Als fernab Gelegene galt sie noch in den 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts, das uns so nah ist. Die westlichste, den Kykladen nächste Dodekanesinsel Astipálea (Astipálea, Astipália und ebenso Astipaljá). Dabei war vielen damals gar nicht bewusst, dass sie bis tief in den Herbst hinein immerhin zweimal wöchentlich von den Kykladen aus erreichbar war – eigentlich ab Piräus -, vorletzte Station Egiáli Amorgoú, Ankunft vormittags, und gar drei- bis viermal pro Woche von den Dodekánissa aus, sei es ab oder über Kálimnos (mit der Níssos Kálymnos) oder direkt von Kos her, dann auf Schiffen, die in Rhodos starteten und alle in tiefer Nachtstunde ihr Ziel erreichten. Und der bescheidene Flugplatz hoch über der Inselmitte war auch schon fertiggestellt. Flüge gab es aber lediglich ab und nach Athen. Eine knappe Woche Amorgós lag eben hinter mir, Ende September/Anfang Oktober, irgendwann Ende der Achtziger- oder Anfang der Neunzigerjahre. Es war mir klar geworden, dass ich mich im Inselnorden wohler fühlte als in der Gegend von Katápola (wo ich vorher gewohnt hatte) und der Chóra (auch sehr hübsch, aber etwas öde, nur eine einzige Taverne mit Essensnotprogramm hatte noch geöffnet), und ich hatte die Dorfansammlung Egiáli – Potamós – Langádha – Tholária im Nordzipfel kennen- und schätzen gelernt, gerne die Taverne mit Zimmervermietung von Nikos und seiner deutschen Ehefrau aus Landshut und überhaupt das ganze Dorf Langádha besucht, die vor dem Haus ruhende Jajá (Großmutter) mit „jássou“ gegrüßt, eine Schlange auf dem Dorfweg zwischen undurchdringlichen Mauern entlang flüchten sehen, das unendlich hohe Schilf nahe meiner Pension in Órmos Egiáli mit Taschenlampe bewaffnet durchkämmt, das Grün im Hinterland bewundert, die Stille genossen, mich über schwarzbraun glänzende Kühe am schmalen Strand unter Tamarisken gewundert, Fava gekostet, den Ärzte-Katamaran erlebt, die in mühevoller Kleinarbeit erstellte, recht detaillierte schwarz-weiße Inselkarte des Deutschen Dr. Perreiter bewundert, angesichts täglicher Verbindungen wahrgenommen, wie falsch doch alle Reiseführer lagen mit ihrer Behauptung, im Herbst gebe es nur mehr zwei oder drei Schiffsverbindungen pro Woche Richtung Naxos und Piräus, und schließlich entdeckt, dass sich mir sogar die Möglichkeit bot, einen Abstecher Richtung Astipálea zu machen, trotz der knappen Zeit, die mir zur Verfügung stand, denn ich musste bald wieder zurück ins „ferne“ Kreta, am besten über Naxos und Santorini. Nur einen Haken hatte die Sache: Das Schiff sollte so um ca. 4:30 Uhr morgens gehen, zu einer recht unsozialen Stunde. Na ja, unsozial vielleicht, aber eine jener unwiederbringlichen Früher-Morgen-Erfahrungen, die ich mir immer nur in Hellas gönnen muss und von denen ich stets sehr lange zehre. Einmal anders, sich überwinden, die Zeit durchbrechen, die zu Ende gehende Nacht in sich aufnehmen, die Geräusche des ausufernden Dunkels, im ersten Morgenlicht an Deck stehen, schon auf hoher See. Also raus aus meiner Unterkunft gegenüber der Pension Lákki, noch einen Blick auf den nächtlich dunklen Bergkranz, den Strand entlang, die ruhenden Kühe, ihre Schemen unter den Tamarisken, die Hoffnung auf ein bereits geöffnetes Kafenío im Herzen. Unbegründete Ängste. Wo auf den Inseln, wo in griechischen Häfen, hätte es zu jener Zeit nicht irgendein anlässlich einer Schiffsankunft bzw. –abfahrt frühmorgendlich geöffnetes Kafenío gegeben? Hier war es das einfachste, deutlich älteste, das ich bis dahin nicht besucht hatte. Natürlich gab es keinen Nescafé, nur den Ellinikó, wie es sich für ein Etablissement der alten, bewahrenden Sorte gehört(e). Ich