwestspitze der Insel Límnos, und nehmen Kurs auf Samothráki, das diesen Morgen noch lange im Dunst verborgen bleiben sollte – wie oft hatte ich es von Límnos aus ganz klar konturiert gesehen!

Endlich habe ich beim Vorbeifahren am Kástro–Berg einen kurzen Blick auf das Rudel Rehe in einem abgegrenzten, waldartigen Burgbezirk werfen können. Schon irre – Rehe auf Límnos.

Eine Zeit lang hab ich mit zusammengekniffenen Augen den Meeresspiegel gescannt und bin überraschend fündig geworden: Eine Schule Delphine, nur ein paar Tiere, begleitet mit eleganten Hüpfbewegungen, die Wellen durchsichelnd in vielleicht 250 m Entfernung das Schiff, genau beim Kap. Sie tummeln sich in all ihrer morgendlichen Lebensfreude, die Tümmler, da sind die vielen morgenaktiven Seemöwen, die sich aufgewirbelte kleine Fische an den Schiffsflanken schnappen, kurzfristig ganz vergessen.

Drei ältere deutsche Landsleute, darunter ein waschechter Bayer, haben sich ebenfalls auf dem Achterzwischendeck der N. L. positioniert, staken wie ich mal dahin, mal dorthin, entdecken von Bord aus ihnen bekannte Gegenden, um Ágios Jánnis. Sie sprechen von einem Künstler, den sie auf Límnos getroffen haben. Ob die eine Frau, hörbar von der Ruhr (im weitesten Sinn), vielleicht die Gattin des Wirtes der einen Taverne noch hinter meinem Wohngebiet in Mírina war? Sie machen einen Ausflug, kehren nach einer Ü auf Samothráki wieder zurück nach Límnos.

Vergebens halte ich Ausschau nach der Insel Thássos, die sich wie der Áthos diesen Morgen einfach nicht zeigen will.

Die Trabanteninsel Serjítsi (Sergítsi) und die buchtenreiche Nordflanke von Límnos sind allmählich passé, die Konturen der anderen Kabireninsel schon eine halbe Stunde lang in Erscheinung getreten, als mich eine zierliche Person mit Bubikopf und guter Ausstrahlung sendungsbewusst anspricht. Ich suche auf der verkehrten Seite, meint sie, Samothráki liege direkt vor und etwas rechts von uns. Aha, meine ich – ich suche doch immer noch nach Thássos, der einzigen Insel, die ich hier vermisse!

Die in Athen arbeitende Französin ist unterwegs zu ihrem griechischen Partner in der letzten Siedlung des Inselsüdens namens Kitáda (Κοιτάδα) – den Namen merke ich mir, aber ich sollte das „Dorf“ trotz Suche nie finden – ich weiß auch, warum.
Meine Gesprächspartnerin (wir sprechen Griechisch, sie perfekt, ich eher notdürftig, so gut ich eben kann) ist der Ansicht, der Süden von S. biete Griechenland in höchster Perfektion, wie es typischer nicht sein könne. Da werde ich schon skeptisch – für mich ist das eine Definition für Kreta, verbohrt wie ich bin, und vorgeformt. Aber aufhorchen tu ich trotzdem, denn die Frau wirkt recht intelligent, und es ist das erste Mal, dass jemand mir gegenüber im persönlichen Gespräch gerade den Süden von Samothráki so explizit hervorhebt. Der gilt doch als so kahl und im Vergleich zum wald– und wasserreichen Norden als geradezu uninteressant!

Von unserem Nordwestkurs aus betrachtet liegt eine recht zusammengestauchte Hochgebirgsinsel (wenn auch unter 2.000 m, also streng genommen keine) vor uns. Sie wirkt höchst imposant, mit ihrer langen Gipfelkante und den steil abfallenden West– und Ostenden. Aber bestimmt nicht wie ein gleichmäßig zum Inselinneren ansteigender Bergkegel – das Gegenteil, eher eine längere Gipfelkette mit mehreren Bergstöcken. Viel länger als 20 km Luftlinie ist sie wohl kaum.

