Momentaufnahmen zur Krise
(Oktober 2012)


Es ist die Zeit zwischen den Besuchen der „Troika“ und Bundeskanzlerin Merkel. Dabei geht es um eine Tranche von 31 Milliarden Euro, die Griechenland dringend benötigt; es geht auch um das Verbleiben Griechenlands in der Währungsunion und letztendlich den Bestand der EU insgesamt.
Auf unserer Herbstreise zum Peloponnes haben wir interessante Menschen getroffen, die uns gegenüber ohne Nachfrage und freimütig ihre Meinungen zur gegenwärtigen Lage geäußert haben. Wenn wir sie an dieser Stelle wiedergeben, ist uns bewusst, dass sie nicht repräsentativ sind. Vielmehr fanden wir die Lebenshintergründe spannend, die diese Menschen mitbringen, und die Schlüsse, die sie aus den Ereignissen der Krise gezogen haben.


Tankwart in Messenien, Peloponnes
Ich bin gebürtiger Athener, doch das ist kein gutes Leben in Athen. Von Berufs wegen bin ich früher zwischen Athen und dem Ruhrgebiet/ Rheinland jährlich mindestens zwanzig Mal hin und hergefahren, habe Autos überführt. Das war OK, doch irgendwann wollte ich das nicht mehr.
Deshalb bin ich vor drei Jahren hierher gekommen. Jetzt besitze ich drei Geschäfte und eine Tankstelle.
Auf dem Land gibt es keine Krise. Vor allem auf dem Peloponnes haben die Leute genug. Ob die Bauern hier 30 oder 40 Euro abgeben, wen kümmert es?


Kellner in einer Taverne in Messenien, Peloponnes
Ich bin in Athen geboren und aufgewachsen. Früher war ich von Beruf Handwerker und habe Lüftungsschächte z.B. für Klimaanlagen gebaut. In meinem Beruf war ich sehr gut, sodass ich innerhalb kurzer Zeit zur rechten Hand des Chefs aufstieg und gut verdiente. Als die Firma vor zwei Jahren durch die Krise pleiteging, machte ich mich selbständig. Doch es kamen nicht genug Aufträge herein, als dass ich davon hätte leben können.
Deshalb kam ich vor zwei Jahren mit meiner Partnerin hierher zum Peloponnes. Sie arbeitet in einem Hotel, ich bediene. Letztes Jahr habe ich Doppelschichten geschoben: vormittags in einem Café, abends in der Taverne. In diesem Jahr arbeite ich einfache Schichten. Leider gab es im Sommer eine Mückenplage, und die Touristen, die da waren, sind wieder abgereist, wodurch das Café schließen musste.
Zur Krise kann ich nur sagen: Wer heute arbeiten will, der hat morgen eine Arbeit. Man muss allerdings flexibel sein, bereit, jeden Job zu machen und die Bezahlung darf zunächst keine Rolle spielen. Andernfalls geht man im wahrsten Sinne des Wortes unter.


Selbständige Schneiderin, Athen
Ich komme aus Nordgriechenland und lebe seit einigen Jahren in Athen. Bis vor kurzem arbeitete ich als Angestellte in einer Firma, bin durch die Krise jedoch arbeitslos geworden. Ich habe mich in meinem ursprünglichen Beruf als Schneiderin weitergebildet und hatte dann einfach Glück. Durch einen neuen Kontakt bekomme ich Aufträge. Die Arbeit ist kreativ und macht mir sehr viel Spaß.
Allerdings ist unser Lebensstandard nicht mehr wie vor der Krise. Da sind wir buchstäblich jeden Abend ausgegangen, zum Essen, ins Kino usw. Heute treffen wir uns mit den Freunden privat und bekochen uns gegenseitig.
Was mich kürzlich sehr erschüttert hat, ist ein Erlebnis in einer Kirche. Die Kirche organisiert eine Tafel, wo kostenloses Essen verteilt wird. Als ich mich umschaute, sah ich Menschen, die dort aßen, Menschen in teuren Kleidern und mit einer sehr gepflegten Erscheinung. Augenscheinlich sind sie trotz einer früher guten Stellung, in der sie sich etwas leisten konnten, in Armut geraten. Es hat mich sehr traurig gemacht.