war dankbar, tat mich aber wie immer etwas schwer, auf Milchkaffee (wenigstens in der Form des grausamen Nes) zu verzichten, als erste, entschärfte geballte Koffeinladung des Tages. Der verwunderte Blick des Kafetzís, mich auf einem seiner Stühle anzutreffen. Der frische, nicht kalte Morgen. Die „Dímitra“ hatte nur geringe Verspätung. Der eine Schornstein, die hölzernen Planken ganz oben an Deck. Die Pflanzen im Kommandoraum. Die Farben Blau, Weiß, Rot – edel, alliiert. Γεράσιμος Αγούδημος, also GA Ferries, damals die bewährten, die vielleicht wichtigsten, was all ihre Querverbindungen betraf. Das Vapóri umrundet im Nu die Nordostspitze von Amorgós. Nimmt nun Kurs Südwest. Die Zeit verfliegt, und dennoch fühlt man sie Sekunde für Sekunde, wenn man auf dem obersten Deck herumhängt und den Blick berechnend in die Ferne schweifen lässt. Der weiße Strich am Felsen wird allmählich sichtbar, das Schwalbennest des Klosters Chossoviótissa. Jetzt kommt mir die relativ südliche Lage der Ägäis zugute. Erstaunlich früh dämmert der Tag. Und was für eine Dämmerung, was für ein Ereignis! Wieder wie eine neue Geburt, diese Frische, herrlichste, sanfte Seeluft, das zarteste Rosa mit seidigstem Blau durchmischt. Ein milder, trotzdem zugiger Fahrtwind. Durchsichtiger Rauch aus dem Schornstein, eine gut gelaunte Kommandobrücke, ein paar Worte mit einem der Offiziere ausgetauscht – „Was ist das für eine Insel?“ – „Ist das Anáfi?“ – Ausblicke erst bis zum hohen Riegel Ikarías in der Ferne, später bis Íos, Thíra, zum näher gelegenen, irre steil erscheinenden Anáfi, das wegen seines Aussehens zuerst Rätsel aufgibt, und natürlich stets das Reiseziel vor Augen, das flach hingebreitete. Ich fühle mich wirklich in meinem Innersten wohl in diesem Teil der Ägäis, den ich zum ersten Mal durchquere. Wieder ganz im frühmorgendlichen Glück. Wonnen einer Schiffspassage. Die Planken erzittern beim Stampfen des Schiffes. Gespannte Erwartung. Rechterhand, steuerbords, zwei Inselsatelliten der Schmetterlingsinsel mit ihrer Wespentaille. Ein blendend weißes Kirchlein blickt backbords vom westlichen Astipálea aus hinaus aufs Meer, zu uns herüber – Ágios Ioánnis? Entlanggleiten an der Westseite des größeren der beiden Inselteile. Nach Süden hin das offene Meer. Wir drehen nach Oost, und gleich bietet sich ein Anblick von zerrissener Küstenlinie, einer Menge vorgelagerter Inseln, weit geschwungene Buchten. Ein grünes Tal, eine Küstenebene mit Bäumen, ansonsten kahlstes Eiland. Ein weißlicher Kegel kommt näher, entpuppt sich als die fantastische Chóra, reihenförmig um einen Berg herum bis zu dessen Spitze errichtet, über den Hafen aufragend, zwei blaue Kirchenkuppeln hinter dem ummauerten Kástro. Ist das nicht großartig? Vom Feinsten? Was für ein Augenschmaus. Noch nie so gesehen. Einlaufen, ankommen. Die beiden Anker runter. Die Schlingen um die rostigen Poller. Die Seile festgezurrt. Klappe runter. Hinter dem Anleger ein schmuckloser Flachbau, das Hafenkafenío. Der erste Kaffee, in aller Ruhe, denn es ist noch viel zu früh für die Zimmersuche. Aber vielleicht darf man ja sein Gepäck schon in einer Unterkunft abstellen, dann könnte man sich frühzeitig auf die Socken machen, schon einen Teil der Insel erkunden gehen. Ich glaub, es war das Parádissos, wo ich schließlich landete – nicht das himmlische, gewiss nicht. Auch nicht eine Bleibe gegenüber, auf der anderen Seite der Bucht, nein, ohne den begehrten Kastell-Blick aus dem Zimmerfenster, ganz unten am Wasser, aber ein relativ großes Zimmer, ein bisschen älter schon, mit Balkon und eben gleich da, und später nur einige hundert Meter zurück zum Anleger. Ich durfte