So genau wie ich es sonst immer mache, kann ich sowieso nicht die sich nähernden Küsten und Berge anpeilen, schließlich unterhalte ich mich ja mit jemandem – auch über die Insel.

Die Níssos Límnos hält auf die Westspitze der im äußersten Inselwesten gelegenen, flachen bis sanft hügeligen Landzunge zu, erstaunlich viel Ackerland erstreckt sich in diesem an Südengland erinnernden Teil von Samothráki – „Livádhia“. Das viele Getreide ist noch grün, einzelne Laubbäume lockern die Szenerie auf.

Einige Kilometer südostwärts sind Hangdörfer auszumachen, dahinter dunkle Wälder und der nackte Fels mit einer Reihe von Gipfeln darüber, keiner ragt besonders hoch über seine Nachbarn hinaus, aber sie beeindrucken in ihrer wuchtigen Gesamtheit, als klotziges Ensemble.

Auf dem nach West länglich zugespitzten Kap Makrívrachos ragen vier (oder waren es drei?) Windkraftwerke mit ihren Rotoren in die Höhe. Dieses Kap bildet auch schon den Eingang zur Bucht von Kamariótissa, dem Hafenort der Insel.

Überhöht auf einem Minihügel am Meer grüßt uns die Ájios–Nikólaos–Kapelle, meine Zuflucht zu gefährlicher Stunde. Die ersten vereinzelten Häuser säumen die Küstenpiste hinaus zu den Rotoren. Nun zeigt sich das grüne Licht, die rechte Hafenmole ist erreicht, und die N. L. beginnt ihr Wendemanöver.


Erste Fühlungnahme mit Kamariótissa

Der Ort zieht sich die Küste entlang, sieht recht neu aus. Nicht gerade sehr inspirierend, aber auch nicht hässlich. Etliche ganz schön große, fast riesige Fischkutter säumen den Hafen. Die kleineren Boote fallen neben ihnen kaum auf. In diesen Breiten muss es sich noch lohnen zu fischen.

Da ich mich nicht besonders über Zimmer vorinformiert und auch das Buch der Schwabs nicht gekauft habe, setze ich mich zuerst einmal in ein recht verlassenes Kafenío neben dem Zeitungs–, Buch– und Souvenirgeschäft eines jungen Typen und sehe dem Entladen meiner angekommenen Fähre zu. Ein Tisch ist besetzt, aber der Kafetzís lässt sich nicht blicken. Es hat keinen Sinn, der kommt einfach nicht, ist wohl beim Schiff.
Auf meine Frage, wo es Zimmer gibt, sagen sie: überall! Links oder rechts. Ich wende mich nach rechts, nach Nordost. Setze mich vor die nächste Ecktaverne bei einer Gasseneinmündung, die zu dieser noch frühen Stunde als Kafenío fungiert.

Die haben auch ein Zimmer für mich, etwas das Gässchen hinter, Blick in einen ruhigen, schmalen Garten mit Bäumen und Krempel, Mauer– und etwas Himmelsblick. Ein schmaler Balkon läuft an allen Zimmern dieser Seite des Stockwerks entlang. Irgendwo wohnt noch ein Gast, aber nicht auf dieser Balkonseite. 20 Euro kostet es, vorausgesetzt ich bleibe länger als nur eine Nacht, darauf legt die Wirtin großen Wert, betont es mehrmals.
Komme ich vor meiner Unterkunft an oder verlasse ich sie, liegt unten auf der Gasse stets ein netter, aber etwas verstörter Hund, einer dieser lieben Streuner, der nicht so recht weiß, was er mit sich und mir anfangen soll. Gleich gegenüber ein Souvenirladen mit ganz vielen weißen Nikes von Samothráki zur Auswahl.

Wenn man hinten aus der Gasse rausgeht, bei dem Minimarket ankommt, dann nach links dreht, ist man nach wenigen Schritten auf dem Kirchenvorplatz, einer anderen Grünanlage mit zahllosen Schnecken auf dem Pflaster. Geht man durch den Torbogen, linker Hand die Telefonkabine, steht man dem Motor– und Fahrradverleih eines Deutschen gegenüber – er sah zumindest sehr deutsch aus. Sein Fuhrpark wirkte äußerst gepflegt. Miá chará! Eine wahre Freude.