Eine Griechin in Pílos, Peloponnes (Messenien)
Sie kommt zu unserem Tisch im Restaurant und offeriert uns Batterien, Kugelschreiber und anderen Kleinkram. Sie bettelt nicht um Geld, sondern bittet uns, ihr etwas abzukaufen, weil sie unbedingt zum Arzt muss.
Dabei zeigt sie uns eine dicke Geschwulst am Oberarm. Wir kaufen ihr etwas ab. Ihr Gesichtsausdruck drückt Entwürdigung darüber aus, dass sie derart um eine medizinische Therapie kämpfen muss.
Später sehen wir sie mit einem Sack, den sie huckepack trägt, wie sie den Parkplatz am Hafen überquert, den Kopf gesenkt, den Buckel gekrümmt, ihre Miene verhärmt.


Ein Landwirt in Messenien, Peloponnes
Ich bin hier geboren und aufgewachsen. Wenn es jemanden gibt, dem es wirtschaftlich sehr gut geht, dann bin ich es. Wir haben Tiere, Hühner, Kaninchen für den Eigenbedarf. Uns gehören Zitronen-, Orangen- und Olivenbäume. Jährlich produzieren wir 50 bis 60 Tonnen Zitronen und noch mal so viele Orangen. Griechenland importiert Zitronen aus Argentinien, und wir müssen zusehen, wo wir unsere Waren verkaufen. Wir verdienen trotzdem gut und zahlen unsere Steuern. Das haben wir immer getan, im Gegensatz zu vielen korrupten Politikern.
Tsochatsópoulos (ehemaliger Minister/ PASOK) hätte man schon vor zehn Jahren einsperren sollen; dabei wäre er fast noch Ministerpräsident geworden! Ich frage mich, warum das solange gedauert hat, ihn ins Gefängnis zu bringen.
Wer Schuld hat an der Krise? Griechenland und die EU auch. Wir fühlen uns allein gelassen und die Angst wächst, weil das Grenzproblem zwischen der Türkei und Griechenland nicht gelöst ist. Wir fürchten uns vor dem zunehmenden Islamismus in der Türkei. Unsere Aufgabe in Griechenland ist es, die EU-Außengrenzen zu schützen, doch bezahlen müssen wir das allein.


Ein Tavernenbetreiber in Messenien, Peloponnes
Uns hier in dieser Region geht es gut. Für uns hat sich durch die Krise nichts geändert. Aber für die Menschen in den Ballungszentren ändert sich vieles. Einen positiven Effekt hat es: Viele junge Menschen ziehen wieder zurück aufs Land, dorthin, wo sie herkommen.
Die einzige Sorge, die die Bauern hier haben, ist, die EU-Normen zu erfüllen, nach Krümmungsgrad und Größe von Bananen und andere Vorgaben. Beispielsweise muss die Schlachtung eines Schweins angemeldet werden. Daher sieht man hier fast keine Schweine mehr. Selbst die Tomaten im Garten des Bauern für den Eigenbedarf werden begutachtet. Ein Irrsinn!


Selbständiger Ingenieur, Athen
Ich bin gebürtiger Kreter, bin jedoch in Athen aufgewachsen. Mir persönlich geht es gut. Obwohl ich zur Zeit nur wenige Aufträge habe, kommen wir aus. Das Haus, in dem wir wohnen, gehört meiner Familie. Das Problem der Krise ist kein finanzielles, sondern ein politisches. Ich als Demokrat verlange ausdrücklich, dass die Politiker, denen ich bei der Wahl meine Stimme gebe, sich um meine Belange und die des griechischen Staates kümmern. Das ist ihr Job.
Ich teile nicht die Kritik an der deutschen Bundeskanzlerin. Sie macht ihre Arbeit, indem sie ihr Land vertritt. Und diese Arbeit macht sie gut. Ich teile auch nicht die Ansicht, Reparationsforderungen aus dem 2. Weltkrieg gegen Deutschland mit unseren jetzigen Schulden zu verrechnen. Es geht nicht um Geld, das wir diesbezüglich wollen. Außerdem ist das alles lange her.
An der jetzigen Krise sind in erster Linie unsere eigenen Politiker Schuld, weil sie ihre Arbeit nicht gemacht haben.
Tsochatsópoulos (ehemaliger Minister/ PASOK) hat man eingesperrt. Doch er ist der einzige, ihn stempelt man jetzt zum Sündenbock, die anderen sollen davonkommen? Er sitzt bereits seit einiger Zeit im Gefängnis, und noch immer deckt man Scheinfirmen und Machenschaften auf, bei denen er sich durch Schmiergelder in unglaublichem Maße bereichert hat. Andere korrupte Politiker haben sich doch auch auf dem Rücken der griechischen Bürger finanzielle Vorteile verschafft und uns in diese Krise gebracht. Das Problem der Krise kann kurzfristig nicht gelöst werden. Eine langfristige Änderung kann nur über eine geänderte Erziehung der Kinder gehen, um ihr Bewusstsein entsprechend zu schärfen.