tatsächlich schon ganz früh am Morgen rein, es war dem Wirt egal. Nebenan oder zumindest unweit ein offensichtlich bekanntes und beliebtes Fischrestaurant. Ein äußerst erlebnisreicher Tag sollte es letztlich sein – noch heute fasse ich es kaum, denke es waren zwei oder drei volle Tage. Früh aufstehen, früh anfangen, das ist das ganze Geheimnis! Die schüchterne Frage nach einem Bus in einem Kafeníoschlauch bei der Abzweigung nach Nord am Ende der Hafenbucht. Er sei gestern gefahren, bis Vathí, eine Ausflugstour. Heute gebe es keinen. Ein dünner Franzose blickt mir gelangweilt nach. Warum lange überlegen? Die Beine in die Hand nehmen, nicht lange fackeln und auf geht’s. Ich hab ja eine grobe Inselkarte, weiß, dass als Erstes nach ein paar Kilometern der Campingplatz kommen muss, gegenüber die Mármari-Bucht. Erst hügelan, dann wieder etwas runter, immer auf der schmalen Asphaltstraße, kaum je von einem Auto belästigt. Ist schon eine ausgestorbene Gegend, außerhalb des Hauptortes. Die Strecke zieht sich, leider nichts Weltbewegendes oder Großartiges mehr, eine Trostlosigkeit, die aufs Gemüt drückt. Der Campingplatz öde und verlassen, wie die zugehörige Badebucht gleich bei der Straße. Bald darauf erreiche ich die engste Stelle der Insel. Angeblich nur etwa 30 m Land zwischen Nord- und Südküste. Beeindruckend, aber in all dieser herbstlichen Verlassenheit nicht umwerfend. Eine Abzweigung zum neuen Airport lasse ich linkerhand liegen – würde mich natürlich schon sehr interessieren, so ein Flughafenkonstrukt zwischen den beiden „Schmetterlingsflügeln“. Eine Biegung nach Süden, später nach Osten und noch anderthalb Kilometer oder so. Dann betrete ich den sehr ruhigen, verschlafenen aber etwas langgezogenen Ort Análipsi, laut Reiseführer auch Malteláza genannt. Eine Stichstraße führt rechts ab zum Strand. Tamarisken, ein paar Boote auf dem Sand. Eine Hand voll Inseln, einige sehr nahe, andere vielleicht 15 – 20 km entfernt. Nichts los hier, niemand. Eine Taverne hat geöffnet, an der Stichstraße zum Strand. Ich trinke was, einziger Gast, gehe dann gleich zurück auf der Straße, der einzigen Wandermöglichkeit hier in der schmalen Inselmitte. Wieder verlockt der Abstecher zum Flugplatz. Ich kann nicht widerstehen, mache den kleinen Umweg. Eine dieser windumtosten, tafelbergähnlichen Asphaltpisten, mit Steilabfall an beiden Enden; ein Flachbau als kleines Empfangsgebäude. Sehr beeindruckend., jedoch nur für kleinere Maschinen ausgelegt. Meerblick vom Feinsten ist dem Flugreisenden bei Start und Landung sicher. Jetzt haben sie wenigstens für Notfälle einen Flugplatz, eine schnelle Verbindung in die Hauptstadt und später auch nach Rhodos. Von einer schwankenden Landung aus der Luft auf Astipálea träumend, stiefle ich Kilometer für Kilometer zurück Richtung Hauptort, schau mir den einen oder anderen bescheidenen Strand neben der Autostraße an, bin nach wie vor alles andere als begeistert von diesem langen Spaziergang durch die herbe, ausgetrocknete Schmalstelle. Um wie viel schöner muss doch der entlegenere Ostflügel des Schmetterlings sein, Pfade durch die Wildnis. Und bestimmt auch der Westflügel, wenn man auf Feldwegen und Wanderpfaden an seine äußeren Enden vordringt. Leider fehlt mir dafür diesmal die Zeit. Was ich aber noch tun kann, ist Richtung Livádia zu wandern, der sogar etwas baumbestandenen Ebene westlich des Burgbergs. Die Treppen hinauf von der Hafenbucht zu den Windmühlen vor dem Kástro. In dem alten Kafenío am Treppenende, angeblich bekannt durch einen unter anderem hier gedrehten Spielfilm, erfrische ich mich noch ein bisschen – auch hier ist nichts los. Ich schlendere erstmals