20 m weiter, links abwärts Richtung Hafen, findet sich rechter Hand ein vorzügliches Bougátsa–Etablissement mit Außenterrasse. Für 1.50 Euro kriegt man dort seine schmackhafte Portion Bougátsa plus ein Glas Wasser, ob Kréma oder nicht, egal: immer bestens! Ich war viermal dort, das letzte Mal am frühen Abfahrtsmorgen. Der bei der permanenten Backofenhitze im Hinterstübchen ständig total verschwitzte, extrem eifrige Kleinunternehmer hat’s mir durch freundliche Anerkennung gedankt.

An Samstagen ist das Busnetz ziemlich ausgedünnt, auf Samothráki, ein italienisches Paar klagt mir sein Leid. Sie wollen nach Profítis Ilías, einem Dorf zu Füßen des gleichnamigen Prophetenbergs an der Südseite der Insel. Dafür müssen sie ziemlich lange warten – wenn überhaupt was geht. Ich schlage vor, wir könnten uns zusammen ein Taxi teilen, nachmittags, aber sie ziehen nicht so recht.

Wir wissen nicht, ob die hinter den Windschutzscheiben der bei der Hafenfront geparkten vier Inselbusse angebrachten Busfahrpläne noch gültig sind, stellen bald fast wohl schon, denn der Busfahrer kommt ab und zu ganz ohne Hektik, besteigt immer dasselbe auserwählte Gefährt und startet mit einer oder zwei Personen Richtung Chóra.
Richtung Thérma heißt es einige Stunden warten. Was muss man auch wochenends hier anlanden!

Mein erster Rundgang die Uferstraße entlang führt bis zum östlichen Ortsende, einem verlassen scheinenden Hotelkasten, einem von dreien am ostwärtigen Ortsrand. Kurz dahinter vereinigt sich die Uferstraße mit der landeinwärtigen Parallelgasse zur Inselstraße in den Osten bzw. Norden.

Eine ganze Reihe von Minimärkten, Tavernen und Kafenía säumen die Promenade am Fischerhafen bzw. dem Parkplatz mit so etwas wie einer Grünanlage, Bäumen weiter östlich zwischen dieser Straße und dem Strandbereich. Etwa in der Mitte zweigt im Neunziggradwinkel die Hauptstraße sowohl in das Verwaltungszentrum („Samothráki“ oder „Chóra“) hoch oben, als auch zu den Dörfern des Südens ab. Der südwestliche Teil der Hafenparallele führt bald hinaus in eine hübsche, offene Landschaft mit den ersten Getreideflächen, erst einmal vorüber an einigen neueren Cafés (plus Internetcafé), dann ein Weg hinter zu den letzten Zimmern (idyllisch, ruhig), schon weiter draußen nahe einem verriegelten, leicht verkommenen ehemaligen Tanzcafé oder dergleichen, schließlich ein Zigeunerlager – kleinere Familie. In Sichtweite die Kapelle über dem Ufer, etwa 1 km vom Ort entfernt.

Ein herrlicher, großartiger Blick tut sich einem dort draußen auf, sowohl aufs Meer als auch und besonders auf die grandiose Bergkulisse des Inselinneren. Nicht schlecht, muss ich sagen.

Seit Stunden komme ich mir wie eben einer von lediglich drei oder vier Touristen vor, das ist die Kehrseite der Medaille, oder auch das Positive, wenn man so will.
Absolut tote Hose in Kamariótissa, ziemlich triste Atmosphäre und auch nicht besonders warm.
Die Einheimischen verschanzen sich hinter ihren Kaffeetässchen und kleinen Bieren. Ja, hier sieht man immer nur die kleinen Biere, zum Leidwesen jedes gebürtigen Bayern – in Alexandroúpoli sollte es nicht anders sein. Irgendwer hat denen gesagt: weniger trinken ist gesund, und man kriegt als Wirt für die kleinen (fast bzw. genau) dasselbe Geld wie anderswo für die großen Flaschen. Das hat den Händlergeist, die Krämerseele überzeugt.

