Teil 6: Zwischenspiel auf Kreta
Copyright puchheim = MartinPUC, Juli 2007


Wie freue ich mich, kretischen Boden betreten zu dürfen! Nestflüchter der ich bin, werde ich dennoch nur kurz auf dem "Kontinent" verweilen.

Vom vor dem Hafengelände in Iráklio gelegenen vereinigten Busbahnhof nach West und Ost ist der letzte Bus in den Inselosten vor einer halben Stunde abgefahren. Ich weiß, was ich zu tun habe.
Die 25.–August–Straße, nun die perfekte Fußgängerzone, einmal quert sie bescheidener, fast zufälliger Verkehr.
Nach 10 min stehe ich in der bescheidenen Empfangshalle meines bewährten , für die Hauptstadt preisgünstigen Hotels, wo mich der Besitzer gleich wiedererkennt, aus seinem Büro herauskommt und den jüngeren Mann hinter der Empfangstheke freudig anweist, mir das letzte erhältliche EZ im Haus zu geben. Ich komme wie üblich ohne Bad im Zimmer zurecht, kann mir die schönere von zwei Duschen auf dem Flur aussuchen, mich erst einmal erfrischen.
In einem kleinen Lädchen, eigentlich einem Kiosk in der Form eines Ladenlokals mit reichlich Auswahl an Getränken, Knabberzeug, Süßigkeiten und Zigaretten, versorge ich mich mit dem Nötigen und bring es aufs Zimmer. Gerüstet für später und für eine vielleicht etwas zu warme Nacht mit der Option, mich auf die Dachterrasse zu begeben.
Nun also auf in die Stadt.

Früh sperrt er zu, der Landkartenshop von Road Editions unweit westlich des Venizélou–Platzes, ich hab dort nie eine Chance (das sind ja echt mitteleuropäische Ladenschlusszeiten!), zumal ich auch immer relativ früh am Morgen aus der Stadt abreise. So schlendere ich über die Hauptdurchgangsstraße hinüber in die alte Marktgasse.

Dort fallen einem am frühen Abend in erster Linie die paar Kafenía ins Auge, sie haben mich immer schon gereizt. Nicht gleich im ersten, aber dann doch bald in einem von zwei sich gegenüberliegenden nehme ich draußen Platz, an einem von insgesamt vielleicht drei Tischen. Das Gegenüber wirkt eher wie eine Bar mit zusätzlichen Sitzplätzen im Freien, mein Lokal dagegen wie ein schönes Überbleibsel, wie man es sich nur wünschen kann. Dabei ist der Wirt nicht gerade alt. Am Nebentisch diskutieren zwei Kreter bei Ratschí und üppigen Mezédhes. Das regt meinen Appetit an.
So geh ich rein und frage nach dem Mezé–Angebot. Auf diese Weise komme ich zu einem ganzen Ensemble mittelgroßer Teller plus Bier und einem Schnäpschen dazu. Besonders wohlschmeckend ein Fleischgericht mit herrlicher Sauce, ansonsten hab ich Vegetarisches und Paximádhia. Es ist ein Fest für mich, ich liebe eine derartige, immer noch einfache Vielfalt, eben Pikilía, und noch dazu kretische. Noch einen Rakí/Ratschí dazu. Am Schluss zahle ich etwa 7 Euro, ein wahrlich guter Preis. Hab wieder Eindruck geschunden mit ein wenig, aber wohl gut gewähltem Griechisch. Man hat mich akzeptiert und nicht nach meinem Herkunftsland gefragt, und auch nicht, ob ich verheiratet sei und wie viele Kinder ich hätte und warum die Frau nicht dabei sei.

Um den Bembo–Brunnen herum hat sich viel verändert. Neue Lokale, eher Fast Food auf Kretisch, wirkt alles moderner, angepasster.
Quere also den Ostteil der Platía Kornárou, über Ampeln huschend, bei Grün, bei Rot. Der südliche Teil der Evans–Straße laut, geschäftig, mit stickiger Verkehrsluft, beeindruckenden Läden, auch einer Buchhandlung. Geheimnisvolle schmale Nebengässchen.
Es überkommt mich eine Art Unbändigkeit, eine große Lust, noch irgendwo einzukehren, einfach zuzuschauen und was zu erleben. Wenn ich den früheren Bus morgen versäume, tut es auch der spätere.
Einst gab es jenes urtümliche Kafenío neben der Bastion des "Neuen Tores" in der Stadtmauer, aber lang ist's her. Jetzt rauscht nur noch der Verkehr vorbei an dem platzartigen Weitung.
Doch nach 150 m hab ich es entdeckt, ein anderes Eck–Kafenío. Ein wenig zurückversetzt liegt es da, an einer beginnenden Seitengasse. Parkende Fahrzeuge, Tische im rechten Winkel um zwei Außenwände angeordnet, auch drinnen lebhafter Betrieb. Familien haben sich versammelt, es ist der Vorabend zu Christi Himmelfahrt. Man konsumiert Limos (jene herrlichen, so fruchtigen, die ganz anders schmecken als bei uns zu Hause) und Amítas, die Männer Schwereres, die alten meist Kaffee.

