Montmartre
- Place du Tertre -
Sacré Coeur


Unser erster Ausflug führt uns hinein ins Village Montmarte, das Dorf, wie unser Vermieter uns lachend erklärt hat, durch die langgezogene Rue des Abbesses, der „Äbtissinnen"-Straße, die ihren Namen von der Abtei von Montmartre, einem Bendiktinerkloster aus dem 12. Jahrhundert, erhielt. Essensdüfte wehen zu uns aus den gut besetzten Cafés und Restaurants herüber, an denen wir vorbeischlendern, und ein heiteres Geschnatter tönt neben Tellergeklapper aus den Lokalen. Wir genießen den höflichen Umgang miteinander, und das internationale Nebeneinander, was diesen Stadtteil schon seit langer Zeit so besonders und liebenswert macht. Große Ladenketten sucht man hier vergebens; dagegen bieten unabhängige Ladenbesitzer alles an, was man zum Leben benötigt, einige auch sonntags, bis tief in die Nacht.
Berühmte Persönlichkeiten fanden den dörflichen Charakter des Montmartre-Hügels schon im 19. Jahrhundert so anziehend, dass sie sich hier niederließen. Zu ihnen gehörten Heinrich Heine, Hector Berlioz, Émile Zola, die Maler Edgar Degas, Paul Cézanne, Paul Gaugin und Vincent van Gaugh, um nur einige zu nennen. Seinen Ruf als Künstlerviertel erhielt der Stadtteil dann seit der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert, der „Belle Epoque", aber auch besonders in den 1920er Jahren, als immer mehr Kunstschaffende vorübergehend oder auch für längere Zeit hier ansässig wurden und eine einzigartige Kunstszene prägten. Amedeo Modigliani, Henri Matisse und Pablo Picasso seien genannt. So wie heute die Bewohner von Montmartre traf man sich möglicherweise ebenfalls in den zahlreichen Lokalen, vielleicht entstanden gerade hier die berühmten Werke in den Köpfen der kreativ Schaffenden.
Mit diesen Gedanken und die elegante Sprache und vielfältigen Gerüche aufnehmend schlendern wir die Kopfstein-gepflasterte Rue des Abbesses nach Osten entlang, die schließlich den Blick freigibt auf den kleinen Jehan-Rictus-Platz, wo sich eine erste touristische Attraktion, die Mur de je t’aime, befindet, eine seit dem Jahr 2000 existierende Wand aus dunkelblauen Kacheln, auf der der Ausdruck „Ich liebe dich“ in weißer Schrift in so und so vielen Sprachen wiedergegeben wird. „Paris - Stadt der Verliebten", vielleicht beinflusste dieses Klischee die Idee der Macher. Beim Betrachten der Kacheln will sich bei mir jedoch kein romantisches Gefühl einstellen. Vielmehr wirken sie statisch und kalt, prêt-à-photographier. Die Wand wird trotzdem wohl in jedem Reiseführer erwähnt; die anwesenden Touristen rätseln aber offensichtlich so wie wir, was genau daran das Besondere ist. Und so wie die anderen knipsen auch wir die Kacheln und ziehen dann weiter.


Unser nächstes Ziel ist die höchste Erhebung über Paris. Nach und nach erklimmen wir die steilen Treppen des Butte Montmarte, des Hügels, wie er hier heißt. Die letzte der Stufenrampen endet am völlig überfüllten Place du Tertre. Dessen Innenraum wird traditionell dicht von Malern bevölkert, die ihre Kunst vor den zahlreichen Staffeleien dem (touristischen) Publikum vorführen. Speziell die Portraitmaler haben gut zu tun, man kann ihnen beim Entstehen eines Gemäldes direkt über die Schulter schauen.



Mit der engen Menschenmasse schieben wir uns langsam vorwärts, als wir von einem Mann angesprochen werden, der mehrmals eindringlich erfahren möchte, woher wir kommen, während er uns die „traditionelle Kunst des Scherenschnitts“ vorführt und mein Konterfei unaufgefordert mit einer Schere aus einem Stück Pappe herausschneidet. Ich erkenne mich überhaupt nicht wieder, und überhaupt hatten wir nicht vor, etwas zu kaufen. Eigentlich möchten wir nur ein wenig Atmosphäre schnuppern, doch das klaustrophobische Gefühl in der dichten Menschenmenge vertreibt uns vom sonst bestimmt sehr schönen, kleinen Platz.
Um die Ecke ist ein Zocker am Werk. Hütchenspiele auf der Straße gegen Geld sind sicherlich auch in Frankreich verboten, doch wahrscheinlich macht gerade das den Reiz aus. Eine Menschentraube verwettet ihre Fünfziger gegen Fingerfertigkeit und Ablenkungsmanöver. Nicht jeder verliert, doch lautstarken Spaß haben augenscheinlich alle.
Die Straße führt wenige Meter bergab, um eine Kurve, und von hier aus hat man schon einen ersten atemberaubenden Blick über einen Teil von Paris, bis hinüber zum Eiffelturm. Der 320 Meter hohe Stahlkoloss wurde anlässlich der Weltausstellung 1889 erbaut. Zunächst ungeliebt, ist er heute nicht mehr aus Paris wegzudenken und vielmehr zum Wahrzeichen der Stadt geworden.



Nach der Umrundung wuchtiger Mauern ragt links vor uns, an der höchsten Erhebung von Montmartre, die imposante, weiße Kirche Sacré-Cœur auf. Sie wurde mit Spendengeldern errichtet und als katholische „Herz-Jesu-Kirche" im Jahr 1919 geweiht.


