Teil 3: Drei Tage Sfakiá
Copyright puchheim = MartinPUC, Dezember 2009


Den nur locker besetzten Frühnachmittagsbus von Chaniá über Vrísses in die Sfakiá steuert ein junger Mann. Pávlos aus Anópoli hat auf dem Beifahrersitz Platz genommen. Vor der Abfahrt schon wurden die Fahrkarten kontrolliert, und auf der weiteren Strecke gibt es sie nur mehr beim Busfahrer - auf ganz Kreta, so scheint es, hat man nach und nach die Busschaffner abgeschafft, sicherlich ein Sparprogramm.

Auf ungewohnter Strecke geht es durch Vrísses, wir fahren bis zum Ortsende Richtung Schnellstraße, erst dort biegen wir auf die neu gebaute Zufahrtsstraße ab, die sich kilometerweit östlich des Jaoúrti-me-Méli-Ortes hinzieht, bis sie sich schließlich mit der gewohnten Route vereinigt. Ist wohl als Erleichterung für größere Fahrzeuge gedacht.

Schon zwischen dem Krápi-Plateau und Karé hängen tief liegende Wolken über uns, hinter denen sich die hohen Gipfel versteckt haben. Erst als wir die drei neu gebauten kurzen Tunnels hinter Ímbros durchfahren haben, hellt es auf. Beim Hinunterfahren auf den bis auf ein kurzes Reststück verbreiterten Serpentinen umfängt uns schließlich der Sommer mit schönstem Wetter.

In Chóra Sfakíon angelangt, setzen wir uns an einen der ufernahen Tische von Nikos' Taverne und fragen bezüglich der Schiffsverbindungen nach Loutró. Allmählich verdichtet sich die Erkenntnis, dass es diesen Abend gar keine Fähre mehr geben wird, wegen vorhergegangenen höheren Seegangs. Nach zwei Stunden resignieren wir und suchen uns zwei Zimmer im Stávris.
Meine verhandlungsgeübten Begleiterinnen bekommen zu einem guten Preis das absolut schönste Zimmer im Altbau am Südende des obersten Stockwerks mit einem überlangen Balkon, der Ausblicke sowohl nach Loutró als auch nach Ost hin gewährt. Damit können sie wirklich höchst zufrieden sein.
Ich krieg ein Zimmer mit Loutróblick auf der Westseite des ersten Stocks. Als Dreingabe schau ich der ins Nachbarhaus eingeheirateten B. aus BW direkt und mühelos auf die Terrasse. Es kommt aber nur zur Kommunikation mit dem österreichischen Paar auf dem Nachbarbalkon, das tags darauf nach Loutró weiterreist.
Im Eckzimmer zu meiner Linken allerdings eine Überraschung: Da wohnt die W., eine "alte Bekannte", die bereits mehrere Wochen hier verbracht hat, an ihrem absoluten Lieblingsort, und noch eine Zeit lang bleiben wird.

Die Taverne über der Strandbucht am westlichen Ortsende hat an unserem Ankunftstag noch geöffnet (und ist am Folgetag für den Winter geschlossen), wegen der gähnenden Leere an den dortigen Tischen gehen wir aber lieber woandershin essen. Noch weitere vier Restaurants stehen zur Auswahl, nur das Livikón/Samariá hat bereits dichtgemacht.
Es ist ja bekannt, wie gut die Essensqualität hier in Chóra Sfakíon ist und wie freigebig die Wirte. Eine Portion Ratschí und ein süßes Dessert oder ein großer Teller mit Trauben und Apfelscheiben etc. als kostenlose Dreingaben sind längst selbstverständlich geworden, mit Variationen je nachdem, für wen man sich entschieden hat.
Was mich wundert, ist die gute Belegung der Tische in wenigstens zweien der vier Restaurants. Es sind noch mehr Touris anwesend als ich erwartet hatte. Auch P. T., der Autor von In Sfakiá thront allabendlich mit Frau und Freunden an einem der Tische seines Stammlokals, über dem er auch residiert. Neben diesem ist noch das am weitesten entfernte Tavernchen am Ostende des Ortsstrandes (ich meine den langen Strand unterhalb der Uferpromenade) praktisch immer gut besucht.

An den zwei vollen Tagen, die mir zur Verfügung stehen, mache ich Unternehmungen auf eigene Faust, die Bekanntinnen wollen es ruhiger angehen lassen und sich erst ganz gemächlich im Ort herumtreiben, ehe sie sich tags darauf entschließen, sich mit spontanen Bekanntschaften ein Taxi hinauf zur Brücke über der Arádhena-Schlucht zu teilen und einen Halbkreis durch die Schlucht über Mármara Beach und Lýkos bis Loutró zu laufen.


