Anreise nach Istanbul


Am Flughafen Atatürk, auf der europäischen Seite der Millionenstadt, herrscht bei unserer Ankunft das schiere Chaos, ausgelöst von einem Meer von Reisenden, die mit uns gerade angekommen zu sein scheinen und ihren Weg zum Einreiseschalter suchen. Eine schnelle, ruckartige Bewegung mit dem Arm, und schon knallt der Zollbeamte den Stempel auf den Pass. Doch halt, so schnell geht das auch wieder nicht, wenn Tausende genau dasselbe Ziel verfolgen.
Dazu suchen wir zunächst das Ende der Menschenschlange, die sich vor den wenigen Schaltern gebildet hat. Wir können es nicht glauben, doch immer weiter führt uns der Weg quer durch eine lange Halle, um ganz am Ende festzustellen, dass nach uns immer noch viele weitere Reisende ankommen, um das unendlich lang scheinende Menschenband weiterzuknüpfen. Wie etwa eine italienische Reisegruppe, und auch eine griechische, alles ältere Herrschaften, die eigens zu Ostern in der Stadt angereist sind, denn das Fest fällt dieses Jahr sowohl nach dem Julianischen als auch nach dem Gregorianischen Kalender auf dasselbe Datum. Auch wir freuen uns schon auf die morgige Osternacht.
Keinen Millimeter geht es voran. Wir stehen uns die Beine in den Bauch und harren der Dinge. So etwas, wie diese Riesenmenschenschlange an einem Flughafen, hat noch keiner unserer Mitwartenden erlebt, wie man sich kopfschüttelnd versichert. Endlich erbarmt sich ein offizieller Mitarbeiter, fragt noch sicherheitshalber, ob wir keine Transfer-Reisenden seien, und nimmt uns dann mit, um uns an anderer Stelle an eine weitere Schlange anzudocken, die bereits mit Blickkontakt zu den Schaltern durch die abgezäunten Bahnen der Halle mäandert.
Etwa anderthalb Stunden später haben wir unseren Einreisestempel und das Gepäck, das schon vom Band heruntergenommen und daneben abholbereit aufgestellt worden ist. Nach diesem Erlebnis kann man schon verstehen, warum man einen wesentlichen größeren Flughafen in Istanbul haben möchte. Nicht zuletzt durch die zunehmenden Touristenströme scheint der Flughafen Atatürk auf jeden Fall an seine Grenzen gestoßen zu sein.
Draußen, in der Ankunftshalle, hinter der Absperrung, warten weitere Menschentrauben, die irgendjemanden abholen wollen. Es dauert ganze zehn Minuten, bis wir alle Schilder gelesen und herausgefunden haben, dass auf uns niemand wartet, obwohl man das vom Hotel aus organisieren wollte.
Wir könnten auch mit der Metro/Straßenbahn fahren, doch eine Reiseleiterin, die meinen Vorschlag mitbekommen hat, meint, dass wir vom Atatürk zum Taksim-Platz (in Beyoğlu), in dessen Nähe unser Hotel liegt, mindestens einmal umsteigen müssten. Besser nähmen wir einen Havas-Bus. An den erinnere ich mich, denn mit einem solchen waren wir vor fünf Jahren, bei unserem ersten Istanbulbesuch, vom Flughafen Sabiha Gökçen, auf der asiatischen Seite, zum Taksim-Platz gefahren.
Die Bushaltestelle am Atatürk-Flughafen liegt direkt vor der Ankunftshalle. Als wir dort ankommen, schließen sich gerade die Türen des Busses und er fährt ab. Der nächste kommt in zwanzig Minuten, was bedeutet, wieder warten zu müssen. Das dauert uns jetzt zu lang. Wir wollen endlich ankommen und chartern daher ein Taxi. 50-60 Türkische Lira wird die Fahrt kosten, bei der Umrechnung in Euro kann man die Lira grob durch drei teilen, also etwa 20 Euro. Damit kann man leben.
Der unendliche Stau zur Rush-Hour in Richtung Innenstadt überrascht uns jetzt nicht besonders. Außer Stop-and-Go läuft nichts. Das wiederum gibt mir Gelegenheit, die bunten Blumenbeete am Rand der Stadtautobahn zu bewundern, die vorzugsweise mit Tulpen bestückt sind. Der April ist ja der Monat des Tulpenfestes in Istanbul. Tulpenmotive finden sich auch häufig in der osmanischen Kunst, in Darstellungen jedweder Art. Über Istanbul kamen die Blumen nach Europa, nicht über Holland, wie man vielleicht denken mag. Doch das ist lange her, schmunzelt unser Taxifahrer, heute kämen die Tulpen aus Amsterdam nach Istanbul.


