Soúgia revisited
- ein neuer Blick nach langer Abstinenz

Copyright puchheim = MartinPUC, Mai 2006


Gut gelaunt nach der köstlichen Stärkung in der Taverne im Busbahnhof von Chaniá besteige ich den Frühnachmittagsbus nach Soúgia (gesprochen: Súja, kretisch: Súdscha). Zehn Jahre müsste es schon gut her sein, dass ich diesen Ort zuletzt aufgesucht habe.

Ich hatte ungute Erfahrungen in mir getragen. Die Intimität kleiner Orte in der Sfakiá war in S. immer bald vorbei. Dabei ist es doch auch sehr klein, und eine gewisse, ganz eigene Intimität ist auch ihm bestimmt nicht abzusprechen.
Ich meine konkret, wenn man mit denselben Leuten etwa von Loutró oder Fínika/Phönix kommend per Küstenfähre nach Soúgia weiterreiste, löste sich der Zusammenhalt dort immer irgendwie auf, zerfiel etwas vorher so Schönes, weil man doch nicht mehr so eng aneinander saß auf Tavernenterrassen in Winzorten zu Füßen von Steilabhängen, sich nicht mehr wie an den seinerzeit noch etwas gefährlichen Kletterstellen in der Arádhena-Schlucht gegenseitig anschubsen musste, manche Frau auch entschlossen am Hinterteil hochhieven.

Die Busroute ist zunächst identisch mit der nach Omalós, von wo aus es zu Fuß in die Samariá-Schlucht runterginge. Es geht aus Chaniá hinaus durch duftendes Orangenland vor und an den Nordabhängen der Lefká Óri, der gewaltigen Kulisse der Weißen Berge. Dieses Frühjahr tragen die Gipfel erstaunlich wenig Schnee, denn es hat den Winter 2005/2006 über viel zu wenig Niederschläge gegeben. Man rechnet spätestens im August oder September mit einer empfindlichen Wasserknappheit - wenn das die zweimal täglich Duschenden unter den Touristen nur wüssten!

Bei Alikianós dann der Abzweig nach West, über eine kleine Brücke, und man ist spätestens hinter Chliaró (dem wörtlich übersetzt "lauwarmen, lauen" Ort) in einer ganz anderen Welt. Kurvig führt die Straße Flusstäler entlang, hinein in einen wahren Dschungel verschiedener Baumarten, darunter viele Kastanien, und sogar das mit Blumen gesprenkelte Gras ist hier Anfang Mai noch saftig grün. Man möchte es kaum glauben, wenn man die kahleren Gegenden Kretas kennt. Was für ein Gegensatz!

Wie jeder Dschungel von Rodung bedroht ist, ist auch der westkretische in Gefahr. Der Straßenbau ist es, das zurzeit stattfindende Verbreitern der bisher so engen Strecke, das hässliche ockergelbe Wunden in die Talhänge reißt und die ganze Landschaft auf Jahre hinaus verschandelt. Denn allenthalben rutscht Hangmaterial von oben nach, und die Neubaustrecken sind teils auf ihrer halben Breite schon wieder von den Schuttmassen begraben. Bäume rutschen 10 Meter hangab und stehen teils noch aufrecht, wie die eine Kastanie, die einem mitreisenden Ortskundigen gleich auffiel. Überhaupt herrscht in dem Bus wieder eine schöne "Wohnzimmeratmosphäre", lauter untereinander Bekannte, wie auch auf der Fahrt in die Sfakiá.
So hat man sich an mehreren Stellen nun darangemacht, die Hänge nachträglich bis teils auf 20, 30 m hinauf mit Beton abzustützen, um die Hangrutschungen in den Griff zu kriegen.
Jedenfalls ein Finanzierungsfass ohne Boden, möchte man sagen, denn was dilettantisch ausgeführt wurde, muss sehr bald wieder nachgebessert werden.

