Impressionen aus dem
Gülhane-Park


Nach der endlosen Schieberei in diesem unglaublichen Gedränge der Altstadt erreichen wir das Tor zum großen Gülhane-Park, neben dem Topkapı-Palast. Wir freuen uns auf eine Frühlingsblumenpracht, die in jedem Jahr eigens angelegt wird. Schon vom Eingang aus erkennen wir die bunten Blumenfelder.








Istanbul wirbt bereits im neunten Jahr, im gesamten Monat April, mit seinem Tulpen-Festival. Einzelne Tulpenbeete gibt es überall in der Stadt, und in vielen Parks sind große Felder mit ganz unterschiedlichen Tulpenzüchtungen zu sehen. Die größte Ausstellungsfläche in Istanbul befindet sich im Emirgan-Park, etwa auf halber Strecke in Richtung Schwarzes Meer, am linken Bosporusufer gelegen. Dort sollen 270! verschiedene Tulpensorten zu sehen sein.
Auch im Gülhane-Park sind mehrere Dutzend verschiedene Tulpensorten ausgestellt, alles in allem mehrere hunderttausend Pflanzen (wobei Gülhane eigentlich Rosenhaus bedeutet).












Wunderschön wirkt die bunte Masse der Frühlingsblumen in Form und Farbe, ganz unterschiedlich auch die Gestaltung der Beete, an denen sich Jung und Alt, Touristen wie Einheimische nach dem grauen, eintönigen Winter erfreuen.













Bänke und Rasenflächen laden zum Verweilen ein, in kleinen Oasen kann man die bunte Vielfalt des Frühlings einziehen zu lassen.






Die Tulpen dürfen nicht gepflückt werden, wie auf Schildern zu lesen ist, doch die üppige Pracht verleitet so manchen Besucher dazu, diese zu ignorieren.
Zwei Kinder treiben es allzu bunt, sie spielen Fußball in einem riesengroßen, leuchtend roten Tulpenfeld am Rande des Parks. Im Nu sind alle Blumen zertrampelt. Kein Elternteil, das sich aufregt, doch die armen Pflänzchen tun uns leid. Zum Glück bleibt das eine Ausnahme. Von anderen Müttern gibt’s nämlich Klapse auf den Hintern, wenn ihre Kleinen allzu übermütig herumtollen.


Unter den hohen Bäumen zu lustwandeln und sich an der Naturschönheit dieses altehrwürdigen Parks zu erfreuen, mag schon die Bewohner des benachbarten Topkapı-Serails zu osmanischer Zeit begeistert haben.
Diese Inspiration ist auch auf zwei junge Männer übergegangen, auf einen Dudelsackspieler und einen Sänger, die es schaffen, Dutzende von Spaziergängern auf einer großen Rasenfläche zum gemeinsamen Tanzen zu animieren. Von weitem schon hören wir ein kollektives, rhythmisches Rufen. Als wir uns dem riesigen Kreis nähern, den einige Dutzend junge Leute bilden, erkennen wir, dass sie sich an den Händen gefasst haben, den Worten des Vorsängers folgen und diese zu einer festen Folge von Tanzschritten wiederholen. Immer mehr Menschen kommen dazu, alle haben ihren Spaß.


Plötzlich fliegt ein grüner Papagei laut krächzend über unsere Köpfe und setzt sich auf einen Ast. Wir beobachten ihn eine ganze Weile, wie er die Gegend sondiert, um sich dann im Steilflug auf ein Loch im benachbarten Baum zu stürzen und hinein zu verschwinden. Nach langer Zeit kommt er wieder heraus und das Spiel beginnt erneut. Er ist aber nicht der einzige Papagei in diesem Park. Mit diesen frei fliegenden Vögeln hätten wir hier nicht gerechnet.