Ich kehre auf einen ersten Ouzo und etwas Mezé zur Mittagszeit in der urigen Kneipe neben der nicht weniger urigen Ticketagentur der SAOS Lines ein – wie ich es von Límnos her gewohnt bin. Wortkarge Leute hinter der Theke. Etwas unfreundlich, keine Spur von Lächeln. Die junge Frau schneidet sorgfältig meine Mezédhes auf, es sind auch zwei Fischchen und etwas Tintenfisch dabei. Aber vier Euro fünfzig ist dann doch ein leicht überhöhter Preis für den Snack. Die Leute an den beiden Nachbartischen geraten denn auch in Erstaunen über so einen Wucher, äußern sich prägnant: „Téssera penjínda!“, werfen sich bedeutungsvolle Blicke zu. Für mich war’s halt mal wieder „diplí timí“, doppelter Preis.

Angesichts dieser ausgesprochenen Tristezza und so irre wenig Touristen (die paar, die hier sind, machen jetzt bestimmt gerade ihre Tagesausflüge) möchte ich nicht gerne auffallen und bemühe mich weiterhin auf Griechisch durch den Ort, obwohl ich weiß, dass hier fast jeder Mann in Stuttgart oder Bad Cannstatt und Umgebung gearbeitet hat. Klar, ich falle sofort als Deutscher auf, aber vielleicht wissen sie meine Bemühungen zu schätzen.

Wär ich doch wenigstens zu Zeiten der Fußball–EM gekommen! Ach, was mag jetzt auf Kreta los sein, in Paleóchora, Loutró, in Sívas, Kamilári, in Léndas, Mírtos oder Palékastro! Und hier wieder in der völligen Einsamkeit. Aber schön ist es trotzdem, es war einfach mal was ganz Neues fällig!

Zur auf den Windschutzscheiben-Busfahrplänen angegebenen Stunde taucht wieder der Busfahrer auf, absolut wortkarg, von stoischer Gelassenheit, unantastbar. Mein Tipp, welchen Bus er wohl aufschließen wird, ist goldrichtig. Wieder den einen, etwas kürzeren. Ist eben noch keine Saison.


Ein erster Busausflug zur Nordseite. Die zweite Hälfte des ersten Tages

Der klein gewachsene, schwarzhaarige Mann mit der relativ hohen Stirn hinter dem Steuer fährt los. An Bord: ein englisches Ehepaar (das 100 % der anwesenden Briten verkörpert) und ich. Die beiden Geizparteien, die sich keinen fahrbaren Untersatz gemietet haben.

Musik wird angestellt, überlaute Schlager dröhnen auf uns ein, hätte ich von diesem Menschentyp von Fahrer nicht erwartet.

Unser Lenker meistert den Schwellenparcours die Uferstraße entlang wie ein echter Profi. Fast Stillstand vor jeder der Bodenwellen bzw. jedem die Straße querenden Gitter, um den Bus gebührend zu schonen.

Ortsauswärts tauchen wir gleich ein in die wunderschöne, eigenartig verlassene Landschaft der westlichen Nordküste, die erst nach einigen Kilometern durch Neubauten, geschlossene Pensionen und Tavernen an der Küste nur spotartig etwas entstellt wird. Zuvor geht es durch eine Wiesen–, Farn–, Baum–, weiter oben Oliven– und lockere Waldgegend, rechtsab von der Straße. Die einzelnen anderen, sehr ufernahen Pflanzenformationen kenne ich leider nicht namentlich. ((Rainer Karbe, Ute Latermann, helft mir – ihr Großartigen!))
Linker Hand geht es immer dicht am Meer mit seinen kiesigen, bald nur mehr steinigen Stränden entlang. Alles andere als ein Badeparadies.