Der Linienbus und die Touristenbusse, die auch am Hafen von Soúgia (auch der KTEL-Linienbus, so um 17:00 Uhr rum, er wartet auf das Schiff!) Wandergruppen und Einzelwanderer von der Samariáschlucht abholen, haben noch immer das Nachsehen, trotz aller Straßenverbreiterungen. Denn es kann schon vorkommen, dass ein Fahrer sich weigert weiterzufahren, und erst einmal ein riesiges Baufahrzeug mit Planierhobel drunter herbeizitiert werden muss, um Schutt aus dem Weg zu räumen oder die frisch aufgerissene Piste so einzuebnen, dass der Bus wenigstens im Schritttempo weiterkommt. Natürlich müssen liegen gebliebene einzelne Steine auf Anweisung des Buslenkers anschließend noch per Hand weggeräumt werden. So verzögert sich die Reise beträchtlich, auf etwa 2,5 Std., wenn man wie ich Pech hat.

Selbst das letzte Stück durch ein paar Dörfer mit den Serpentinen hinunter ins Tal im unmittelbaren Hinterland von Sougia hat noch seinen Reiz, wenn es auch die grüne Üppigkeit vermissen lässt. Dafür bieten sich herrliche Ausblicke auf einige Dörfer an den Westabhängen der Berge über Koustojérako; dieses und auch das langgezogene Livadás etwa 4 Straßenkilometer unterhalb sind sehr gut zu erkennen. Als abschließende kleine Hässlichkeit fällt dem Betrachter aus dem Busfenster noch ein neu geschobener hangparalleler Feldweg auf, der wohl von Koustogérako aus Richtung Küste führt, mit den üblichen Wunden im Hang. Von dem heftigen, weit ins Tal zurückreichenden Waldbrand, der hier vor Jahren tobte, zeugen noch verkohlte Stämme, die meisten liegen abgeholzt herum, neue Bäume wurden nachgepflanzt.

Dann läuft man in Sougía ein und wundert sich. Wundert sich, weil sich auf den ersten Blick kaum etwas verändert hat, in all den Jahren. Selbst die neuen, über den nördlichen Ortsrand hinaus gestreuten Häuser mit Zimmern u. Studios waren fast alle auch vor Jahren schon da. Da haben sich die Bauverbote wegen archäologisch interessantem Gelände merklich ausgewirkt.

Nur hinter dem Ufer im Ortsbereich hat sich einiges baulich verändert. Zu der schon damals neuen, in ihren Dimensionen etwas überzogenen Hotelanlage am Ende der Zufahrtsstraße hat sich ein weiterer großer Appartement-Komplex hinzugesellt. Das einfache Kafenío an der Uferstraße zum Hafen hin, das von einem alten Ehepaar geführt wurde, hat sich in ein modernes Szenecafé verwandelt, mit nach wie vor hübscher Uferterrasse unter Tamarisken jenseits der Straße. Es fehlen lediglich die Gäste.

Der Bus hält direkt beim Kiosk über dem Strand, fährt dann Richtung Fährenanleger weiter, um die Ankunft des einzigen Nachmittagsschiffes von Agía Rouméli her abzuwarten und anschließend nach Chaniá zurückzukehren.

Ich sammle mein Gepäck und eile zielstrebig die Straße hinauf, etwa 70 m zurück, um dann links abzubiegen Richtung des Hotels mit dem Pelikan, wo ich meist genächtigt hatte. Doch das wirkt wie ausgestorben, wird offensichtlich gerade, aber ganz sigá-sigá, umgebaut. Keine Bauarbeiter zu sehen.
So lasse ich den großen Rucksack zurück und finde 2 Minuten später ein hübsches, geräumiges Zimmer mit Aussichtsbalkon gleich an der Zufahrtsstraße. Bei dem geringen Verkehr gefällt es mir hier, im Zentrum des Geschehens, besonders gut. Von meinem Balkon im "Irene" aus hab ich wirklich die Totalübersicht. Die Bäume unten mit ihren großen, speckigen Blättern gefallen mir. Zusammen mit dem Weiß des Hauses und dem fast nordafrikanischen Aussehen des Besitzers ergibt sich eine Art maghrebinische Situation. Weit weg von Europa.