Besuch in Lýkos

Ich nehme das erste Boot nach Loutró und wandere gleich rüber nach Líkkos. Hab sozusagen Theos Wunsch erfüllt, doch im Herbst wiederzukommen, nachdem ich sie im Mai schon beehrt hatte.
Eine größere Gruppe gemischter Nationalitäten habe sich bei Ihnen einquartiert, erfahre ich. Gott sei Dank: ein Haus sei komplett belegt mit dieser Fangruppe eines bestimmten Internetforums. Seien lauter ältere Semester, heißt es. Ich bekomme einige von ihnen später zu Gesicht.
Neben dem hervorragenden Essen (leckeres Katzikáki) genieße ich es wieder ausgiebig, all die durchkommenden, teils orientierungslosen Individuen und Kleingruppen zu beobachten, einige von ihnen machen eine kurze Erfrischungspause.
Nebenan, im Akrogiáli, ist zwar geöffnet, doch sie haben keinen einzigen Gast. Ich hoffe für diese lieben Leute, dass wenigstens gegen Abend Logiergäste auftauchen.

Später komme ich mit einer Berlinerin am Nebentisch ins Gespräch. Sie interessiert sich sehr für die Insel Kárpathos und ist dankbar für jeden Tipp.
Gemeinsam lauschen wir anschließend dem Highlight des Nachmittags, dem Mandholíno-Spiel eines Sohnes von Níkos, der endlich seinen Militärdienst abgeleistet hat und in seiner beeindruckenden Größe wie auch Freundlichkeit als stattlicher junger Mann an einem der hinteren Tische von Nikos' Small Paradise zugegen ist. Er heißt wohl Manólis, und er ist echt gut auf seinem Instrument. Das Allerschönste aber ist, dass der sängerisch begabte Theo ihn bald gesanglich begleitet, und zwar mit einigen Auszügen aus dem Erotókritos. Wenn so etwas geboten ist, bin ich für meinen Teil restlos glücklich.

In Fínix scheinen auch einige Zimmer belegt zu sein, wie ich auf dem Rückweg noch einmal feststelle. Insgesamt aber, und vor allem in Loutró, sieht es in der westlichen Umgebung von Chóra Sfakíon diesen späten Oktober touristenmäßig nicht gerade üppig aus.
So haben sie im Blue House in Loutró bereits die Stühle hochgeklappt und leiten die Einmottung ein, als ich auf der Bildfläche erscheine. Um ihnen eine kleine Freude zu bereiten, will ich wenigstens etwas trinken. Doch es entwickeln sich wieder diese verdächtigen, langen Beratungen, als ob die Oma nicht längst wüsste, wie viel sie für ein Bier zu verlangen habe. Und ich habe dann auch den Höchstpreis zu berappen: 3 Euro 50. Immer wieder rätselhaft für mich, solch langes Rückfragen, wie viel man diesem gerade eingetrudelten Fremden abverlangen könne/solle, ob der Einheimischenpreis oder der saftig überteuerte Touripreis angesagt sei. Mit so einem Verhalten macht man sich keine Freunde auf Dauer.


Eindrücke aus Chóra Sfakíon

Abends in Chóra Sfakíon ein ganz anderes Bild: Faire Preise bei sehr guter Kost und freundlichstem Service. Das hat sich offensichtlich herumgesprochen, und die Ortstavernen profitieren davon.
Irgendwie scheint es mir, als ob sich die Essensqualität im Lefká Óri noch deutlich gebessert habe. Der jüngere Wirt zeigt sich sehr gastfreundlich, es stimmt einfach alles. Selten hab ich in der Sfakiá einen derart guten Chthapódhi gegessen, mit derart üppigen Beilagen.
Meine Begleiterinnen schwärmen auch vom Lokal ganz vorne, dem etwas tiefer direkt am Ostende des Ortsstrandes etwas unterhalb der Zufahrt zum Fährenanleger gelegenen (es ist das Delfíni, jedenfalls das untere der beiden übereinanderliegenden Lokale), und ich war leider erst gegen Ende ihrer Mahlzeit dazugekommen, kann also kein eigenes Urteil abgeben.
Ein Abendessen nehme ich zusammen mit W. draußen vor der übergroßen Taverne des Hotels Xenía ein, ebenfalls gute Kost und sehr freundliche Bedienung. Mein süßes Dessert und der Rakí werden mir dort von einem ganz pfiffigen kleinen Mädchen gebracht, das mir alles in theatralischer Pose mit französischem Kommentar reicht und die Reste etwas zu schnell wieder abholt, sodass ich sie zurückpfeifen muss. Das war die kleine Tochter französischer Gäste, äußert sich lachend der Wirt. Im Xenía scheinen mir traditionell relativ viele Franzosen, Belgier, Schweizer zu wohnen.
Immer wieder überraschend für mich, wie stimmungsvoll sich Chóra Sfakíon abends und nachts darbietet. Da verflüchtigt sich so manches Vorurteil recht bald.