Katsabás (Κατσαμπάς, auf der Road-Editions-Karte erstaunlicherweise "Κατσαμβάς" geschrieben, das hieße dann aber Katsamvás) ist passiert, und Paliápoli (alle sagen es so, also nicht „Paleópoli“, wie es auf der Karte steht) bald erreicht. Es sind zwei „Ortsteile“, ein paar hundert Meter auseinandergelegen. Der erste Stopp ist sozusagen der „richtige“, beim Kabirenheiligtum, dem „Heiligtum der großen Götter“ und dem vorgelagerten Museum. Ganz vorne in Straßennähe eine linker Hand auf einer Geländeterrasse platzierte Kapelle. Der zweite mögliche Stopp ist bei den viel viel später errichteten Ruinen eines Kástros – der Seiteneingang vom Kabirenheiligtum aus zu diesen relativ jungen Ruinen ist leider zugesperrt.

Zwischenbemerkung zur Schreibung der Ortsnamen. Auf jeder Inselkarte findet man andere Schreibvarianten. Ich nehme an, etliche davon sind tatsächlich schlichtweg falsch. Ralf Scheel, der auf Samothráki ansässig ist, hat mir freundlicherweise geholfen und einen kompetenten Griechen kontaktiert, der sich gut auf der Insel auskennt. Wenn ich jetzt griechische Schreibungen bzw. deren Eindeutschungen bringe, sind es im Zweifelsfall die auf diesem Weg abgesicherten; gelegentlich nenne ich auch andere Schreibungen, mit Kommentar.

Weiter zockeln wir vorbei an Platanen. Kariótes (Καρυώτες – da haben wir sie wieder, die Walnussbäume), erst Káto, dann Áno, ein, zwei „Dhomátia“ in Straßennähe. Südlich die hohen Berge.
Nur wenige Kilometer sind es noch nach Loutrá, oder Thérma (– zwei Bezeichnungen für denselben Ort).

Eine Taverne rechts an der Straße, ein kleiner Hafen links unten, und hier ist sie, die Abzweigung nach Loutrá, etwa einen Kilometer geht es schnurgerade hügelan. Merkwürdiger, kostspielig angelegter Gehsteig mit Lampenpfosten mittendrin, Hindernisse für die Fußgänger, garniert mit einem Bushäuschen.

Angekommen in Thérma/Loutrá, direkt beim Badehaus, das vielleicht 100 m hügelwärts rechtsab jenseits eines Baches positioniert und ganz verlassen ist, frage ich als Erstes, wann der Bus zurückfährt, denn ich hab recht schnell erkannt, dass ich mich trotz der Wochenendbesucher, lauter Griechen, in dem Kafenío mit den Platanen im ortswärtigen Vordergrund an diesem Nachmittag hier nicht ganz glücklich fühlen werde.

Der Busfahrer meint, gleich nach seinem Kaffee, in 10 Minuten. Das bedeutet für mich eine Blitztour hinter, nur ein paar Meter in den platanenüberschatteten Ort. Aber keine Bange – ich werde wiederkommen, zwei Tage später. Bei einer Pension mit gefährlich aussehendem, aber harmlosem Schäferhund davor kehre ich um und sitze vor dem Bus herum, bis der Fahrer das Kafenío verlässt und mit mir zusammen wieder einsteigt. Der Ort hat einen vor–saisonhaften, melancholischen Eindruck in mir hinterlassen, trotz der etwa 20 Besucher im Kafenío an seinem untersten Ende.

Gerne nehme ich die Gelegenheit wahr, unmittelbar zurückzufahren Richtung Kamariótissa. Das scheint ungewöhnlich, denn als ich beim Kabirenheiligtum aussteige, erlässt mir der Fahrer den Fahrpreis.

Nun stehe ich hier an der Straße, überquere sie und sehe, wie einige Frauen liebevoll die Kapelle putzen und pflegen.
Einige hundert Meter auf steinernem Pfad durch einen herrlichen Wald mit Nebenpfaden und Olivenhain sind es nun bis zum „Mousío“. Zwei Paare begegnen mir auf ihrem frühnachmittäglichen Weg zurück zum Auto. Später eine Gruppe Deutscher, deren württembergische Autonummer ich wahrgenommen habe.

Das Museum. Soll ich reingehen? Um diese Zeit hab ich eigentlich gar keine Lust dazu. Aber die Eindrücke von Paris, vom Louvre, sind noch zu frisch, und ich zahle den Eintritt und seh mir die paar Räume an.

