Der Morgen beginnt in wohliger Erinnerung an gestern Abend mit einem ausgewachsenen Kater und der Fortsetzung des alltäglichen Eier-Frühstücks, das wir schon aus New York kennen. Als Ergänzung süßer Früchtejoghurt, der hier gezapft wird. Auch zuckrige Teilchen liegen aus. Pancakes kann man mit zur Verfügung gestelltem Teig selbst backen. Meine Sehnsucht nach irgendwas ohne Zucker, einer normalen Scheibe Vollkornbrot und gelbem Käse wird täglich größer, Abwechslung vom allmorgendlichen Hotelfrühstückseinerlei ist während unseres Aufenthaltes jedoch nicht in Sicht. Einzig der Kaffee schmeckt mir richtig gut, und davon brauche ich heute unbedingt ein paar Tassen, um wieder einigermaßen auf die Beine zu kommen. Am späten Vormittag sind wir schließlich bereit, das Zentrum von Nashville zu erkunden.
Der Himmel ist bewölkt, jedoch ist es merklich wärmer als in New York. Schließlich befinden wir uns in den Subtropen, und so kann man das Frühlingswetter vielleicht mit Griechenland vergleichen: unbeständig, mal wärmer, mal kälter, ein Regen-Sonne-Gemisch mit heißen Tagen zwischendurch, und schwül bis gewittrig. Das Hotel hat, wie alle anderen in diesem Außenbezirk, einen Shuttle-Service eingerichtet, der stündlich verkehrt. Dazu müssen wir uns an der Rezeption anmelden, von dort wird dann telefonisch geklärt, ob noch Plätze im Bus vorhanden sind und dass er überhaupt hierher kommt. Um die Wartezeit zu überbrücken, setzen wir uns erstmal draußen auf eine Bank. Ein paar junge Mädchen in auffälligen Glitzerkostümen gesellen sich zu uns. Es ist ja Wochenende, vielleicht ist heute ein Umzug, sinniere ich über das Outfit nach. Mit fünfzehnminütiger Verspätung trifft der Bus ein. Wir erstehen zwei Tickets für je 10 USD pro Person für Hin- und Rückfahrt. Während im Radio ein paar Country-Songs laufen, brettert der Fahrer über die Autobahn durch weitere Außenbezirke der Stadt, um schließlich in das Herz der Stadt zu gelangen. Am Riverfront Park, an den Ufern des Cumberland Rivers gelegen, verlassen wir an einer Haltestelle den Bus. Laut bekommen wir noch die Rückfahrzeiten zugerufen (jede volle Stunde!). Mittlerweile ist die Sonne hinter den Wolken herausgekommen, und augenblicklich wird es wärmer, sodass man es auch ohne Jacke gut aushalten kann. Zunächst hocken wir uns auf eine Mauer, um uns einen Überblick zu verschaffen und uns zu entscheiden, wo wir überhaupt hingehen werden. Den Fluss haben wir im Rücken und eine Hauptstraße vor uns, die offensichtlich ins Zentrum führt. Da ich leider im Hotel alle Unterlagen vergessen habe und wir auch so keinen Plan haben, folgen wir einfach auf gut Glück der Herde diese Straße, den Broadway, hinauf. Ein merkwürdiges Gefährt kreuzt unseren Weg: Es sieht aus wie ein Bus, wird jedoch von einem Traktor gezogen. Junge Menschen mit Cowboy-Outfit singen zu lauter Musik, die dort herausschallt. Die Leute amüsieren sich prächtig und der Alkohol fließt bereits tüchtig. Auch andere Feiernde frönen in einigen mehrstöckigen Lokalen, wie dem Whiskey River Saloon, mit ihren voll besetzten Roof-Top-Bars zur Mittagszeit schon heftig dem Cocktailgenuss. Nicht auszudenken, wie es ihnen nach der Sonneneinstrahlung auf den alkoholgeschwängerten Kopf am Abend ergehen mag. In einigen Kneipen wird es schon am Eingang angezeigt, dass Waffen in den Räumlichkeiten verboten sind, denn immer wieder kommt es zu Auseinandersetzungen, die von übermäßigem Alkoholkonsum verstärkt zu Gewaltigkeiten führen. Sehr schade, denn die Stimmung scheint überwiegend richtig gut zu sein. Immer voller wird es, je näher wir dem Zentrum kommen. Über die Straßen radeln immer wieder Gruppen in Pedal-Taverns (Pedal-Tavernen), also ein mit der Kraft vielbeiniger Pedal-Tritte getriebenes Gefährt in Form eines Kneipentresens, aus denen natürlich laute Musik erschallt und deren Besatzung (meist einheitlich gekleidete Frauen) dazu laut kreischend vorüberstrampeln. Allein die Lautstärke tut meinem Kopf heute überhaupt nicht gut, sodass ich der Menschenmasse, die sich mittlerweile über die Bürgersteige schiebt, und den lauten Musikavancen aus den Lokalen, ganz gerne entfliehen möchte. Auf dem Broadway reiht sich nämlich ein Lokal ans andere, alle mit offenen Türen und Fenstern; im Erdgeschoss meist auch mit kleinen Bühnen direkt zur Straßenseite hin, auf denen mehr oder minder gute Live-Bands elektronisch verstärkt alles Mögliche spielen, nur keine Country-Musik, sondern eher Rock und mainstreammäßigen Pop. Zufällig geraten wir in die Straße, in der auch das Johnny-Cash-Museum liegt, dessen Besuch für heute sowieso geplant war. Wie erholsam es hier ist, leicht klimatisiert und die Lautstärke auf einem angenehmen Mindestmaß. Immerhin kann man sich unterhalten, ohne sich, wie draußen, anschreien zu müssen. 26 USD kostet der Eintritt pro Person, Senioren und andere erhalten 1 USD Rabatt. Wie bei unseren anderen Aktivitäten müssen wir nirgendwo unseren Rentnerausweis vorzeigen, wahrscheinlich sieht man uns das Alter an. Das kann auch seine Vorteile haben! Inzwischen hat sich eine kurze Warteschlange gebildet, bevor wir in die Ausstellungsräume hineingelassen werden. Das Museum ist nicht sehr groß, aber gespickt mit Schautafeln und Memorabilien, wie z.B. zahlreichen goldenen Schallplatten, Ehrenauszeichnungen und Vitrinen mit Outfits, die das Künstlerleben eines der größten Country-Musiker der Geschichte Revue passieren lassen. Eine Timeline beleuchtet die Jahrzehnte seiner Karriere. Ein Jahr vor seinem Tod, nahm Johnny Cash den Song Hurt von Michael Trent Reznor auf. Original-Gegenstände, die im Video verwendet wurden, sind im Museum ebenfalls ausgestellt. Auch Papierbögen mit Briefen und Song-Texten in seiner schön leserlichen Handschrift findet man angepinnt, wie dem von I Walk the Line. Die Atmosphäre in diesem Museum ist einmalig familiär, dazu ein bisschen dunkel und heimelig. In einem kleinen „Theater“ kann man sich auf Bänken sitzend Videos mit denkwürdigen Live-Auftritten anschauen, Johnny in Nahaufnahme mit dem etwas melancholischen, aber festen Blick, dem typischen Gitarren-Schwung und seiner so unglaublich gefühlvollen und sonoren Bass-Bariton-Stimme. Man wird unweigerlich hineingesogen und erlebt ihn richtig nah, als ob er direkt lebendig vor einem stehen würde. Oh Mann, genau dafür bin ich hierhergekommen. Wer war der Mensch Johnny Cash, der zu einer amerikanischen Musikerlegende geworden ist? Auf der Internetseite des Museums gibt seine Biografie einen ersten Überblick. Auch die Laudatio seiner Tochter, Rosanne Cash, anlässlich seiner Ehrung im Jahr 1996, nähert sich dem Menschen an:
Verschiedene Facetten, die seine Persönlichkeit ausmachten, werden in der Ausstellung ein wenig beleuchtet: Johnny Cash, der Patriot; Johnny Cash, der gläubige Christ. Johnny Cash, der sozial engagierte Mensch, der bei allem Erfolg nie die Bodenhaftung verloren hat und Benachteiligte und Vergessene mit Geldbeträgen unterstützte, wohl auch, weil er selbst trotz seines großen Erfolges stets wusste, dass sein Leben nicht geradlinig verlaufen und sein Erfolg nicht selbstverständlich war, und viele andere es eben nicht so gut haben. Tatsächlich war es Johnny ernst mit seinem schwarzen Bühnenoutfit. Der Song sei eine sehr persönliche Angelegenheit, meint er in einer Ankündigung zu The Man in Black.