Langsam hat sich der Spätnachmittagsschatten über den Park gelegt, ein Zeichen, uns wieder so langsam in Richtung Hotel aufzumachen. Immer noch kommen uns sehr viele Besucher entgegen, um sich inmitten der Hektik Istanbuls ein wenig Entspannung zu gönnen.


Draußen geht dann das Geschiebe wieder richtig los. Natürlich könnten wir den schnellen Weg mit der Straßenbahn über Kabataş nehmen, doch wir haben beschlossen, an der Galatabrücke Fisch zu essen. Über eine Treppe an der Yeni Camii gelangen wir wieder durch die sehr lebendige, proppevolle und ohrenbetäubend laute Unterführung unter der mehrspurigen Hauptstraße hindurch zur Galatabrücke.
Auf deren Nordseite gibt es Take-away-Buden, in denen man Brötchen mit warmem, gegrilltem Fisch auf die Hand bekommt. Doch wir möchten es etwas gemütlicher, unterqueren die breite Brücke zur anderen Seite, die zum asiatischen Bosporusufer zeigt. Und so erkennen wir, dass sich im Bauch der Brücke Garküche an Garküche reiht, nur die Form der Darbietung im Frontbereich ist eine andere: Auf der einen Seite die Fastfood-Schuppen mit dem abgespeckten Sortiment, auf der anderen die Restaurants mit weißen Tischdecken und einer Speisekarte.
In einem der Restaurants nehmen wir Platz, erhalten jeder eine Decke, denn hier draußen, direkt am Wasser, wird es am frühen Abend empfindlich kühl. Der Service ist wirklich vollkommen, und wir bestellen Vorspeisen (Oktopus-Salat, Vlíta, ein paar Kalamária) und als Hauptgericht eine gemischte Fischplatte für uns beide, grünen Salat und Weißbrot. Noch heute läuft mir das Wasser im Munde zusammen, wenn ich mich an die Köstlichkeiten erinnere. Es geht doch nichts über fangfrischen Fisch!
Da wir vor unserer Heimreise keine Lira mehr tauschen wollen, fragen wir, ob wir mit Euros bezahlen können. Ja, selbstverständlich meint der nette Kellner, und knallt – sozusagen als Serviceleistung – noch fünf Euro auf die Rechnung. Da wir uns den Abend nicht mit einem Streit verderben wollen, zahlen wir den Preis, lassen den Kellner jedoch wissen, dass wir seine schlechten Rechenkünste durchschaut haben.
Bisher ist uns das noch nirgendwo passiert, ganz im Gegenteil. In der Regel wird mal schnell der Tageskurs per Handy abgefragt, und dann genau umgerechnet. Wenn wir es so nicht kennen würden, hätten wir uns vielleicht auch nicht über das Geschäftsgebaren in diesem Restaurant gewundert. So aber bleibt ein bitterer Nachgeschmack, der sich in so einige Begebenheiten unseres diesjährigen Istanbulbesuches einreiht, wo immer wieder versucht wurde, uns irgendwie reinzulegen und abzuzocken. Wirtschaftlich gesehen ist das sehr kurzfristig gedacht und schlecht fürs Image! Bei dem Andrang fallen Unmutsbekundungen einzelner Touristen aber wohl nicht ins Gewicht.
Was dann ganz witzig ist: Als wir wieder hoch auf die Brücke steigen und den Lichterglanz am anderen Bosporusufer bewundern, kommt ein Schuhputzer an uns vorbei. Irgendwie ist ihm die Bürste heruntergefallen und reflexartig hat sich Alex danach gebückt. Als er sie überreicht, versucht der junge Mann, Alex in ein Gespräch zu verwickeln, hat sich bereits neben seinen Kasten gesetzt und versucht, ihm beim Plaudern wie selbstverständlich die Schuhe zu putzen. Mit einem energischen NO wehrt Alex ab. Wir kennen das ja schon von einigen Abenden zuvor: Zuerst kriegen wir eine hanebüchene Story aufgetischt, um dann einen zehnfachen Preis für die nicht bestellte Dienstleistung zu zahlen. Währenddessen hat sich ein Tourist zu uns gesellt und lacht den Schuhputzer total aus. „We all know, how you do it“, ruft er, „lass’ dir mal was Anderes einfallen!” Mit knallroter Birne packt der Schuhputzer blitzartig sein Zeug zusammen und verschwindet ganz hurtig von dannen. So was geht uns runter wie Öl, und wir empfinden eine Winzigkeit von Genugtuung, dass wir dieses Mal nicht reingelegt wurden.
Von der Mitte der Brücke genießen wir einfach nur noch den schönen Blick auf die erleuchtete Yeni Camii und über den Bosporus, hin zur gleichnamigen Brücke, die abwechselnd in verschiedenen Farben leuchtet.




