Chelsea Market und High Line Park


Interessant wären heute für uns drei Besuchsziele. Die erste Alternative wäre mit erheblichem Aufwand verbunden: ab Port Authority Bus Terminal mit dem ShortLine-Hudson-Überlandbus durch das Hinterland von New York zunächst bis nach Monticello. Von dort ginge es dann mit dem Taxi noch etwa zwanzig Meilen weiter bis nach Bethel Woods, dem Veranstaltungsort des berühmten Woodstock-Festivals von 1969. Es gäbe auf dem Gelände einiges zu besichtigen, doch eigentlich geht es um das Feeling, einmal dort gewesen zu sein und auf oder an dieser Wiese ein wenig Zeit mit Gleichgesinnten zu verbringen. Man könnte über die angelegten Wege wandern und im Bethel Woods Center for the Arts einzukehren. Die Fahrt dauert pro Weg mindestens zwei Stunden. Hätte es in der Nacht nicht wieder (wie ungewöhnlich!) mehrere Stunden wie aus Kübeln geschüttet, und wären die Wetteraussichten für heute ein wenig freundlicher, so wäre dieses Ausflugsziel meine erste Wahl gewesen. Wäre – denn was soll man im Freien bei strömenden Regen schon unternehmen? Allein der Aufwand der Fahrerei erscheint uns dafür zu groß. Also wird Woodstock schweren Herzens gestrichen.

Das zweite Ziel, zu dem auch der Weg selbst zählt, liegt in Queens, also dem Stadtteil, in dem auch unser Hotel steht. Doch dieser ist so riesig, dass wir sicherlich eine knappe Stunde pro Weg nach Flushing Meadows unterwegs wären. Allerdings fährt die Metro durch Bezirke mit ganz unterschiedlicher Zusammensetzung der Bevölkerung, was sich auch bei den Passagieren im Zug widerspiegelt. Empfohlen wird die viel befahrene Linie 7, die überirdisch verläuft, und die Menschen mit Wurzeln in unterschiedlichen Nationen unterwegs aufsammelt: Pakistan, Mexiko, Karibik, Indien, Italien und Korea. Entlang der Strecke haben alle ihr Fleckchen gefunden. In Flushing Meadows soll richtig was los sein, Straßen und Plätze mit guten Essgelegenheiten und internationaler Küche. Außerdem steht hier das Wohnhaus des großen Satchmo, das zu einem Museum umfunktioniert wurde und besichtigt werden kann, sicherlich eine schöne Einstimmung auf den zweiten Teil unserer USA-Reise durch die Südstaaten, die ab morgen beginnen wird.
Im Flushing Meadows Corona Park kann man die Unisphäre-Kugel der New Yorker Weltausstellung 1964/65 bewundern. Noch einige andere Sehenswürdigkeiten könnte man im Park entdecken, jedoch erscheint uns auch zu diesen Unternehmungen das Wetter nicht wirklich geeignet.

Wir entscheiden uns daher für die dritte Alternative, die mit der Metro vom Hotel aus leicht zu erreichen ist und genügend Indoor-Aufenthalte bietet, falls wir keine Lust mehr auf den Regen haben. Ganz in der Nähe sind wir schon herumgeschlendert, als wir einen anderen Regentag in Greenwich Village verbrachten. Und so schließt sich dann der Kreis, wenn wir einen weiteren in Chelsea dranhängen, wo man immerhin auch tagsüber gut überdachte Möglichkeiten des Zeitvertreibs finden kann. Falls aber der Dauerregen doch einmal aufhören würde, könnte man noch einen kleinen Spaziergang durch die Straßen und über den High Line Park unternehmen.


Chelsea

Mit der Metro-Linie E sind es nur sechs Haltestellen bis zur 23. Straße/Ecke 8. Avenue, und schon ist man mitten in Chelsea angekommen. Ganz unerwartet haben wir eine kleine Lücke erwischt, in dem es mal keine Hunde und Katzen regnet, ja es nieselt noch nicht einmal. Jetzt aber fix hinaus auf die Straße zu einem der letzten Erkundungsgänge während unseres Aufenthaltes in New York.
Unser Weg führt uns ohne festes Ziel am Rande des historischen Distrikts von Chelsea nach Westen, in Richtung der Hudson Piers, die mit zahlreichen Freizeitmöglichkeiten im Laufe der Zeit aufgewertet worden sind.
Ein auffallender, wuchtiger Wohngebäudekomplex aus rotem Stein die London Terrace, zieht sich über einen ganzen Straßenblock zwischen der 23. und 24. Straße bzw. zwischen der 9. und 10. Avenue. Diese Anlage wurde im Jahr 1930 fertiggestellt und erscheint sehr gepflegt. Auf knapp zwanzig Etagen hat man 1.700 Wohnungen eingerichtet, die im Laufe der Zeit alle zeitgemäß renoviert wurden. Für die Bewohner bieten der Innenbereich und die unteren Etagen des viereckigen Häuserblocks zahlreiche Annehmlichkeiten, wie eine besetzte Lobby, ein Parkhaus, Fitnesszentrum und vor allem ein toller Innenhof. Bestimmt hat man hier aufgrund der guten Infrastruktur und den zahlreichen angebotenen Aktivitäten einen tollen Stadtbezirk zum Leben. Was die Wohnungen kosten, danach fragen wir lieber nicht. [Im Angebot sehe ich im November 2023 beispielsweise die einzig verfügbare Wohnung mit drei Schlafzimmern und drei Badezimmern auf 195 Quadratmetern zu einem Kurs von schlappen 17.995 USD pro Monat. Wohl dem, der es sich leisten kann.]