Schande: Im Louvre steht das abtransportierte, einkassierte Original, hier also lediglich ein Abguss der „Nike von Samothráki“, besser als gar nichts. Ansonsten viele Kleinteile, Generalitäten, Generelles zur griechischen Antike, auch Zierleisten von Tempeln dieses Standortes, usw.
Im Vergleich zu Sammlungen wie der im Louvre ist das natürlich bescheiden, was hier geboten wird, und ich halte mich deshalb nicht lange auf, trage mich auch nicht ins Besucherbuch ein, weil ich nicht lügen will mit irgendwelchen hingekritzelten Schmeicheleien.

Wie schön ist es doch, im Nachhinein über diese Insel zu schreiben, denk ich mir gerade, die zweite Verlängerung Viertelfinale England – Portugal im Hintergrund.

Ich muss auch da noch einmal hin, zurück nach Samothráki – verdammt, verflucht! Wann?!
Portugal hat soeben das „Silver Goal“ geschossen. Das Spiel geht weiter. Seinem ungewissen Ende entgegen.

Den steinernen Pfad gehe ich weiter zum Ausgrabungsgelände, muss durch das Gatter eines Gitterzauns. Der müde, dösende Wächter.

Eine Talung mit Bach teilt die heilige Stätte in zwei Hälften. Ganz am oberen Ende stand es, das Nike–Monument aus der ersten Hälfte des zweiten vorchristlichen Jahrhunderts – spät errichtet angesichts des Alters dieser Glaubensrichtung. Nebenan erstreckte sich die ausgedehnte „Stoá“, eine Säulenhalle von etwa 120 m Länge.
All diese früheren und späteren Bauten bzw. ihre Säulenstümpfe und Mauerreste möchte ich gar nicht erwähnen, ein Labyrinth von Wegen, es sind viele, runde (Thólos der Arsinó–i ) und eckige Grundrisse haben sie, umgeben von den letzten Olivenausläufern der Nordseite Samothrákis, gestiftet teils von großen Königen der makedonischen Antike.

Ein deutsches Paar, ein niederländisches.
Rasten auf den Steinen, ahnungslos vor dieser Größe, vor dem Unbekannten. Die heiligen Oliven, und darüber, noch einigermaßen weit entfernt, der glitzernde Fels. Ausblick auf das Thrakische Meer, und wäre es nicht so dunstig, nicht nur auf die nahen Festlands–, sondern bis zu den ferneren bulgarischen Bergen.

Ein Ort für den frühen Morgen oder die Abenddämmerung, für die Nacht. NICHT für den Mittag.

Die sympathische Museumswärterin erklärt mir die Abkürzung über einen Feldweg hinten raus aus dem Gelände zur Teerstraße hinauf in die Chóra. Ein Zickzackkurs, aber bald ist es geschafft, die etwas westlich der Ausgrabungen auf die Küstenstraße einmündende neue Verbindung zum Hauptdorf der Insel ist erreicht.
Es geht bergauf in Kurven, etwa drei, vier km. Wasserstaubecken aus Beton. Ziegenherden ohne Hirten queren die Straße. Kahle Landschaft vor dem großen Gebirge.
Allmählich bin ich sehr durstig, hab nichts zu trinken mitgenommen.

Bei einer Kurve schließlich habe ich den ersten Blick auf die sich in die Bergflanken angeblich einer Caldera schmiegende Chóra und bin nach weiteren 10 min an der Platía ganz am unteren Ortsrand mit einer verschlossenen Kandína (Imbiss-Stand) und einigen Bäumen angelangt. Auch die Taverne entgeht mir nicht, hat wohl nur abends auf, oder später im Jahr. Den Brunnen entdecke ich zu spät, bin heilfroh, ein geöffnetes Kafenío hier zu finden, wo ich mir eine Art „Shandy“ zusammenmixe – Bier mit Limo. Draußen wird es bald so kühl, dass ich meine Vliesjacke überstreife. Ein paar neugierige Dorfbewohner erscheinen auf der Bildfläche, auf ein Tässchen Kaffee.