Eines Abends beobachte ich von meinem Balkon aus, wie die Samariá nach ihrer Ankunft aus Agía Rouméli schnurstracks weiter zur Insel Gávdhos pflügt, am darauf folgenden Morgen erst kehrt sie (fahrplanmäßig, zumindest im Oktober 2009) wieder zurück.

Für Stimmungssuchende nach wie vor zu empfehlen ist natürlich der Platz vor den Rooms Stávris. Am späten Nachmittag oder zu einer bestimmten Morgenstunde trifft man an diesem lauschigen Ort fast alle Zimmergäste. Ein älteres deutsches Paar fällt mir besonders auf, da ich sie schon öfter hier gesehen habe. Sie sollten Pech haben mit ihrem Condor-Rückflug, der Flieger ging gar nicht, und sie wurden von einem Sohn des Hauses, der sie zum Chaniá-Airport gefahren hatte, nachts wieder zurückgebracht.

Leider ist Peter Trudgill's englisches Sfakiá-Buch gerade nirgends vorrätig, verkauft sich offenbar ganz gut. So gehöre ich eben noch nicht zu den Eingeweihten.
Eingeweihte? Derer gibt es genug, gerade hier. Es sind Leute, die ihren Stolz auch zeigen, und nirgends auf Kreta traf ich bisher auf eine eingeschworenere Gemeinde von Wiederkehrern als vor dem Stávris oder auch dem Lefká Óri.

Vielleicht gut 200 m oberhalb der großen Kurve über dem Wäldchen, das die Steinreihen des Open-Air-Theaters beschattet, liegt rechts ein länglicher Flachbau, in dem die heimischen Tänze geprobt werden, stundenlang und ausgiebigst. W. hat mir den Tipp gegeben, einmal dort bei einer Probe vorbeizuschauen. Als ich vor Ort eintreffe, wird zu meinem Bedauern gerade ohne Musik geprobt - nichts für mich (Ungeduldigen), aber einen öffentlichen Auftritt der sehr jugendlichen Tanztruppe würde ich durchaus gerne miterleben.


Ausflug nach Frangokástelo

Erst wieder um vier Uhr nachmittags ginge ein Bus bis zum Frankenkastell, das ist mir zu spät.
Randlich bekomme ich die Festivitäten zum Nationalfeiertag (28. Oktober) noch mit. Die meisten Dörfler bleiben aber ziemlich unbeteiligt. Schulkinder in weißen Hemden und dunklen Hosen bzw. Röcken formieren sich und marschieren hinauf zum Gefallenendenkmal zu Füßen der bewaldeten Hügelkuppe mit den Resten des Kástros. Dort werden einige Reden gehalten, zwei Schülerinnen tragen, flankiert von zwei alten Papádhes, gemeinsam etwas vor, wie ich aus dem Fenster des 11-Uhr-Chaniá-Busses erkenne, der mich wenigstens zum Abzweig nach Komitádhes bringt.

Wandere dann die Straße in das hübsche Dorf hoch, schätze das Olivenland und die alten Kapellen abseits des Weges sehr.
Als ich die erste Taverne links passiere, will mich die Oma auf einen Kaffee hereinwinken, was ich, wie ihre restlichen, aufdringlich vorgebrachten Speisenangebote, dankend ablehne. Das nächste Lokal, rechter Hand mit Zimmervermietung drüber, hat geschlossen.
Fast bin ich schon aus dem Ort hinaus, da kommt ein Bus mit Schülern drin aus der Chóra daher. Ich gebe ein eindeutiges Handzeichen, aber der Fahrer will mich nicht mitnehmen. Echt fies, es wäre ein Leichtes für ihn gewesen, brachte er doch die zur Parade herangeschafften Schulkinder wieder in die Dörfer der östlichen Sfakiá zurück.
So steht mir noch ein weiter Fußweg bevor.

Heute habe ich kein Glück, alle Bauern und einige Touristen fahren gleichgültig an mir vorbei. Schau mir die Tavernen am Ende der Ímbros-Schlucht aus meiner Straßenwarte an. Komme nach Vraskás und Nomikianá. Sehe die abgebrannten Flächen um den Ortsfriedhof von Vouvá herum.
Dann endlich, kurz vor Ágios Nektários, die Erlösung in Form eines uralten Mercedes mit den beiden alten Papádhes von der Zeremonie in Chóra Sfakíon drin. Die halten aus christlicher Nächstenliebe an, um mich Deutschen an ihrem Nationalfeier- und Kriegsgedenktag aufzupicken (!).
Kurz vor Patsianós muss ich aussteigen, denn die beiden Geistlichen suchen irgendwelche Gebirgs(rand)dörfer auf. Sie haben mir bestimmt 35 min Fußweg erspart.