Meinen ersten Bestellversuch nehmen die netten Wirtsleute nicht wahr, vergessen ihn im Trubel. Beim zweiten Mal trete ich bestimmter auf und ein in die Gaststube, sag der Wirtin, dass ich auch noch Wasser zum Retsína will, den ich mir nun selber aus der Kühlung geholt habe. Da ich einen der wenigen touristischen Ausländer verkörpere, die je dieses Lokal beanspruchten und mein Griechisch ganz ungeniert an die Frau bringe, erobere ich sie sozusagen im Sturm. Die alte Dame ist so entzückt, dass sie mir gleich das Wasser in der Plastikflasche spendiert. Glücklich süffle ich vor mich hin, beobachte alle Vorbeiziehenden, höre zu. Es ist eine echte Viertlerkneipe! Für die kleinen Leute aus den Tiefen eines großen, alten innerstädtischen Wohnbezirks mit einer Unmenge kleinerer Häuser.

Anschließend mache ich einen irren Nachtspaziergang. Erst an der Plastíra–Straße zu Füßen und innerhalb der südlichen Stadtmauer entlang. Eine Grünanlage am Straßenrand, Bäume, geparkte Autos, etwa auf der Höhe des Kazantzákis–Grabes, dieses auf dem Kamm des Mauerwalls. An Bauzäunen vorüber weiche ich Autos aus. Eine riesige Baugrube tut sich zu meiner Rechten auf, fast gespenstisch tief.
An ihrem Westrand dringe ich in das Viertel ein, lauter kleine Gassen, alles wirkt irgendwie entlegen, wird immer untypischer für die (immerhin) Großstadt, richtige kleinstädtische griechische Nachbarschaften der gemütlichsten Sorte lassen sich da auf einmal durchqueren – und das in der Innenstadt. Es ist wie ein immer fantastischer werdender Traum, einer den man so gerne träumt. In milder Abendluft. Sommerlich.
Zwar ist die Bebauung zusammenhängend, doch eröffnen sich immer wieder Einblicke in geradezu niedliche Höfe mit Kleinsthäuschen, kühnen Topfblumenarrangements, über ihre Schulter guckenden Hauskatzen, vor ihren Unterkünften im Freien um einen Tisch gruppierten Familien, zu Abend Essenden, sich Entspannenden. Geradezu idyllische Szenen und Momente manifestieren sich dem fremden Auge, dem Eindringling aus fernen Landen.
Die allermenschlichsten, intimsten Seiten einer großen Stadt.

Dann wieder das knatternde Moped, wenn auch selten, der vorbeischnurrende Kleinwagen. Eine Kirche in der Häuserfront. Geschäfte mehren sich. Ein lebhafteres Geschäftsviertel wirft seine Schatten voraus. Aber man lässt sich noch treiben, ganz beglückt. Die verborgenen Qualitäten Heraklions.

Ich überquere wohl die Ajíou–Miná–Straße und lande bald darauf wieder im Marktviertel, laufe Richtung Theotokopoúlou–Park (El–Greco–Park) zurück in mein einfaches Hotel, begebe mich auf die nachstille Dachterrasse.

Durchatmen und Genießen. Eine große Wasserflasche und viele Karélia Fíltros. Aus einem der obersten Zimmer dringen amerikanische Töne auf meine Terrasse hinaus, trotz geschlossener Fensterläden. Ein jüngeres Paar unterhält sich, dominierend die Stimme des männlichen Parts.
Wäre es noch hell, sähe ich von hier oben aus sogar die riesenhohe Palme irgendwo in der Nähe der Stadt–Kathedrale des Heiligen Minás. Ich weiß es, denn ich bin Wiederkehrer, wiederholter Gast, immer ganz spontan und ungebucht Eintreffender, der (fast) jedes Mal noch ein Zimmer kriegt. Am etwas früheren Abend bemerke ich von dieser hohen Warte aus die nach Piräus auslaufenden Fähren. Höre und sehe die startenden Flieger über die Stadt dröhnen. Beobachte die von der Arbeit Zurückkehrenden, die in oberen Stockwerken angehenden Lichter. Abgehobene Stille. Unter mir zwei Gassenschluchten im rechten Winkel zueinander. Auch Iráklio hat seine diversen Idyllen. Das Meer so nah.
Angewitterte, irgendwie unlogisch strukturierte kleinere Hochhäuser. Leichtes Chaos. Ab und zu Krach aus der Gasse. Fast nie kommt jemand aus den Zimmern hoch, es ist Jahre her, dass ich Leute hier draußen traf. (Ignoranten, Nicht–Genießer. Unbewusste. Oder Zufall? Heraklion ist nicht hässlich, muss nicht hässlich sein.)