Es gilt hochzusteigen, irgendwo neben dem Kafenío. Schöne, autofreie Gassen führen im Zickzack bergan. Es soll hier Fremdenzimmer geben, die sind nicht gerade auffällig.

Über mir zeigt sich schon das absolut verschlafene Polizeihauptquartier der Insel an einer Ausfallgasse, 100 m dorfeinwärts von der wegen Einsturzgefahr nicht zugänglichen Burgruine. Die Polizei wird wohl bald hinunter nach Kamariótissa umziehen, praktische Notwendigkeiten siegen über den traditionellen Standort im, nüchtern betrachtet, ehemaligen Hauptort. Vor dem Café, geschlossen, gegenüber der Ruine begegne ich dem holländischen Paar, unterhalte mich ein wenig mit ihnen. Sie raten mir unbedingt zu der Wanderung den Foniás(Φονιάς)–Gebirgsbachlauf hoch bis zum Wasserfall – Nordseite der Insel, 4 oder 5 km östlich der Abzweigung nach Loutrá. Ich würde etwas Wichtiges verpassen, wenn ich das nicht machte.
They were right – absoloootely. Es blieb bei mir aber nicht beim ERSTEN Wasserfall.

In einer der obersten Gassen umrunde ich den Ort bis hin zur Kirche und zum Gymnasium. Hier kreuzt die Straße von Kamariótissa auf eine andere Richtung Alónia ein. Ich gehe in diese Richtung weiter, muss aber ein Auto anhalten und mich nach dem Weg erkundigen, denn bald bin ich an einer Trifurkation angelangt: drei Wege gehen auseinander. Klar, den Hauptweg, das Teersträßchen bergab, hätte ich auch selber gefühlsmäßig als solchen ausgemacht, aber lieber fragen (Leute, nicht den Esel, der da wartet), bevor man Umwege gehen muss.

Oben raus aus dem Hauptdorf, Verwaltungszentrum der Insel, samstags Stimmung wie irgendwo weit weg, auf den Bergen der Cyrenáika, oder in Nord–Finnland, aber sogleich hat man eine hübsche Aussicht, weit hinunter über das Land und einige Dörfer.

Die 2 km bis Alónia schaff ich auch locker zu Fuß.
Aber Alónia ist weit gestreut, liegt zudem beiderseits eines recht tief eingeschnittenen Tals, und ich kenne mich hier noch nicht aus. Die gute neue Inselkarte von Road Editions (1:30.000) war 2004 noch nicht auf dem Markt, stattdessen Erzeugnisse von Amateuren mit einem minimalen Straßennetz, ganz ohne Wanderwege.

Eine Streusiedlung, zunächst. Ich entscheide mich für die linke Talseite, obwohl mir scheint, dass ich über die rechte schneller nach Kamariótissa zurückwandern könnte. War aber gut so. Auch gut, dass ich wieder meinen schweren Teleskopwanderstock mithabe, die erste Hundemeute in die Schranken zu weisen. Nach den Hunden kommt ein Familienclan aus einem der umgarteten Häuser unterhalb meines Weges zum Auto hoch. Die Tochter grüßt mich überherzlich, ergreift fest meine Hand, über beide Ohren grinsend, die Familie lacht und entschuldigt sich für ihren geistig behinderten Spross.

Ein Stückchen weiter wende ich mich an einer Abzweigung nach links hinunter, nicht nach rechts, und gelange so ins Ortszentrum – so ein Glück. Es ist wirklich hübsch, einladend, und das größere Kafenío linker Hand, nachdem ich rechts in die Hauptstraße eingebogen bin, hat sogar schon wieder – oder noch? – geöffnet, wenn auch niemand außer der Wirtin da ist. Es zieht mich leider weiter, vielleicht ein Fehler. Da hätte ich möglicherweise einen hier residierenden netten Deutschen getroffen, per Zufall. Den Betreiber der tollen Samothráki–Website, vielleicht.