In der Ansage zu einem weiteren Song, Sunday Morning coming down (von Kris Kristoffersen), mit dem Johnny einen großen Erfolg hatte, erklärt er, was das Lied ihm bedeutet. Sinngemäß sagt er:
Kris Kristoffersen ist hier ein wunderbar poetisches Lied gelungen. Es malt sehr nachvollziehbar das Bild eines Menschen, der von seinem Weg abgekommen und ziemlich weit unten gelandet ist. Die Szenen, die er an einem frühen Sonntagmorgen beobachtet, erinnern ihn schmerzvoll an sein früheres Leben und machen ihm seine Einsamkeit bewusst.
Auch Willie Nelson beschreibt Johnny Cash in seiner Vielschichtigkeit:
Johnny und Willie als Highwaymen im Duett: I still miss someone (Song von Johnny Cash) In unserem Reisejahr 2023 jährt sich sein Tod schon zum zwanzigsten Mal, doch es ist, als wäre Johnny Cash immer noch da, so stark ist seine Präsenz hier in diesem kleinen Museum. Zum Abschluss erstehen wir noch drei CDs: - Johnny Cash - A Concert behind Prison Walls - Johnny Cash / Willie Nelson - Every Song Tells A Story - The Highwaymen (mit einem meiner Lieblingssongs von Kris Kristoffersen „A Living Legend“) Den Film Walk the Line aus dem Jahr 2005 mit Joaquin Phoenix (Johnny Cash) und Reese Witherspoon (June Carter) in den Hauptrollen hatte ich mir zur Einstimmung erstmalig zwei Tage zuvor, während unseres Fluges, angesehen. Es ist ein mitreißender Film, die Geschichte allerdings selektiv und ausschließlich auf den jungen Johnny Cash und die Beziehung Johnny Cash/June Carter mit Happy End ausgerichtet. Bemerkenswert finde ich die schauspielerische Leistung, und dass viele Lieder von den Schauspielern selbst gesungen wurden. Es ist sehr schade, dass wir im Museum nun alles gesehen haben und wieder hinaus in den schwitzigen Rummel müssen. Für diesen Übergang brauchen wir eine Pause. Ein Lokal um die Ecke bietet noch ein paar freie Sitzplätze, eine Kleinigkeit zum Essen und kühle Getränke. Und Live-Musik auf einer Bühne, die sich versetzt um die Ecke befindet, sodass wir nicht frontal beschallt werden. Ich kann auch gar nicht richtig zuhören, bin noch in dem anderen Gedankenfilm dort im Museum, freue mich auf den Imbiss, genieße unser Eiswasser und staune über die vielen Cocktails, die zu dieser frühen Zeit schon ihren Weg über den Tresen finden. Wahnsinn, was alles und wieviel die Kids sich so reinziehen! Ich nutze die Gelegenheit, bei unserer Bedienung meine Neugier zu stillen. Ich möchte nämlich unbedingt wissen, warum fast alle jungen Mädchen in crazy, sexy Pailletten-Outfits und Cowboy-Stiefeln unterwegs sind. Die Kellnerin erklärt lachend auf meine Vermutung, dass dies der typische Nashville-Stil unter jungen Leuten sei, nein, das hätte ausschließlich mit Taylor Swift zu tun, die an diesem Wochenende an drei Tagen Open-Air-Konzerte geben und von ihren unzähligen Fans in dieser Weise hofiert würde. Es sind Tausende dieser glimmernden Kreischis (sogenannte „Swifties“), die sich aufgeregt durch Nashvilles City bewegen. Dazu kommen Dutzende der erwähnten Pedal-Cars mit ultralauter Beschallung und im Vorbeigehen die Kneipen, eine neben der anderen, die jegliche Anlagen mit Live-Musik oder solcher vom Band, volle Kanone aufgedreht haben. Obendrauf eine mittlerweile knallende Sonne, die die Temperatur auf fast schon dreißig Grad getrieben hat und die sich dahinschiebende Menschenmenge zum Schwitzen bringt. Nichts für meinen heutigen Duselkopp. Da wir nach der Erfrischung nichts anderes vorhaben, laufen wir noch ein wenig durch die