Am Meer entlang, in Richtung des Hafenviertels von Kumkapı, in der Nähe der Altstadt, fließt der Verkehr etwas schneller, doch über die mehrspurige Schnellstraße, zur Atatürk-Brücke über das Goldene Horn, kriechen wir nur noch langsam bergan. Über eine Stunde benötigen wir für die gesamte Strecke, die man sonst in gut zwanzig Minuten bewältigen kann.


Da wir die Istanbuler Taxis schon häufiger genossen haben, habe ich dieses Mal vorgesorgt und dem Taxifahrer unseren Buchungsausdruck mit Anschrift und Telefonnummer unseres Hotels in die Hand gedrückt. Als wir uns schließlich dem Taksim-Platz nähern, ruft er dort an und vereinbart, dass wir am Platz direkt abgeholt werden, da der Fahrer bei diesem Verkehrsaufkommen für den kurzen Schlenker in die Seitenstraße zum Hotel zu viel Zeit verlieren würde.
Ein Hotelangestellter wartet bereits auf uns, nimmt meinen Koffer, und schon rattern wir über das Kopfsteinpflaster die zwei schmalen Straßen entlang. Wenige Minuten später stehen wir in der kleinen Hotellobby und checken ein.
Unser Zimmer befindet sich im obersten, im sechsten Stockwerk, eine große „Deluxe-Suite“, mit einer Fensterfront, die einen weiten Blick über den Nordwesten Istanbuls erlaubt, was insbesondere abends sehr imposant wirkt. Zum Appartement gehört eine eingerichtete Küchenzeile, in der wir uns in den nächsten Tagen ein Super-Frühstück zubereiten werden. Parkettfußboden, weiße, geschwungene Möbel und eine ausladende, breite Eckcouch, die auch gut als Schlafmöbel verwendet werden könnte, runden das Ganze ab. Das Bad ist modern mit einer großen Nasszelle ausgestattet, doch leider ohne Fenster.
Nachdem wir ausgepackt haben, zieht es uns am frühen Abend magisch zum Taksim-Platz und in die İstiklâl-Straße. Das Nachtleben im alten Péra, dem heutigen, modernen Beyoğlu, hat es insbesondere am Wochenende in sich. Während sich der Besucherstrom am großen Taksim-Platz noch verteilt, quetscht sich eine riesige Menschenmasse in beiden Richtungen durch die Häuserschlucht der İstiklâl Caddesi.
Da wir es nicht eilig haben, lassen wir uns treiben, passen uns dem Tempo der anderen Passanten an. Die Schaufenster links und rechts der Fußgängerzone, zu der die İstiklâl vor einigen Jahrzehnten aufpoliert wurde, sind alle hell erleuchtet, die Geschäfte hinter den altehrwürdigen Fassaden sind geöffnet. Wir tauchen ein in ein Meer von Düften, unterschiedlichen Sprachen und einem Gewirr aus Geräuschen, werden kurzerhand aus der Beschaulichkeit unserer deutschen Heimatstadt herauskatapultiert und in ein mitreißendes Getümmel geworfen, in dem es nur so wuselt vor quirliger Lebendigkeit.