Kurz Platz nehmen draußen auf einem meiner Plastikstühle. Was für eine ruhige, friedliche Stimmung über diesem Örtchen liegt! Einfach wunderbar. Diesmal ein echter Seelenbalsam für mich Gestressten. Französische Laute dringen zu mir herauf, eine kleinere Wandergruppe kommt in die Pension zurück; die meisten wohnen im EG, nach hinten raus. Man beschwert sich über nicht genügend Heißwasser. Wenn ich länger als 1 Nacht bliebe, würde ich mich wohl ausnahmsweise über meine lahme Klospülung beschweren, denn erst nach fünfmaligem Spülen ist das gewünschte Ergebnis annähernd erreicht.
Herrlich, hier in der Spätnachmittagssonne auszuruhen, genießerisch zuzuschauen. Die Wirtin aus der Taverne ein Stück weiter dorfauswärts guckt neugierig zu mir herüber, hat zu dieser Stunde keine Gäste.
Eine Schande, dass ich nur so kurz bleibe, denke ich bei mir.

Mein braungesichtiger, immer heiterer Zimmerwirt erzählt mir vor dem Vorhang seiner Eingangshöhle, dass die Familie Paterakis ihr Hotel aufgegeben habe - aha, deshalb der Umbau. Einer der Söhne betreibe jetzt die Fischtaverne "To Kyma" am westlichen Ortsende Richtung Bootsanleger.

Einkaufen gehen, Wasser, Getränke, Obst. Gleich gegenüber dem "Irene" (es ist wohlgemerkt nicht das viel teurere Hotel "Santa Irene"), optimal für Fußlahme und Wandergeschädigte, der große Minimarkt einer jüngeren Holländerin und ihres einheimischen Mannes. Hier gibt es alles, auch etwas Kleidung, Hüte etc. Ich nehme, trotz Plastikflasche, anderthalb Liter des hausgemachten Roten. Den Weißen gibt sie mir nicht - das wäre auch Olivenöl gewesen. Tüchtige Frau.

Nur durch ein einmündendes Gässchen von dem Geschäft getrennt schließt sich meerwärts ein nettes, sehr kleines, zur Straße hin offenes Konditorei-Café mit einem einzigen Tisch draußen um die Ecke an. Die sympathische Frau gibt mir eine Riesenportion Filterkaffee, ihren ganzen Rest, mit Milch und Milópitta (endlich mal wieder!). Es wird immer gemütlicher.
Im Dorfladen 50 m weiter nördlich erstehe ich gut 1 Kilo riesiger Moúsmoula, die pflaumenähnlichen gelben Früchte (bei uns Néspoli genannt), die ich ansonsten häufig geschenkt bekomme und die ich so sehr mag. Hier zahle ich eine Menge dafür - fast 5 Euro. Solche Früchte seien teuer, sagen sie mir. Hmmm.

Kein Mensch weiß genau, wann die Fähre am nächsten Morgen von Paleóchora her ankommt. So um 10 herum, das ist der Schnitt meiner Umfrage. Der Mensch im Kiosk tippt eher auf Viertel nach. Es sollte dann so etwa 10: 35 Uhr werden. Bezahlt wird auf dem Schiff, trotz der Ticketbude beim Anleger.

Aus der Ferne entdecke ich ganz unvermittelt eine liebe, langjährige Wanderfreundin am öffentlichen Telefon. Was für eine Überraschung! Freudige Begrüßung. Verabredung zum Abendessen.

Im großen Lokal an der Ecke beim Strand haben sich schon relativ viele Leute eingefunden, auch wenn alles in allem hier wie anderswo noch Touristenflaute herrscht, eine größere denn je. Acht bis zehn Meter Tisch wurden für eine weitere französische (oder belgische?) Wandergruppe zusammengestellt, die auch am nächsten Morgen dort erst noch ausgiebig und in aller Ruhe frühstückt, bevor sie weiterzieht.

