Zum Aóos-Quellsee
und nach Métsovo


Nach unserer Höhlenbesichtigung sind wir immer noch voller Tatendrang. Kurzfristig beschließen wir, einen Ausflug in die Welt des Pindosgebirges zu unternehmen.
Es gibt ein Bild, das fest in meinem Kopf verankert ist und dass ich Alex unbedingt zeigen möchte: Vor 15 Jahren bin ich eines frühen Sommermorgens, kurz nach Sonnenaufgang, mit dem Bus von Ióannina zu den Metéora-Klöstern nach Kalambáka gefahren. Die Straße führt auf der Ioánnina gegenüber liegenden Seeseite in Serpentinen hangaufwärts und verschwindet dann in den Bergen. Der Blick damals von oben über den noch halb im Nebel liegenden See, mit den sich spiegelnden, rötlichen Sonnenstrahlen, bleibt unvergessen!
Auch zu anderen Tageszeiten sollte man sich das beeindruckende Panorama der Stadt am anderen Seeufer nicht entgehen lassen, das in den See hineinragende Karree mit dem Kastroviertel, die Insel und die grüne Schilfumrandung der östlichen Seeseite.


Bereits auf halber Strecke hügelan beginnt der unendliche Kiefernwald. Bäume mit leuchtenden, hellgrünen Nadeln säumen den Weg. Irgendwann verschwindet die Sicht auf den See, und wir tauchen ein in die faszinierende Bergwelt des Píndos-Gebirges mit seinen blanken Zweitausendern, das sich in Nord-Süd-Richtung durch den nördlichen Teil Griechenland zieht und dem Epirus seine Abgeschiedenheit beschert.
Zunächst verläuft die Straße (E 92) eine Weile auf ebener Fläche, dann taucht sie wieder etwas hinab, um später in vielen Windungen wieder bergan zu steigen.




Die Gipfel der Bergkette leuchten zu uns herüber, während wir auf der einst dicht befahrenen Strecke nun ganz alleine unterwegs sind.



Seit der Eröffnung der Egnatía Odos (E 90), die sich kerzengerade und alle Hindernisse überwindend quer durch Nordgriechenland, von der türkischen Grenze bis nach Igoumenitsa, an der Adria, zieht und sowohl dem einheimischen als auch dem Transitverkehr eine Wahnsinns-Zeitersparnis beschert, ist die alte Straße nur noch für Liebhaber, Nostalgiker und (vorsichtige) Motorradfahrer offen. An manchen Stellen ist der Belag nicht mehr so gut, etwas abgesenkt, mit Rissen, doch im Großen und Ganzen immer noch problemlos befahrbar. Manchmal liegen auch herabgefallene Steine am Fahrbahnrand.


Während wir durch die üppig grüne Bergwelt zuckeln wird deren Idylle ab und an von den weiß markierten, schräg in den Berg zementierten Tunneleingängen und Brücken der Egnatía durchbrochen.



Schon etliche Dutzend Kilometer von Ioánnina entfernt, als die Straße einen weiten Schlenker nach Süden macht, stoßen wir auf das fast trockene, weite, weiß-glänzende Flussbett des Aráchtos, der in Zagóri entspringt und weiter südlich unter der Brücke von Arta hindurch dem Ambrakischen Golf entgegenfließt.


Gerade als wir uns dazu entschieden haben, auf dieser wunderschönen Strecke noch weiter nach Métsovo zu fahren, lockt uns ein Schild (in Richtung Chrisovítsa) nach Norden, zum Aóos-Quellsee.
Nach dem Abzweig führt die Straße gleich steil bergan, sodass mir schon bald die Ohren rauschen und der Kopf brummt. Auf einer ganz schmalen, aber asphaltierten Strecke passieren wir den Ort Chrisovítsa und fahren anschließend durch einen wunderschön saftigen Wald, der nur durch seine Nähe zum Wasser so dicht und grün sein kann.