Die Tirópitta hat sich verschlechtert, im Busterminal. Mit einem späteren Bus, es ist fast Mittag, verlasse ich dieses Erlebnis von Inselhauptstadt. Noch ein Blick auf das Flughafenareal. Nur wenige steigen zu, um die Ecke. Ziemlich unbekannte Fluggesellschaften stehen herum. Transavia landet, bringt vielleicht gute Freunde, die ich nun verpasse.
Fahrt in den Osten.

Beim Kloster Selinári muss ein alter Kreter aussteigen, etwas zu holen. Der Fahrer wartet geduldig. Mit Aaaah! wird der endlich Zurückkommende von den Reisenden empfangen. Die Buchten von Ístro, Pachiá Ámmos, so schön. Die dunkle Kerbe der Chá–Schlucht. Die Berge von Sitía, eine ganz eigene Welt, dieser kretische Osten. In Sfáka dreh und recke ich mich, um einen Blick von meinem Lieblingskafenío südlich (nicht nördlich!) der Durchgangsstraße zu erhaschen. Die kurvenreiche Strecke nach Ost. Viel Straßenneubau vor Sitía ist nicht hinzugekommen. Unzählige Windkraftwerke, einzelne Propellerräder auf den näheren Umlandhöhen.
Oben das Pistenende des unfertigen Flughafens. Die geschätzte Stadt hat mich wieder.

Es wird gewartet auf Busse. den nach Ierápetra, und den zurück nach Iráklio. Auch einer nach Palékastro setzt sich in Bewegung.
Leicht versifftes Klo. Keine Seife am Waschbecken im Vorraum, wie immer. Gepäckstücke. Die Schautafel der Busabfahrtszeiten. Die nette Frau hinter der Kafenío–Theke, bei der ich gleich bestelle, etwas verweile.

Wanderung durch Richtung Hafenbecken führende Straßen, hinter der ersten trennenden Häuserreihe zur Ortsumgehung, ich weiche Autos aus. Auf dem Gehsteig diese blöden Telefonmasten, Verkehrsschilder etc., der Fußgänger mit großem Gepäck muss häufig auf die Fahrbahn runter, den Hindernissen auszuweichen. Nachmittagsträgheit über der Stadt. Ah, der Facharzt mit dem arabischen 08/15–Namen (Mehmet Ali?). All die netten Geschäfte, schmuck und weniger schmuck. Die Kaffeehausecke beim Park neben dem Hotel, mein bevorzugter Aufenthalt. Der Kleider– und Gepäckstückramschladen. Das Bankhaus an der Straßenecke. Der Platz mit den paar Palmen in seiner Mitte. Wartende Taxis (einmal haben wir zu zweit 75 Mark nach Áno Zákros bezahlt), daneben ein Kiosk. Das überrunderneuerte, zu moderne Konditorei–Café, einst so gemütlich, den Maéstro dort getroffen.
Wende mich kurz nach links, biege dann gleich nach rechts in die Parallelgasse ein, die mit ihren Gemüseläden, jetzt alle zu. Schau auf die Fährenfahrpläne bei der einen Agentur, wo ich immer meine Fahrkarte erstehe. Ja, erst übermorgen geht ein passendes Schiff.

Das Hotel Nora liegt relativ weit außerhalb, relativ. Ganz nah jedoch beim Fährhafen.
Weil es mehr fürs Geld bietet als meine ehemalige Kultunterkunft (diese ohne Dusche und Klo im Zimmer, schon vor Jahren teurer als das Nora), komme ich gerne ein zweites Mal wieder. Aber ich setze ein Preislimit und beziehe schließlich lieber ein Zimmer hintenraus, preiswerter, mehr Ruhe, ein Feigenbuschgarten, Vögel, aber kein Balkon (es sei denn, man klettert umständlich durchs Fenster hinaus) und Meerblick; auch hier sind die Preise schon in der Nebensaison etwas in die Höhe gegangen.

Den fehlenden Meer– und Umlandbergblick hole ich mir vom Flachdach aus. In kretischen Häusern gibt es fast immer diesen rostigen Schlüssel, der da oben im Schloss steckt. Dreht man ihn beherzt, landet man in einer Kabellandschaft, bei der Fernsehantenne oder Satellitenschüssel, hochragenden rostigen Eisenstäben, einigem Gerümpel, den Sonnenkollektoren, nicht selten im Wind flatternder Hauswäsche, meist ist das Ganze von einer begrenzenden Mauer umgeben, einer willkommenen Brüstung hin zur Tiefe. Mit etwas Glück findet sich ein abgewrackter Plastikstuhl; hier nicht. So gehe ich mein einziges Exemplar von Zimmerstuhl holen, schleppe den Sessel die verstellte Treppe hoch, postiere ihn nahe der Brüstung zum Meer hin.
Was für eine Aussicht auf die Berge jenseits der Bucht! I love it. Nicht ganz so schön wie von Ájios Nikólaos aus über den wunderbaren Mirabéllou–Golf, aber trotzdem klasse.