Als ich die letzten 3 km auf der überbreiten Stichstraße Richtung Frangokástelo meerwärts wandere, schiebt sich die Wolkenwand über die Berge und es beginnt erst zu tröpfeln, später richtig zu regnen. Gerade noch rechtzeitig bevor ich ganz durchnässt bin, trudle ich im Babis & Popi ein. Der lang gezogene Ort wirkt richtig verlassen, Touristen begegnen mir zunächst keine. Regennass, wie er sich präsentiert, hat er etwas ziemlich Tristes an sich.
Weil es relativ kühl geworden ist, setz ich mich in besagte Taverne rein und nehme nicht, wie ein später auftauchendes Paar, draußen auf der regengeschützten Terrasse Platz. Ich suche mir einen vor Durchzug geschützten Winkel und bestelle ein leckeres warmes Essen.
Die beiden anwesenden Brüder haben mich gleich erkannt, leider sind ihre deutschen Frauen nicht zugegen. Dafür mustert mich die Oma (Pópi) ganz beiläufig und ein wenig neugierig.

Warum ich eigentlich gekommen bin? Na ja, weil ich mal nachschauen wollte, wer so aller um diese Jahreszeit noch da ist. Und in erster Linie, um zu sehen, ob der alte L. aus der Münchner Gegend wiedergekommen ist! Doch es sind nur "wenige" hier, heißt es, und der 90-jährige L. sei gar nicht gekommen, denn er kuriere gerade eine Hüft-OP aus. Das war sie also, die ernüchternde Antwort.
Ganz unvermutet erscheint noch ein älteres, ortsansässiges deutsches Paar, das Probleme mit einem Elektrogerät hat und den einen der Brüder bittet, das dem Händler mitzuteilen. Man benötigt natürlich Hilfestellung beim Griechischen, das nicht so einfach aus dem Ärmel zu schütteln ist, wenn es um Spezielleres geht. Doch im Babis & Popi kann einem diesbezüglich geholfen werden.

Nun bestelle ich für eine bestimmte Uhrzeit ein Taxi, mache dann einen kleinen Spaziergang, der mich erst einmal hin zum Kalí Kardiá führt, das ganz leblos wirkt.
Durch den Durchlass zwischen dem Zimmertrakt und der Nachbarpension nähere ich mich inmitten nasser Kräuter dem breiten Sandstrand, auf dem sich meine Fußstapfen tief einprägen. Hinter dem Strand und noch vor dem Schilf hat sich eine Großpfütze aufgestaut. Von der kleinen Landzunge weiter westlich mit einer Tavernenterrasse drauf blickt mir eine einsame Gestalt entgegen. Ich gehe zurück zur ruhigen Durchgangsstraße.
In der ausgedehnten Ebene zu meiner Rechten und höchstens 200 m von mir entfernt wölbt sich ein Mini-Regenbogen übers Land, dessen Spannweite nicht mehr als 100 bis 150 m beträgt. Etwas Wunderbares und eine Seltenheit für mich. Dahinter das gewaltige Bergpanorama mit den zahllosen Schluchten. Was für ein Anblick!

Im Supermarkt neben den Castéllo-Studios nahe meinem Esslokal lasse ich mir für 3 Euro wieder eine große Flasche des guten Fassweins abfüllen, der jedoch nicht mehr von der Kallikrátis-Hochebene stammt, sondern aus der Gegend von Vámos, weil der sich besser transportieren lasse, ohne schlecht zu werden, sagt man mir.

Pünktlich erscheint der Transporteur. Da kein offizieller Taxifahrer verfügbar war, hat man einen Jungen aus dem Ort organisiert, der die Fahrdienste nach Chóra Sfakíon für schlappe 20 Euro übernimmt. Inzwischen hat sich der Regen gelegt.
Mein Fahrer erzählt mir von einem Grundstück gleich unterhalb eines der nahen Gebirgsfußdörfer, das er veräußern wolle. Vielleicht hält er mich für einen Kaufinteressenten, zumal sich schon etliche Ausländer in der Gegend eingekauft haben. Die Größe sei 1 Stremma, und die von zwei westeuropäischen Interessenten gebotenen Preise variierten stark. Er wird sein Grundstück bestimmt bald loskriegen, denke ich mir. Der Kaufpreis klingt nicht gerade deutlich überhöht.
Schon sind wir in der Chóra angelangt.

Copyright puchheim = MartinPUC, Dezember 2009

Zum Abschluss noch einmal Iráklio