Mit der Tünelbahn fahren wir wieder nach oben, nach Beyoğlu, durchqueren erneut die İstiklâl, dieses Mal wieder in entgegengesetzter Richtung.
Wer nach einem Tag in Istanbul mit vollgestopften Bürgersteigen und den schmalen Sokaks der Altstadt noch nicht genug hat, sollte sich auf jeden Fall am Abend in die İstiklâl-Straße begeben. Gut, am Wochenende sind es noch mal ein paar Menschen mehr, die sich durch die Häuserschlucht schieben, aber auch werktags kann sich das Fußgängeraufkommen sehen lassen. Eisverkäufer schreien aus ihren Verkaufsständen heraus nach Kundschaft, Musikanten säumen den Straßenrand. Jemand spielt zarte Töne, die wie von einer kretischen Lyra klingen, das Instrument sieht jedoch ganz anders aus, eher wie ein flaches Brett mit Saiten. Daneben tanzen und musizieren kurdische Jungs. Flugs hat sich eine Menschentraube gebildet, einerseits Zuseher, andererseits Mittänzer in dem immer größer werdenden Kreis.
Wenige Schritte entfernt sortiert ein Obdachloser Zeitungen, die er aus dem Müll gezogen hat, während eine Roma-Frau mit ihren völlig zugestaubten Kleinkindern auf dem Pflaster sitzt und die Hand nach ein paar Lira emporreckt. Vielleicht stammt ihre Familie aus dem historischen, über tausend Jahre alten Roma-Viertel Sulukule in Fatih, auf der anderen Seite des Goldenden Horns, das seit 2007 der Sanierungswut zum Opfer fiel, indem es peu-à-peu abgerissen wurde und nun mit teuren Wohnungen und Büros bestückt wird. Oder vielleicht kommt sie auch aus Tarlabaşı, einem Istanbuler Armenviertel jenseits der İstiklâl, nicht weit weg von der Glitzermeile.
Auf Schritt und Tritt begegnen uns Menschen, die auf irgendeine Weise versuchen, ein bisschen am Tourismus mitzuverdienen, Menschen, die keine Chance haben, auf einen grünen Ast zu kommen, bei denen es offensichtlich einzig um das Überleben geht. Zu später Stunde, wenn der niemals enden wollenden Menschenstrom auf der Tourismusader sich langsam lichtet, tauchen auch sie auf: die Blinden und Lahmen, die Verkrüppelten, die Hoffnungslosen, die Musiker mit ihren herzzerreißenden Balladen, die Schuhputzer und Losverkäufer, ganze Familien im Straßenstaub. Unzählige Kinder, der Säugling, der neben der Mutter in eine Decke gewickelt auf dem Pflaster liegt; das Kleinkind, das kaum laufen kann, aber schon einem Kinderakkordeon Töne entlockt; Straßenkinder, keine zehn Jahre alt, die die Ausbeute des heutigen Tages begutachten und aufteilen. Unfassbar dieses Leben im Elend, ohne Hoffnung auf etwas Besseres. Schulbildung – wo und wie denn, wenn es schon am Essen fehlt?
Und wir, Touristen aus einer gar nicht so fernen Welt, aus einem satten Mitteleuropa, gut genährt, mit teuren Kameras bewaffnet, stapfen mitten hindurch, ergötzen uns an alten Gebäuden und können uns dem Rhythmus der Stadt doch nicht entziehen. Hier müsste jeder einmal hinkommen, der sein Weltbild erweitern möchte. Einfach nur die Augen öffnen und hinschauen und mitbekommen, mit welchen Privilegien wir doch ausgestattet sind, und dann Zufriedenheit darüber empfinden, dass wir eben nicht so leben müssen, wie sehr viele Leute anderswo. Und Verständnis entwickeln für Menschen, die diesem Hungerleben zu entfliehen versuchen. Hier, im Schmelztiegel Istanbul, braucht man nicht lange, um das zu erkennen.