Kleiner Abendspaziergang vor dem Essen. Vor dem Neubau der ehemaligen Taverne von Maria, jetzt ein Nullachtfünfzehn-Zimmerkomplex, hält mich nichts mehr. Ich gehe einfach auf die noch sehr rüstige Greisin und ihren Mann (?) zu, weil ich sie vor dem "Schaufenster" einer in die Hausfront integrierten Pseudotaverne, die wohl vorausschauend schon mal angelegt wurde, aber noch keine ist, stehen sehe. Sie scheint mich wiederzuerkennen, meint nein, das sei kein Restaurant, eilt sofort auf den Kühlkasten zu, um uns zwei Süßigkeiten zu überreichen, eine nette Geste. Vor gut 20 Jahren war es Maria, die mir einen damals neuartigen Walkman mit Kopfhörer unbedingt abkaufen wollte. Mit Wehmut denke ich an ihre leckeren Gerichte, es gab immer nur eines oder zwei. Unter ihrer Tamariske Platz zu nehmen, das war immer besonders schön - gewesen.

Im engen Schlauch der Terrasse des "Ómikron", das inzwischen mehrmals den Besitzer gewechselt hat, ist man abends zumindest etwas vor der hereinbrechenden Kühle geschützt. Die Französin und ihr griechischer Mann/Freund bzw. Arbeitgeber (?) bieten ganz interessante Gerichte an. Die Fischsuppe ist zwar eigentlich keine im üblichen Sinn typisch griechische, schmeckt jedoch ganz gut und ist sehr preiswert. Es werden auf Wunsch auch Mezé zusammengestellt. Wir waren zufrieden.

Vor der Weiterfahrt nach Loutró, wo wir von einem Familienmitglied des Jórgo vom "Akrogiáli" am Lýkos Beach mit einem Bötchen abgeholt werden sollten, mache ich einen Frühmorgenspaziergang, ganz langsam den Feldweg über dem breiten Kiesstrand hinter bis zum östlichen Strandende.
Neben der noch im Winterschlaf befindlichen Disko, die ich schnell passiere, fallen mir als Erstes zwei Zelte rechts am Weg auf, unter Bäumen. Dann ein Wohnmobil aus der Oberpfalz, Kennzeichen AS (Amberg-Sulzbach), das gleich hinter dem Fahrersitz mit einer echten Werkstatt ausgerüstet ist; nicht einmal eine Drehbank fehlt, Unmengen von Schraubenziehern etc. baumeln an einer Leine. Der Autobesitzer ist gerade auf dem Weg zu einem Bekannten, dem das erste Haus hinter dem Strand mit größerem Garten gehört. Aus den Büschen bellt ein größerer Hund. Ein Laster mit Erde staubt dicht an mir vorbei ins nächste Grundstück, wo er die Ladung hinkippt und dann Gott sei Dank wieder abzieht.
Das Strandcafé ist noch zu, war auch abends nicht geöffnet. Vor dem Hang links weitere Wohnmobile, eines davon mit dem österreichischen Kennzeichen "FR", also wohl Freistadt, Mühlviertel (?). Unter ihm locke ich mit meinen Winkezeichen und Rufen einen kleinen spielbereiten Hund hervor, der sogleich sein Wurfzeug anschleppt, einen Gummiring zum Reinbeißen mit einem Griff dran zum Schleudern. Also Morgengymnastik mit Apportieren! Das Hundehalterpaar lächelt mir verschlafen zu. Zwischen den Büschen und Bäumen auf dem Hang, sowie in bevorzugter Lage inmitten eines gespaltenen, Windschutz bietenden großen Strandfelsens weitere Zelte. Jemand kriecht unter einem Baum aus seinem Schlafsack und grüßt. Aha, das "alte" Soúgia. Es gibt noch Naturburschen und Leute, die sparen müssen.

Nur sehr wenige Passagiere verlassen die "Samariá", um von Soúgia aus den großartigen Wanderweg über Lissós nach Paleóchora zurückzulaufen. Die größere Wandergruppe steigt zu und verlässt nach etwa 50 min Fahrt an herrlichster Berg- und Schluchtenküste entlang in Agía Rouméli das Schiff. Man überspringt also das schwierigste und gefährlichste Wegstück an und oberhalb der westlichen Südküste. Ihr gut gekennzeichnetes Gepäck fährt weiter bis Loutró. Neues Gepäck einer anderen Wandergruppe ab Ag. Rouméli ebenso. In Loutró wird alles abgeholt und ausgeladen. Es wartet in den Unterkünften auf die erschöpften Ankömmlinge.

Copyright puchheim = MartinPUC, Mai 2006

Stille Tage in Lýkos