London Terrace entlang der 9. Avenue


Eingänge der London Terrace entlang der 10. Avenue

Gegenüber reihen sich Häuser mit nur vier Geschossen, schönen Treppenaufgängen und kleinen Vorgärten aneinander; sie sind ebenfalls gut in Schuss und erinnern an die Straßenzüge in Greenwich Village.


Am Ende des Blocks kreuzt der High Line Park die 10. Avenue. Falls das Wetter hält, möchten wir uns später dort hinaufschwingen und ein wenig durch diesen bemerkenswerten Park spazieren.
An einer Straßenecke entdecken wir einige merkwürdig geformte Gebäude. Zum einen scheinen Fenster in halbrunden Fassformen verbaut worden zu sein.


Die anderen stehen direkt daneben und kommen mir bekannt vor, denn wir haben sie schon vom Empire State Building als in sich „verdreht" wahrgenommen. Es sind die beiden One High Line Gebäude.


An der gegenüber liegenden Eisenbahnbrücke führt eine Treppe hinauf zum High Line Park. Gerade als wir die Treppe erklommen haben, geht der nächste Wolkenbruch ohne lange Ansage auf uns hernieder, und zwar so plötzlich, dass wir es kaum schaffen, die Schirme aufzuspannen. Schnell wieder zurück auf die Straße und eine Überdachung finden!


Chelsea Market

Eine Möglichkeit, im Trockenen einen Kaffee zu trinken und etwas zu essen, gibt es gleich nebenan im Chelsea Market,
Eine Schräge führt vom Eingang aus mitten in das Herz des Marktes, der aus kleinen Lädchen besteht, in denen man alles Mögliche, vor allem aber Lebensmittel und zubereitete Speisen, erstehen kann.


Vor vielen der Shops gibt es kleinere Bereiche mit Sitzgelegenheiten, bedienen muss man sich selbst. Wir haben auf den Stühlen vor einer Bäckerei Platz genommen, aus der es äußerst verführerisch nach frischen Croissants und Kaffee duftet. Alex ist schon im Laden verschwunden, um uns zu versorgen.
Schräg rechts fällt ein Geschäft mit allen erdenklichen Gütern aus der arabischen Welt ins Auge (marokkanische Töpfe, Möbel, Deko), in Sichtweite ein Bücherladen und viele mehr.
Linkerhand gegenüber betreiben Flüchtlinge aus verschiedenen Ländern ein kleines Restaurant, das zum Genuss des Geschmacks der Welt in einer Schüssel einlädt. Und genau dieser Einladung werde ich folgen und ein paar herzhafte Kleinigkeiten erstehen.




So kann man einen regnerischen Tag vorbei ziehen lassen, es ist wirklich sehr schön und angenehm, hier ein wenig Zeit zu verbringen. Auch als es immer voller wird, weil noch viele andere dieselbe Idee haben, kehrt dennoch keine Hektik ein. Einen wundervollen, lebendigen Ort haben wir hier gefunden, um unseren New-York-Aufenthalt ausklingen zu lassen.


Irgendwie fühlen wir uns ein wenig müde, erschöpft vom täglichen Sightseeing, Termine Checken, Verlaufen, Nachfragen, Auffinden, Neues erleben, Menschenmassen – und haben noch keine echte Möglichkeit gehabt, das alles zu verdauen.
Hinzu kommt ein neues Gefühl des Übergangs zur zweiten Etappe unserer Reise, unserem Südstaaten-Trip, das sich so langsam breitmacht. Davor steht aber noch Koffer packen, Flüge einchecken und alles andere, was mit dem morgigen Reisetag zu tun haben wird.
Allein, uns fehlt am heutigen Tag die Energie, den Chelsea Market ausgiebig zu erkunden, und so sind wir einfach nur froh, einen schönen Sitzplatz in dieser besonderen Atmosphäre und Schutz vor den herniederprasselnden Wassermassen gefunden zu haben.

Als wir das Marktgebäude am Ende verlassen, hat der Regen ganz unverhofft aufgehört. Tatsächlich scheint sogar hin und wieder die Sonne, doch die Temperaturen sind merklich gefallen. Die Frage ist, wie lange dieses wasserlose Intermezzo halten wird. Also ganz schnell wieder die Treppe neben dem Markt empor, hinauf zum High Line Park, auf den wir zumindest mal kurz einen Blick werfen möchten.