Aus dem Fenster, im ersten Stock eines Clubs, dröhnen zu dieser Abendszeit schon wieder überlaute, wummernden Bässe, die eine Tanznacht für die Jüngeren einläuten, die eiligen Schrittes unterwegs sind, um nichts zu verpassen - aber nur diejenigen, die es sich leisten können. Vor dem Eingang, auf der İstiklâl, haben die Türsteher Aufstellung genommen, um die Gäste auszuwählen, die den Club betreten dürfen.
Und so ist das Laufpublikum auf der İstiklâl bunt gemischt: Einheimische und Touristen, Partygänger, Familien, Paare, telefonierende Einzelgänger, Touristen, Studenten, Bettler, Verkäufer, Straßenmusiker, Anlieferer, die schwere Karren schleppen, und allgegenwärtig auch die Polizei.
An einer Stelle dürfen auch Autos die İstiklâl überqueren, was für die Fahrer eine Geduldsprobe darstellt. Doch wo gibt es in der Istanbuler Innenstadt eigentlich Straßen, die nicht verstopft sind? Taxifahrer, die es eilig haben, hupen sich ihren Weg durch diese Autofurt, wo sie wiederum von einer Menschentraube aufgehalten werden, die sich gerade an einem der roten Wägelchen mit verführerisch duftenden Maronen eindeckt.
In der Mitte der Meile erreicht in der Blumenpassage ab zwanzig Uhr die Stimmung wie jeden Abend ihren Höhepunkt. Hier, wo früher Einwanderer Blumen verkauften, und damit der Passage ihren Namen gaben, tobt die Lebensfreude. Da die Passage schmal und überdacht ist, schwillt der Klang der vielen Gespräche aus den abends voll besetzten Restaurants zu einem immer währenden Hintergrundgeräusch an, allerdings auf einem Pegel, bei dem man seine eigenen Worte kaum mehr versteht. Da man nur in den Außenbereichen der Restaurants rauchen darf, werden diese auch vorzugsweise frequentiert. Getoppt wird das Ganze von der Darbietung verschiedener Musikerensembles, die sehr versiert jedes Stück der Welt intonieren können. Gegen Geld, versteht sich. In der Regel sind es aber Herzschmerzlieder, die mit Trommel (Tambour) oder Tamburin (sehr laut!), Klarinette und Violine musikalisch untermalt werden: „Du hast mir den Liebeskummer gebracht, du bist scharf wie eine Paprika!“ heißt es da etwa. Ganz besonders spannend wird es, wenn vor oder neben einem Tisch musiziert wird, vorzugsweise von zwei verschiedenen Ensembles, eine echte Herausforderung bei der Aufgabe der Essensbestellung, die dann nur noch per Handzeichen oder Gemälde auf der Serviette erfolgen kann.
Heute Abend brauchen wir diesen Wahnsinn zum Glück nicht mehr. Nach den vielen Kilometern freuen wir uns auf unser Hotelzimmer, wo wir nur noch müde in die Federn fallen. Eigentlich hatten wir heute ja nur ein wenig bummeln wollen...

Mit der Marmaraybahn nach Kadıköy/
Besuch der Agia Sofía