Ein klein wenig ruhiger geht es in den Seitenstraßen zu. Viele Wochenendausgeher sind in ihr Tavlispiel in einem der zahlreichen Cafés vertieft, genießen ihren Tee und die Wasserpfeife, deren süßlicher Duft die Gassen einhüllt.
Auf der Suche nach einem Restaurant abseits der İstiklâl finden wir fast nur Bratereien, in denen man zwar draußen sitzen kann, die aber nicht sonderlich gemütlich wirken. Eigentlich wünschen wir es uns ein wenig gediegener. Auf jeden Fall sind alle Esslokale bis auf den letzten Platz besetzt, und so biegen wir am Ende doch wieder ab auf die İstiklâl, wo uns das Wummern der Bässe aus einem der Clubs empfängt und derart durchrüttelt, dass es bis in den Magen hinein vibriert, was vielleicht aber auch von den Hungergefühlen kommt, die uns nun ganz gezielt in eine weitere Restaurantzeile treiben, in die Blumenpassage (Çiçek Pasajı), die Cité de Péra, wie sie früher hieß, eröffnet in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts und rund einhundert Jahre später restauriert. Heute bildet der überdachte Durchgang eine der touristischen Hauptattraktionen auf der İstiklâl.
Gleich im ersten Restaurant kehren wir ein, allerdings nicht im Außenbereich, sondern innen, um etwas mehr Ruhe zu haben. Ein weiser Entschluss, wie sich herausstellt. Zum allgemeinen Stimmengewirr der voll besetzten Tische außen gesellt sich dort sehr bald Tischmusik nach Art des Landes. Türkische Lieder werden von Minikapellen dargebracht, indem sich die Duos oder Trios gezielt einem Tisch nähern. Werden sie nicht abgewiesen oder komplett ignoriert, bedeutet das, dass sie am Ende Geld für die Darbietung erhalten. Und da das Geschäft recht einträglich ist, sind auch gleichzeitig mehrere Kapellen mit ihrem unterschiedlichen Repertoire im Einsatz. Man versteht tatsächlich kein Wort mehr, aber das scheint niemanden zu stören, dann spricht man halt etwas lauter.

Nach unserem sehr leckeren Fischmahl sind wir mittlerweile so müde, dass es uns danach zurück zum Hotel zieht. Dazu muss die Strecke zum Taksim-Platz durch die lebhafte Menschenmasse erneut bezwungen werden, was wieder einige Zeit in Anspruch nimmt. Der historischen Bahn, die ab und an mitten durch die Masse fährt, weichen wir ebenso aus wie einigen Polizeiautos, die rund um die Uhr patrouillieren.


Durchgeknallte, Zugedröhnte oder aggressiv Betrunkene begegnen uns keine, zumindest nicht offensichtlich, wie wir es aus unserer Stadt in Deutschland kennen, wo es am Wochenende schon am frühen Abend recht ungemütlich werden kann. Dagegen ist die Stimmung auf der İstiklâl sehr entspannt. Am Taksim-Platz angekommen biegen wir links ab, vorbei an dem Teil des Platzes, der der Polizei vorbehalten ist und bewacht wird, heute recht kleinräumig abgesperrt, könnte bei Bedarf aber kurzerhand auf ein Vielfaches erweitert werden.
Linkerhand verlassen wir den Platz, vorbei an der endlosen Taxischlange, und biegen dann nach rechts ab, wo jetzt, kurz vor Mitternacht, ein kleiner Bagger den Bürgersteig aufreißt, während fleißige Arbeiterhände den Schutt wegräumen. Am nächsten Tag ist die Baustelle verschwunden, das Loch wieder zugeteert.
Dahinter geht es in unsere schmale Hotelgasse. Die kleinen Lebensmittelgeschäfte sind alle noch geöffnet. Ein paar Wasserflaschen nehmen wir für die Nacht noch mit. Morgen können wir hier für das Frühstück einkaufen, bin gespannt, was wir so finden werden. Doch für heute gehen uns langsam die Lichter aus. Der kleine Hotelfahrstuhl bringt uns nur bis zur fünften Etage. Bis zur sechsten steigen wir im Dunkeln die Treppe hoch, das Treppenlicht funktioniert nicht, was uns aber auch herzlich egal ist.
Hier oben, in unserem Zimmer, lassen wir den Blick über das Lichtmeer der dem Bosporus abgewandten Seite der Stadt schweifen. Schön, dass wir einen solchen Ruhepol für die kommenden Tage gefunden haben, denn an das Tempo und die Lautstärke der Stadt müssen wir uns erst noch gewöhnen. Noch immer landen Flugzeuge im Minutentakt und heulen Polizeisirenen. Mich kann allerdings nichts mehr von einem tiefen und langen Schlaf abhalten. Zehn Stunden sollen es werden.



Osternacht im Ökumenischen Patriarchat