Irgendwann kommt uns ein mit Baumstämmen beladener LKW entgegen. Wir fragen, ob wir zur Aóos-Quelle auf dem richtigen Weg sind, und werden von dem netten Fahrer weiter gewunken. Die Piste ist bald nur noch von Schotter bedeckt, doch wenig später wieder asphaltiert. Immer höher geht es hinauf.
An einem Platz, bei einer Kapelle, halten wir an. Würzig duftet die Luft, frisch und so richtig nach Wald. Üppige Farnfelder bedecken den Boden. Mitten in einem solchen Feld steht ein Brunnen, an dem eine Platte mit einer griechischen Aufschrift angebracht ist:

Der Hirt vernahm ein überirdisches Grollen in der Nähe der Außenkapelle,
mit seinem Stock stieß er zu, und es quoll das Wasser dieses Brunnens.
Kóstas Krystális



Noch eine ganze Weile genießen wir die kühle Frische, atmen den Duft von Wasser und Wald, spüren die kühlende Feuchtigkeit auf der Haut. Nun sind wir erst recht gespannt auf den Quellsee und setzen unseren Weg bergan fort. Immer wieder geben jetzt Schneisen den Blick frei auf die Erhebungen der Gebirgswelt. Auf einer der benachbarten Bergspitzen vermeinen wir sogar noch etwas Schnee zu erkennen, und das im Hochsommer.




Etwa 10 km von Chrisovítsa entfernt erreichen wir schließlich eine Hochebene (Οροπέδιο Πολιτσές), überqueren über eine Brücke sumpfiges Gelände und gelangen in ein Gebiet mit Weiden und vielen Kartoffelfeldern, die gerade in voller Blüte stehen.





Ein PKW fährt vor uns her und wird wenig später von einem Polizisten gestoppt, der sein ziviles Fahrzeug auf der Straße, direkt neben dem Aóos-Stausee, geparkt hat. Beide weisen sich aus, der PKW-Fahrer kann weiter fahren. Wir werden erst gar nicht nach unseren Pässen gefragt. Sicherlich hat man unser Kennzeichen in dieser abgelegenen Gegend bereits als zu einem Autovermieter zugehörig gescannt.


Mit dem Polizisten kommen wir ins Gespräch, auch er war heute bei der Jagd nach den Gangstern dabei. Einen habe man festnehmen können, den anderen würde man auch noch schnappen. Ich frage mich, was er machen würde, wenn er hier in der Einöde, allein auf weiter Flur, diesem bewaffneten Mann begegnen würde. Er habe Kinder zu Hause, sagt er, und der Job sei an Tagen wie diesem besonders schwer. Während Alex sich weiter angeregt mit dem Mann unterhält, schaue ich mir die Umgebung an.

Der Aóos-Stausee bedeckt eine Fläche von ca. 9 qkm, liegt auf etwa 1.350 Metern Höhe und sammelt mit einem Fassungsvermögen bis zu 180 Millionen Kubikmeter das Wasser aus den benachbarten Bergen. In einem 1990 fertig gestellten Kraftwerk („Pigai Aoos“) wird Energie erzeugt, bevor man das Wasser nach Nordwesten entlässt, wo der Fluss Aóos die Brücke von Kónitsa unterquert, unter anderem das Wasser des Voidomátis (der durch die Vikos-Schlucht fließt) aufnimmt, um schließlich den größten Teil seiner Reise zur Adria durch Albanien unter dem Namen Vjosa zurückzulegen.






Der riesige See verzeigt sich bis außerhalb unseres Sichtfeldes; seine tatsächliche Größe erfassen wir erst bei unserer Abfahrt.



Auf der Weiterfahrt nach Métsovo brauchen wir nicht mehr den ganzen Weg zurück bis zur Hauptstraße zu fahren, sondern nur bis zum Ausgang der Ebene, biegen dort nach links ab, zunächst noch ein kleines Stück am See entlang und schließlich in Richtung des Bergdorfes.
Durch eine friedliche Gegend rollen wir, weit und breit kein Auto und keine Menschenseele. Nur ein paar Schafherden grasen friedlich, von – aus der Ferne betrachtet – ebenso friedlichen Hütehunden bewacht. Ruhe und Einsamkeit in der Natur lassen das Herz eines jeden Wanderers höher schlagen.
Auf dem weiteren Weg durch Ost-Zagóri begegnen uns schließlich ein paar Pferde, die sicherlich zu einem Gehöft gehören. Wenige landwirtschaftliche Gebäude stehen in Sichtweite. Schließlich treffen wir in Métsovo ein, kurven hinab ins Ortszentrum und parken das Auto auf dem zentralen Platz. Hier ist man gerade dabei, das jährliche Dorf-Panighíri vorzubereiten, die Musiker stimmen sich auf einer Bühne bereits ein, Einheimische füllen langsam die teilweise mit Stühlen bestückte Platía.




Wir möchten einen kleinen Rundgang durch dieses touristisch gut entwickelte, augenscheinlich sehr wohlhabende Dorf mit seiner Stein-Architektur und den zumeist knallroten Dächern starten, die schon vor langer Zeit den traditionellen, tonnenschweren Steindächern gewichen sind.