Mein Mezé–Kafenío trägt jetzt gar keinen Namen mehr, sieht wiederum renoviert aus, gegenüber jedenfalls der Kiosk und schräg dahinter das Fußballerhaus, grellrot verziert. Abends werde ich herrlich verköstigt, für noch weniger Geld als in Heraklion, aber mit noch mehr Tellern! Genau das gefällt mir. Ich brauche kein teures Fischmenü (– nur gelegentlich ...). Der Bedienerix bemüht sich wirklich um mich, gibt mir Tipps, was ich nehmen soll für einen günstigen Preis. Ich versteh nicht alles, kann mir aber denken, was er meint. Rakí inklusive und viel Wasser. Diesmal spielt niemand Távli. Allmählich treffen die Honoratioren mit ihren Frauen ein. Ich war wie üblich viel zu früh da.

Tags darauf stehe ich vor der Wahl. Makríjalos, Makrí Jalós? Oder doch lieber Stilleres? Na ja, alte Bekannte besuchen?! Ja klar, ich kann nicht widerstehen. Hätte natürlich auch nach Tourlotí und Umgebung ausrücken können, auf einen Tagesausflug. Oder sonstwohin im Osten.
Nein, erst nach Palékastro, so soll es sein.

Aus dem hübschen zentralen Ort des grünen Olivenbeckens wandere ich die anderthalb Kilometer östlich hinaus nach Angathiá, nachzusehen, was aus Nektários vom Kafenío Anatolí im hinteren Ortsteil geworden ist. Nein, er lässt sich nicht zum Priester ausbilden, sondern muss dazuhelfen, der Familie ein Überleben zu sichern. Er arbeitet in einem Touristenandenkenladen in Palékastro, sagt mir seine Mutter, die mich bewirtet. Bisher hätten sie dieses Frühjahr nicht einen einzigen Gast gehabt in der tadellos sauberen, preiswerten und schön gelegenen Pension der Tochter Chrissoúla mit Ausblicken bis Kássos und Kárpathos! Ich kann es kaum glauben.

Weitergehen auf der fast unbefahrenen Asphaltstraße zum Chióna–Strand südlich des markanten Tafelbergs. Die Gegend wirkt verlassen.

Zurück in Palékastro, erwische ich den letzten Bus nach Zákros durch meine mediterrane Traumlandschaft (silbrig–grüne Oliven, Terra–rossa–Böden, glitzernde Kalkberge, kubische Dorfhäuschen).
Gleich nach Ankunft in dem wasserreichen, grünen Ort mache ich einen kleinen Spaziergang hin zur Kirche. Im Vorübergehen sehe ich, dass Maéstro sein kleines, schlecht gehendes Kafenío an der Dorfplatía nun endgültig geschlossen hat, den Kultort für alle Fremden. Eine Art Ölpresse steht als einziges Requisit drinnen geparkt. Ein Kapitel Ostkreta ist zu Ende gegangen.

Enttäuscht nehme ich auf der schmalen Terrasse des Hotels Zákros Platz, bestelle Kaffee und einen Ratschí, krieg Knabbersachen dazu.
Irgendwann dringt Maéstros feste Stimme aus dem Trinklokal auf der anderen Straßenseite. Ganz tief drinnen muss er sitzen. Ich will nicht reingehen, lasse es bleiben. Freu mich, dass er noch gesund und munter ist.

Ein Paar räumt das Zimmer im Hotel, schafft das Gepäck zur Bushaltestelle. Ein wenig spaziere ich noch Richtung südlichem Dorfausgang, geh an dem staubigem Parkplatz vorüber, wo vor Jahren im August Ross Daly seinen Auftritt hatte, den ich aus meinem Hotelzimmer mitverfolgte – hatte mir nicht besonders gefallen, sein Mischstil.

Schon nähert er sich, der letzte Bus von Káto Zákros her zurück nach Sitía.

Schöner Spaziergang in den oberen Stadtvierteln bis über das Kastell hinaus.

Mit etwas Verspätung trifft die Ierápetra L anderntags in Sitía ein. Ich habe ein Ticket bis Diafáni, Nord–Kárpathos gelöst.

Copyright puchheim = MartinPUC, Juli 2007

Nach Kárpathos mit Hindernissen