hin zum Burgviertel. Viele der alten Häuser wirken gut und behutsam restauriert. In einem davon, einer richtigen Höhle, richten sich gerade Neuankömmlinge ein, wohl deutsche Touristen, voller Enthusiasmus und Urlaubsfreude. Wenn die wüssten, wie quicklebendig das vor Üppigkeit in jeder Hinsicht strotzende Kreta um diese Jahreszeit noch ist! Man kann Astipálea nicht mit Kríti vergleichen, es ist eine spröde Schönheit, fast baumlos, abgeweidet, voller niedriger Halbkugelbüsche, mit einem ganz eigenen, herben Reiz, wenn man so will. Ich trete durch das schmale Tor in den Hof der Burgruine mit den beiden Kirchen ein. Von der Mauerbrüstung genieße ich den herrlichen Blick auf die Hafensiedlung und über die zahlreichen kleinen und kleinsten Inseln und Inselfetzen, einige nah, einige fern. So was gefällt mir. Da komm ich abends bestimmt wieder her, mit meinem Walkman. In aller Ruhe Musik in mich aufnehmen, mit unglaublich schönem, umfassendem Panoramablick. Irgendwo hinter den Windmühlen beginnt eine Staubstraße, die nach West hin aus dem Ort hinausführt. 5 min später begegnet mir der Dorftrottel, ein armer geistig Behinderter, der in diese Ödnis passt. Ein Bild, das in diesem Moment sehr viel aussagt. All das Abgelegne, Eingesperrte, Isolierte, Trostlose, Melancholische einer Insel im Herbst weit weg vom Schuss, vom Puls der Zeit, kommt in ihm zum Ausdruck. Die Nachsaisonstimmung gibt ihr Übriges dazu. Im Frühling muss die Ebene von Livádia wirklich grün sein, mit Wiesen und Feldern bedeckt. Nun stehen einige recht verlassen wirkende Pensionen herum. Bald kehre ich um, begebe mich auf den Rückweg zu meinem einfachen Hotel. Der Aufstieg zur Stadt bietet einprägsame Bilder des Burgbergs von West her gesehen. Schon toll. Das Kastroviertel von Skíros muss ähnlich aussehen. Wieder die Treppen hinab und gleich ins Zimmer. Sachen auspacken, dann Dusche und ein wenig Siesta. Spätnachmittags mache ich mich wieder auf die Socken, bergauf. Von hoher Warte hinter einer der Begrenzungsmauern des Kastells aus lausche ich den Klängen von Mahlers Sechster, während Kaikis und Segelboote unter mir vorbeigleiten, ein- bzw. auslaufen, mein Blick ins Unendliche geht. Ein aufrüttelndes Ereignis sowieso, und ein irres Erlebnis, diese Musik an einem Ort wie diesem in sich aufzunehmen, über die guten PortaPro-Kopfhörer von Koss. Noch einen Schluck. Es beginnt zu dunkeln. Ein Celibidache-Fan hört Mahler! Durcheinandertorkelnde Choraltöne, herabtröpfelnde Marimbaklänge (Kuhglocken!) in der Ferne. Das ist Mahler. Abends erfahre ich in einer Ticketagentur, dass tags darauf ein Schiff zurück zu den Kykladen ginge, das nächste erst 5 oder 6 Tage später, Letzteres wohl wieder meine Dímitra. Eine wirklich intelligente Lösung, zwei Schiffe pro Woche an zwei Tagen hintereinander fahren zu lassen ... Sind eben unterschiedliche Fährgesellschaften. An den Ausweg, die Route nach Rhodos und von dort weiter nach Ost-Kreta, hatte ich damals noch nicht gedacht. Hätte auch länger gedauert. Ich habe also keine Wahl. Sage dem Hotelier noch am Abend, dass ich leider am folgenden Morgen schon wieder abreisen müsse, wegen meines Rückfluges von Kreta. Wenn ich einmal wiederkäme, würde ich länger bleiben. Abendessen in einer erstaunlich gut gefüllten Taverne an der Nordostecke der Hafenbucht. Recht früh am Morgen besteige ich meine Fähre zurück nach Naxos. Die Melancholie abstreifen, das Saisonende ist manchmal wirklich bedrückend. Ich glaube, erste Anlege-Station war die Außenseiterin Donoússa, bevor wir wiederum den beiden Häfen von Amorgós einen kurzen Besuch abstatteten. Copyright puchheim = MartinPUC, Februar 2004, August 2006 |