Im Slawischen bedeutet Métsovo „Bärendorf“ und lässt darauf schließen, dass zu früheren Zeiten, als sich kaum einmal Menschen in die einsamen, riesigen Wälder des Gebirges verirrten, zahlreiche Wildtiere ihr Zuhause hatten, und sich in den strengen Wintern sogar bis in die Dörfer vorwagten. Auch heute noch leben Bären in Epirus, doch hat sich die Zahl der scheuen Tiere sehr reduziert.


Die meisten Einwohner des verkehrsgünstig gelegenen Ortes an der Straße nach Kalambáka (Metéora), unweit des Katára-Passes, und ganz in der Nähe der Egnatía, sind Aromunen (Vlachen), die früher als Nomaden ihren Schafherden folgten. Schon vor langer Zeit sesshaft geworden, verdienen sie nun ihr Einkommen mit der Produktion von Käse, Wein und Holzschnitzereien sowie im Tourismus.
Auch heute, am Tag des Festes, sind Verkaufsstände aufgebaut, in denen man allerlei Käsesorten erwerben kann; allein bei immer noch 28 Grad am frühen Abend verzichten wir darauf, da wir keine Kühlmöglichkeit haben.
Ausgewiesene Parkplätze deuten darauf hin, dass es im Ort zu bestimmten Jahreszeiten touristisch heißer hergeht, denn uns begegnen heute überhaupt keine (ausländischen) Touristen. Die einheimischen Dorfbewohner sind sehr freundlich: Auf unseren Gruß hin werden wir immer lächelnd zurückgegrüßt und oft auch mit ein paar zusätzlichen netten Worten bedacht. Niemand ist aufdringlich geschäftstüchtig, sondern uns umgibt unterwegs eine angenehme, dörfliche Gelassenheit und wohl auch Vorfreude auf das Fest.
Da Métsovo an einem steilen Hang liegt, bieten sich beim Gang durch die Gassen immer wieder Blicke auf die Nachbardörfer, allerdings auch auf die in die Landschaft hinein gezimmerte Egnatía.



Vom Ortsrand aus schlendern wir schließlich langsam wieder zurück. Eine sehr angenehme Atmosphäre verströmt das Dorf und wäre sicherlich einen längeren Aufenthalt wert, auch im Winter. Als ich Métsovo 1997 ebenfalls für ein paar Stunden besuchte, sprach mich ein älterer Mann an. Wir plauderten ein wenig und ich fragte ihn, wie es im Winter wohl hier sei, sicherlich sehr kalt. Er antwortete lachend: Im Winter trinken wir Snaps!



Zurück auf der Platía ist es bereits nach 19.00 Uhr, Zeit für uns, nach Ioánnina zurückzukehren. Man mag ja Recht haben, Straßen und Autobahnen durch (fast) unberührte Natur abzulehnen. Heute Abend jedoch genießen wir die Vorzüge der Egnatía durch die Bergtunnel, auf der wir bei mittlerer Geschwindigkeit innerhalb einer dreiviertel Stunde entspannt wieder nach Ioánnina gelangen. So erleichtert müssen die ständigen Benutzer der Transitpiste gewesen sein, als sie eröffnet wurde. Die andere Strecke, zurück über die Serpentinen, hätte wesentlich mehr Zeit in Anspruch genommen, wer weiß, ob wir noch bei Helligkeit ans Ziel gelangt wären. Und bei Dunkelheit möchten wir diese kurvige Straße wirklich nicht fahren.
Als wir aus einem der vielen Tunnel der Egnatía wieder herausfahren und uns ein Schild zur Ausfahrt nach Ioánnina lotst, erkennen wir, dass wir uns am südlichen Ausläufer des Pamvótis-Sees befinden, mit einer weiten landwirtschaftlich genutzten Fläche. Im milchigen Dämmerlicht gleiten wir langsam wieder in Richtung Stadtzentrum und stehen immer noch unter dem Eindruck der höchst unterschiedlichen Landschaftsformen, die wir am heutigen Tage gesehen haben: Zunächst die riesige Tropfsteinhöhle von Pérama und anschließend das Berg-Erleben im Pindos. Einfach traumhaft!
Heute Abend wird der Mond noch später aufgehen; bis dahin glitzert der See schwarz unter dem sternenlosen Himmel.

Über Monodéndri nach Pápingo