Aus der nachmittäglichen Stille des schönen Alónia münde ich nach ein paar hundert Metern in den südlichen Inselhighway ein.
Da ist zu dieser Zeit erstaunlich viel Verkehr. Eine richtige Überlandstraße, so kommt es mir vor, und ich empfinde mich auf ihr völlig deplatziert. Die herrlichen Wanderpfade von Loutró nach Agía Rouméli oder über Livanianá hinunter in die Arádhena–Schlucht oder hinauf nach Anópoli kommen mir in den Sinn. Wie anders ist doch die Sfakiá! Aber hier ist nicht Südwestkreta, und hier gibt es AUCH stille Wander- und Bergpfade.
Hier ist eine tolle, ganz eigenständige und –artige Insel im äußersten Nordosten der Ägäis, knapp vor der Türkei. Sie lässt sich kaum mit anderen vergleichen. Man gönnt ihr diesen (wirklich) einzigen, bescheidenen Inselhighway.

Die griechische Nationalmannschaft hat soeben die französische Elf aus der EM rausgefußballt. Schlusspfiff. ES IST UNGLAUBLICH.
So etwas hab ich noch nie erlebt, niemals erwartet. Wahnsinn!!!
Ich habe nur eine Erklärung dafür, für das Gelingen dieses Ausnahmeereignisses: Die große kabirische Göttin Axiokérsa, die „Große Mutter“, nicht nur der große Trainer Rehagel (was für ein netter, lieber älterer Herr mit leuchtenden Augen und positiver Einstellung zum Leben! Wie euphorisch er jetzt wirkt!), hat aktiv mitgewirkt – nachdem sie von ihrer letzten, nach Jahrtausenden übrig gebliebenen, stark ausgedünnten Verehrergemeinde in einem nächtlichen Ritual auf Samothráki inniglichst beschworen wurde.
Stimmt’s – ihr thrakischen Schlitzohren mit schwäbischer Zunge?

Was könnte mir da im Nachhinein der mehrere km lange Weg auf einer samstags spätnachmittäglich (relativ) gut befahrenen Teerstraße schaden, vorüber an einem Zementwerk, oder was immer es sein mag, beim Abzweig zu einer großen Kaserne weiter oben, landein?
Nein, ich gehe schnellen Schrittes hinab in die Senke, dann wieder hügelauf, geblendet von der südenglischen Szenerie einer Weizenfelderhügellandschaft mit Bäumen und dem gelegentlichen Traktor auf dem Feldweg, wie man ihn auch auch Límnos sieht. Die Gegend nahe der Westspitze Samothrákis, wo der Inselflugplatz gebaut werden könnte – theoretisch. Man müsste viel einebnen, aber es ginge, Finanzmittel vorausgesetzt.

Der nächste sanfte Abstieg zielt bereits auf die heimliche Inselhauptstadt: Kamariótissa.
Eine Straßeneinmündung, die Straße von der Chóra her, 400 m runter, und schon bin ich im Außenbereich des kleinen Küstenortes. Mein Stock muss noch einmal wild gewordene Hunde abwehren, das Los des einsamen Wanderers.
Dieselben Hunde füttere ich dann abends mit den Überresten meiner Mahlzeit.

Der Abend ist wieder ein wenig kühl, aber ich probiere ein anderes Kafenío aus, das rechts von der Hauptstraßeneinmündung, wenn man von den Bergen reinkommt in den Ort.
Der Wirt ist echt nett, hat auch Verbindungen nach Deutschland. Ich sitze und schaue zu, auf der anderen Seite der Einmündung das Kafenío mit den Taxis davor – sind nicht viele, maximal vier, wenn ich mich nicht irre.

Ouzo mit Mezé – aber nicht die Qualität wie im limnischen „Äjäo“. Aber ehrlich und kein Beschiss wie anderswo auf der Insel.

Unmittelbar nebenan ein weiteres Kafenío, dann gleich ein Sacharoplastío (Konditorei–Café), beide mit viel Außenbestuhlung.

Irgendwie gefällt’s mir jetzt, inzwischen (enzweschä), trotz der Verlassenheit.

Schön ist es beim Abendessen in der Psistaría 50 m hügelan von der westlichen Hafenstraße aus. Sogar ein reiner Kindertisch mit bescheidener Zeche wird bedient. Mein Braten aus dem Ofen schmeckt wirklich lecker.

Copyright puchheim = MartinPUC, 2004, 2006