Unser eigenes Fazit:
Auch wenn die Region Messenien von der Natur geküsst ist und gute Bedingungen für eine reiche Landwirtschaft bietet, sind viele Menschen dennoch besorgt, was ihre eigene Zukunft und die ihrer Kinder angeht. Sie suchen ihre eigene Position und machen sich differenzierte und kritische Gedanken über die Lösung der Probleme. Es ist, als ob man aufgewacht sei und sich jetzt ungläubig die Augen reibt. Die Möglichkeit zum scheinbar grenzenlosen Konsum, die man als Besucher des Landes immer wieder mit Erstaunen wahrnahm, ist wie eine Seifenblase zerplatzt. Vielleicht haben so manche es eh geahnt, dass das auf Dauer nicht gut gehen konnte, denn Geld, insbesondere staatliches, wächst nicht auf Bäumen.
Etwas, das wir in Deutschland seit den 1980er Jahren erleben, nämlich erhebliche Veränderungen in unserer Gesellschaft durch beispielsweise die Gesundheitsreform mit der Einführung der Praxisgebühr, der Übernahme von Kosten für viele Medikamente durch die Patienten selbst und den Folgen der Budgetierung von Geldern der Krankenkassen für die Ärzte, die Einführung der Pflegeversicherung 1995 als neuem Zweig der Sozialversicherung, der zu finanzieren ist, die Kürzung der Nettorenten in der Zukunft bzw. die Nichtanpassung der jetzigen Renten und die Verlängerung der Lebensarbeitszeit durch die Rentenreform, den Wegfall der Vermögenssteuer, die Einführung des Solidaritätszuschlags zum „Aufbau Ost“, die Folgen von „Hartz IV“ und durch all dies auch eine Einbuße der Kaufkraft muss Griechenland mit seinen eigenen Gegebenheiten nun im Zeitraffer verkraften. Verständlich daher auch die Demonstrationen und die Suche nach Schuldigen außerhalb des Landes. Nirgendwo haben wir auf dieser Reise jedoch eine Antipathie gegen Deutsche gespürt, wie so manche deutsche populistische Zeitungen und Zeitschriften es gerne hätten und publizieren: Im Gegenteil war sehr viel Kritik gegenüber den eigenen Politikern zu hören. Deren Glaubwürdigkeit ist dahin. Die Menschen scheinen in der Mehrheit dennoch bereit, Änderungen und Einschränkungen in Kauf zu nehmen, aber nur, wenn die Korruption bei den Politikern aufhört und diese mit an einem Strang ziehen.

In diesen Zusammenhang passt auch der Kommentar zum Besuch von Frau Merkel in Athen („Therapeutin auf Hausbesuch“) von Stephan Kornelius in der Süddeutschen Zeitung vom 10.10.2012, in dem es unter anderem heißt: „(...) Auch in Griechenland gibt es eine Mehrheit, die auf der Suche nach Schuldigen bei sich selbst anfängt. Diese Menschen sind beschämt über ihren dysfunktionalen Staat, ihre dysfunktionale politische Elite, über die Realitätsverweigerung in Teilen der Gesellschaft, die einfach nicht verstehen will, dass Griechenland viel zu lange auf hohem Niveau gepokert hat. Und dass die Krise nicht einfach verschwindet, wenn man Geld drauf schüttet. (...)
Gleichwohl spiegeln die Demonstrationen nicht die eigentliche Stimmung im Land wieder, wo die Mehrheit differenziert und zwischen den Aufgaben einer deutschen Kanzlerin und einem griechischen Premier unterscheiden kann. Diesen Menschen galt die symbolische Kraft des Merkelbesuches. (...)“

Ähnliches las man auch in griechischen Zeitungen, in denen man sich sachliche und differenzierte Gedanken macht, und die sich nicht geifernd auf eine Randgruppe stürzte, die sich mit Hakenkreuz und Nazifahne zu inszenieren versuchte. Dieser unsägliche Populismus – egal von welcher Seite – bringt niemanden auch nur einen Zentimeter weiter; vielmehr, wie Stephan Kornelius es ausdrückt, braucht Griechenland „Beistand, Ansporn und Einsicht“.