![]() Nun folge ich dem blauen Pfeil, den Joan mir als Orientierungshilfe zur Nekropole markiert hat. Bald schon trifft die schmale Dorfstraße auf die breitere Hauptstraße nach Episkopí. Die beiden aufgemalten Zypressen sollen den Abzweig symbolisieren, den ich zur Abkürzung nehmen soll, damit ich nicht am Straßenrand weitergehen muss. Vor einem einzeln stehenden Haus sitzen zwei Frauen, die ich nach diesen Zypressen frage, da ich sie nicht auf Anhieb erkennen kann. Ja, noch ein paar Meter weiter soll ich gehen, dort sei ein Friedhof, auf dem ihre Familie beerdigt liegt, meint eine der Frauen. Es scheint sich tatsächlich um einen Familienfriedhof zu handeln, wie ich der Inschrift am Eingang entnehme: Νεκροταφείον Ιστορικής Οικογένειας Δεληγιαννάκηδων. Ιδρύθηκε το 1924 από τον καπετάνιο Μάρκο Δεληγιαννάκη (1869-1957). [Historischer Friedhof der Familie Delijannákis, begründet 1924 von Kapetán Markos Deliannákis (1869-1957).] Tatsächlich stehen hier nicht nur zwei, sondern mehrere Säulenzypressen dicht an dicht, unter denen sich die wenigen Gräber ducken, und die dem kleinen Friedhof einen düsteren, jedoch ehrwürdigen Ausdruck verleihen. ![]() Ich verlasse hier also die Straße und folge einem unscheinbaren Weg, der nach kurzer Zeit wiederum die Hauptstraße kreuzt, wie man an der Wegführung des blauen Pfeiles auf der Zeichnung entnehmen kann. Hier nun befindet sich die einzige Markierung, ein verrostetes Schild, das den Weg zu den "Fünf Jungfrauen" (in die Totenstadt) weist. Jemand, der nicht ortskundig ist, der nicht nach dem Weg gefragt hat und der auch nicht weiß, wofür die fünf Jungfrauen stehen, hätte den Abzweig zur Totenstadt nie und nimmer oder nur per Zufall gefunden. (Update April 2010: Mittlerweile weist ein gut lesbares Schild auf den Abzweig hin) Man beschreitet nun einen wunderbaren Pfad, auf der rechten Seite ein grünes, wasserreiches Tal mit zahlreichen Nuss-, Feigen- und anderen Nutzbäumen, links die immer zahlreicher werdenden Grabhöhlen, an denen man erkennen kann, dass sie von Menschenhand gefertigt worden sind. Simse und Nischen zieren die Wände, richtige (symmetrische) Eingänge führten einst in die Gruft. Es liegt eine angenehme Ruhe über dem gesamten Ort. Vielleicht auch, weil bisher nur wenige Touristen den Weg hierher gefunden haben. Noch ist nichts wirklich „angelegt“.
Joan hatte erzählt, dass die Archäologen gegraben haben und fündig geworden sind. Die Fundstücke hat man allerdings weggebracht, wohl nach Réthimnon, obwohl sie doch eher nach Argiroúpolis gehörten. Man hoffe auf eine stärkere Ortsführung, die sich für das Verbleiben der Kulturgüter in der Zukunft einsetzen wird. Nach ca. anderthalb Kilometern erreicht man einen großen Platz. ![]() An dieser Stelle befand sich wohl das Zentrum mit Hunderten von Gräbern. Linkerhand steht eine recht unscheinbare, weiß getünchte Kapelle, die man über wenige Steinplatten auf einer erhöhten Plattform erreicht. Es handelt es sich um die Kirche der fünf Jungfrauen, die als Märtyrerinnen für ihren christlichen Glauben gestorben sind. In der Kirche hat man ein Familiengrab mit fünf Sarkophagen gefunden, die bis ins 4. vorchristliche Jahrhundert datieren. Vielleicht standen sie in der angrenzenden Höhle im rückwärtigen Teil der Kirche. Die hölzerne Altarwand ist auch hier dem Anlass entsprechend sehr reich mit Schnitzereien verziert. Auf der links außen eingearbeiteten Ikone sind die Namen der 5 Jungfrauen über ihren Abbildungen aufgeführt, die ich als Thékla, Enathá, María, Mártha, Mariámni entziffere. Verlässt man das Kirchengelände durch den rückwärtigen Teil, sieht man wiederum eine Reihe von angelegten und gut erhaltenen Höhlengräbern. Dort befindet sich der mächtige Stamm einer angeblich 2000 Jahre alten, riesigen Platane. Unglaublich: als die christliche Zeitrechnung begann, gerade um die Zeit, als die Römer den lappäischen Stadtstaat erobert hatten, soll dieser Baum sein Wachstum begonnen haben. Wie viele Generationen von Menschen seitdem hierher gepilgert sind? ![]() Rings um die Platane hat man einen kleinen Rastplatz angelegt. Wasser aus einem Brunnen führt durch Äquadukte weiter talwärts. Gegenüber, im Felsen, sind weitere Grabhöhlen angelegt. Beim Herumklettern trete ich auf eine lose Platte, deren schepperndes Geräusch über einem Hohlraum erahnen lässt, dass das gesamte Gelände im Unterbau vielleicht von einem größeren Höhlensystem durchzogen ist. Hier sehe ich auch die mit Abstand größte Höhle, in der ich aufrecht stehen und nun die majestätische Platane von einem erhöhten Standpunkt aus begreifen kann. Später folge ich dem Weg noch ein Stück, doch der Platanenplatz scheint der sichtbare Endpunkt von Nekrópolis zu sein. Nach einer längeren Pause lasse ich auf dem Rückweg nochmals eine zweitausendjährige Geschichte an mir vorüberziehen und weiß, dass ich unbedingt wieder hierher kommen möchte. Viele Punkte auf meiner Karte habe ich noch nicht gefunden, so dass es sich sogar lohnt, gleich für mehrere Tage in Argiroúpolis zu bleiben. |