Nebenstraßen und finden die Country Music Hall of Fame. Besichtigen möchten wir diese nicht, weil wir einerseits noch so einen schönen Nachklang des Johnny-Cash-Museums verspüren, uns andererseits auch in der Country-Musik nicht genug auskennen. Leider ist neben dem Gebäude ein größerer Bereich abgesperrt. Hier wollten wir eigentlich ein wenig den Music City Walk of Fame entlangspazieren. Wieder in Richtung Riverfront unterwegs, passieren wir noch das Symphonyzentrum Schermerhorn, in dem nicht nur klassische Konzerte stattfinden. Das Gebäude ist noch recht neu, es wurde 2006 der Öffentlichkeit zugänglich gemacht, ist jedoch an die Architektur von europäischen Kulturstätten aus dem 19. Jahrhundert angelehnt. Langsam rückt wieder der Fluss in unsere Blickrichtung. Über die John-Seigenthaler-Fußgänger-Brücke (benannt nach dem US-amerikanischen Journalisten, einem Sohn der Stadt), mit einem Aufgang neben der Bushaltestelle, an der wir am Mittag angekommen waren, pilgert ein unablässiger Menschenstrom irgendwohin auf die andere Seite. Da sehr viele dieser Paillettengirls zielgerichtet dorthin zu einer Arena am Flussufer strömen, kann ich mir denken, dass Taylor Swift wohl in diesem Stadion auftreten wird. Wir hingegen bleiben in der Mitte der breiten Brücke, wo uns auf Bänken im Schatten der angenehme Hauch einer Brise um die Nase weht. Hier lässt es sich für den Moment richtig gut aushalten. Langsam trödeln wir zurück zur Bushaltestelle an der Riverfront, wo uns kurz nach 17 Uhr der Kleinbus abholt und zum Hotel zurückbringt. Die Busfahrerin plaudert während der Fahrt ein wenig aus ihrem Leben in Nashville, auch darüber wie sich alles verändert hat. „Als das Hard Rock Cafe-Emblem angebracht wurde, dachte ich, es sei das coolste, was ich je erlebt habe.“ In der Stadt gab es auch weder so viele Besucher noch einen so unbändigen Verkehr wie heute, wobei es ausgerechnet an diesem Wochenende mit den Taylor-Swift-Konzerten schon überdimensional sei, weil sich auch sehr viele Besucher aus dem Umland in der Stadt aufhielten und die Zufahrtsstraßen verstopften. Zurück im Hotel kommen wir mit einer anderen Hotelbesucherin aus North Carolina ins Gespräch, die ebenfalls zu einem Konzert hier ist, aber nicht zu Taylor Swift. Ob das Leben in Deutschland teurer sei als in den USA, möchte sie wissen. Nein, um einiges preiswerter, erkläre ich ihr, und zwar in allen Bereichen, die wir bisher kennengelernt haben. Auch die Artikel in den Supermärkten, die mehrheitlich von Einheimischen und nicht von Touristen frequentiert werden, hätten ein eindeutig höheres Preisniveau. Damit hat sie nicht gerechnet und ist sehr überrascht. Am Abend habe ich immer noch keine Lust, mich in einen lauten Schuppen zu setzen, und Hunger habe ich auch nicht. Lieber würde ich mich im Hotelzimmer ausruhen. Alex wird ein Lokal in der Nähe – sofern vorhanden – aufstöbern, und mal schauen, was es da so zum Mitnehmen gibt. Zurück kommt er mit einer Riesentüte voller Allerlei von Logan’s Roadhouse, das tatsächlich nur zwei Gehminuten hinter dem Hotel liegt. Da unser Zimmer schön groß und mit Tisch und Sesseln ausgestattet ist, genießen wir ganz in Ruhe unser Mahl. Nachdem ich gemerkt habe, wie hungrig ich eigentlich doch war und wir alles bis auf den letzten Krümel verputzt haben, gleiten wir in einen seligen Schlummer, nicht bevor ich allen Göttern für die Eingebung gedankt habe, unser Hotel weit weg von der City, in einer himmlisch ruhigen Gegend, gebucht zu haben. |