Vor dem Eingang der Kirche herrscht geschäftiges Treiben, auch Polizisten mit Maschinengewehren patrouillieren und haben die Menschenmenge im Blick. Die Gefahr von Anschlägen spätestens seit Charlie Hebdo scheint ernstgenommen zu werden. [Unser Besuch in Paris fand drei Wochen vor den Attentaten vom 13. November 2015 statt.]
Durch den linken Bogen des von gewaltigen Säulen umstandenen Hauptportals betreten wir das Kircheninnere. Das Menschengeschiebe bleibt hier zum Glück erträglich.


Die weite Kuppel überwölbt nach byzantinischem Vorbild die Mitte des Innenraums und schafft Licht und Größe. Diese Bauart kennen wir aus der Agia Sofía in Istanbul, dem Vorbild aller Kreuzkuppelkirchen. Über dreihundert mühselige Treppenstufen kann man die Kuppel besteigen. Sicherlich ist der Blick über Paris von dort oben noch großartiger.
Die geräumige Apsis, von einem Säulengang umgeben, birgt an ihrer Decke ein gewaltiges Mosaik mit der Darstellung des auferstandenen Christus.




Inmitten der Apsis leuchtet silbern und hell die Monstranz.


Um weitere Einzelheiten in Ruhe bewundern zu können, schieben wir uns in eine der Bankreihen, nehmen das auf- und abschwellende Flüstern der Mitbesucher wahr, das immer wieder unterbrochen wird von einem vernehmlichen „Schscht!“ der überall postierten Wachen, um die Besucher daran zu erinnern, dass sie sich in einer Kirche befinden.


Die Kirchenfenster sind kunstvoll gearbeitet und in gutem Zustand. Die für mich unzweifelhaft schönsten Fenster aus dem Mittelalter beherbert der Kölner Dom, und auch hier suchen sie ihres gleichen.
Kostbare Kleinodien, wie diese Madonnenfigur, haben ihren Platz in der Sacré-Cœur an exponierter Stelle gefunden.



Die Seitenaltäre sind kunstvoll verziert.



An mehreren Stellen kann man für teures Geld Kerzen kaufen.


Noch einen letzten Blick werfen wir vom Ausgang zurück durch das Hauptschiff, bevor wir wieder dem Ausgang zustreben.
Zumeist junge Menschen haben sich auf den Treppenstufen, die von der Kirche den Hügel hinab führen, niedergelassen. So wie wir zu unserer Jugendzeit, und so wie die Generationen vor uns alleine oder mit Freunden verreisen konnten, genauso finden sich auch heute junge Menschen zusammen, bereit die Welt zu entdecken, offen für neue Erfahrungen und andere Sichtweisen von Gleichaltrigen aus anderen Ländern und Kontinenten.
Ach wie schön es ist, so jung und unbeschwert zu sein! Und wie beglückend, ein klein wenig dieses im Laufe der Jahre etwas in den Hintergrund geratenen Gefühls von damals wieder aufleben zu lassen. Vielleicht tragen auch die erhabenen Ausblicke über die Stadt sowie die monumentale Kirchenfassade im Hintergrund ihr Übriges dazu bei.


Ein Gitarrist hat eine kleine Anlage auf einem Stufenabsatz aufgebaut und bringt seine Musik dar. Andächtig lauschen die jungen Leute, spenden Beifall, rücken näher.


Langsam trotten wir zusammen mit vielen anderen Besuchern die symmetrisch nach beiden Seiten geschwungenen Wege wieder hinab.


Am Fuße des Hügels passieren wir ein altes venezianischen Karussell aus dem 18. Jahrhundert (oder diesem zumindest nachempfunden). Gerne lassen wir uns hundertfünfzig Jahre oder mehr zurückversetzen, um uns vorzustellen, wie gut behütete Damen in bodenlangen Kleidern und fesche Männer im Anzug und mit kecken Hüten auf den Holzpferden oder in den Gondeln Platz nahmen, um sich ein wenig vom Fahrtwind berauschen zu lassen (während die Armen nicht genug zu essen hatten und sich an der stinkenden Seine als Waschfrauen, Wasserträger, Flößer oder mit anderen Tagelöhnerjobs ihre Brötchen verdienten). Oder wie etwa ausgelassene Kneipengänger der zwanziger Jahre lachend und herumalbernd während einer nächtlichen Tour hier Halt machten, um einen Ritt durch die Nacht zu wagen, während man die neuesten Ohrwürmer sang.


Ein letzter Blick geht hinauf zur Kirche, die den Stadtteil bekrönt, bevor wir wieder in Richtung Rue des Abbesses und unseres Appartements davonschlendern, vorbei an der „Talstation" der Funiculaire (Standseilbahn), mit der man sich bequemerweise die Treppen nach oben sparen kann.


Eine enorme Menschenmasse verstopft an dieser Stelle die Bürgersteige. Uns ist die Gemütlichkeit in der Nähe unseres Appartements lieber, wo wir uns am frühen Abend in einem Eckcafé niederlassen, um an einem köstlich kühlen Weißwein zu nippen, während wir dem Treiben auf der Straße zuschauen.
Zum Tagesabschluss nehmen wir in einem kleinen kreolischen Restaurant um die Ecke Platz und lassen unsere Geschmacksnerven von delikaten karibischen Speisen betören.


Cimetière de Montmartre