High Line Park

Ab Mitte des 19. Jahrhundert, nach dem Bürgerkrieg, erfuhr der Eisenbahnausbau in den USA eine Blütezeit und löste aufgrund größerer Wirtschaftlichkeit die Dampfschifffahrt für Güter- und Personenverkehr ab. Auch Manhattan, das in Teilen stark industriell geprägt war, erhielt seine Schienenwege. Einer davon wurde für den Güterverkehr auf der Westseite des Stadtteils auf einer Hochtrasse verlegt. Sie verlief ab der 34. Straße in Midtown in südliche Richtung durch Chelsea, hier mit einer großen Station am Marktgebäude, weiter durch den Meatpacking District und Greenwich Village bis zur Südspitze Manhattans. Unter der Bezeichnung West Side Elevated High fuhr ab 1934 der erste Zug auf dieser Strecke, die teilweise direkt durch Gebäude führte, um Güter wie Fleisch, Backwaren und andere Lebensmittel zu laden und weiter zu transportieren.


West 15th Street Skybridge, die früher zwei Industriegebäude miteinander verband

Als rund einhundert Jahre später Waren vorzugsweise auf LKWs befördert wurden und der Eisenbahnverkehr seinerseits an Bedeutung verlor, wurde diese Trasse stillgelegt und im südlichen Teil abgerissen. Zwischen der Gansevoort (Meatpacking District) und der 34. Straße jedoch überließ man die Anlage zunächst sich selbst, was über die Jahre zu ihrer Verwahrlosung führte.
Pläne, die Schienen auch auf diesem Abschnitt komplett abzunehmen, scheiterten an den Wünschen der dort wohnenden Bürger, die sich für eine andere Nutzung des Terrains stark machten. Ab 2003 gewann die Idee einer Umwandlung in einen Park in der Öffentlichkeit an Interesse. Mit vielen starken Kräften, wie dem Bürgermeister und dem Stadtrat, insbesondere aber den interessierten Menschen, die in der Umgebung wohnen, fand eine erste Umsetzung der Umgestaltung ihren Beginn. In drei Bauabschnitten entstand so der bemerkenswerte High Line Park, der 2023 mit der Eröffnung des letzten Streckenabschnitts im Norden seine Fertigstellung fand.
Über anderthalb Meilen erstreckt sich nun eine begrünte Oase entlang der verbliebenen Schienen, auf der man ein Stück Geschichte der Westseite Manhattans erleben kann, und der nicht nur Touristen, sondern insbesondere Anwohnern und Beschäftigten der umgebenden Büros in ihrer Pause einen erholsamen Aufenthalt in der Natur bietet.






Mit Blumen bepflanzte Beete, Bäume und zahlreiche, heute aber völlig durchnässte, hölzerne Sitzgelegenheiten wechseln einander ab. Dazwischen schlängeln sich die Schienen, und auch einige Weichen der ehemaligen Bahnlinie sind noch erkennbar.


Sehr gut lässt sich auch erahnen, wie eng die Häuser damals an der Bahnlinie standen: für gewerbliche Unternehmen sicherlich sehr von Vorteil, für die Arbeiter in den angrenzenden Wohnungen einfach nur akustischer Dauerstress.
Wir trauen uns nicht, eine längere Strecke in nördliche Richtung zu gehen, da es sich langsam schon wieder zugezogen hat und wir jederzeit wieder mit dem nächsten Regenguss rechnen. Stattdessen wandern wir in die entgegengesetzte Richtung, vorbei am Whitney Museum of American Art, bis zu ihrem südlichen Ende. Auch auf diesem kurzen Stück können wir einen kleinen Eindruck über den Erholungswert des Parks gewinnen.
Zwischenzeitlich schweift der Blick durch die Vegetationslücken in Richtung Hudson River und New Jersey, bei Sonnenschein sicherlich ein schöner Anblick. Die ehemaligen Schiffsanlegestellen am Fluss wurden teilweise in Freizeitparks umgewandelt, wie Little Island, auf Pier 54 im Hudson gelegen und 2021 als Park eröffnet.


Blick auf die äußeren, hellen Begrenzungsstelzen von Little Island


Der High Line Park ist ein gutes Beispiel dafür, wie – wenn der Wille vorhanden ist, - wichtige Kräfte zusammenwirken und entsprechende finanzielle Mittel bereitgestellt werden, selbst in einer Stadt mit einer derart hohen Baudichte und nur wenig vergügbaren freien Grundstücken wichtige Erholungsräume für die Bürger geschaffen werden können.

Die Informationen zum High Line Park sind der Seite High Line entnommen, auf der auch Fotos aus der Entstehungszeit des Parks zu sehen sind.


Meatpacking District

An der Ecke Washington /Gansevoort Street endet der High Line Park. Eine Treppe führt hinab in den Meatpacking District, der – wie der Name vermuten lässt – in früheren Zeiten Zentrum der Fleischindustrie Manhattans war. Auch Schwerindustrie und andere Betriebe waren hier angesiedelt, für die diese Bahnlinie erbaut worden war.
Das kleine Viertel, das wir über die Gansevoort Street in Richtung Osten durchkreuzen, ist geprägt von kleinen Plätzen (früher Marktplätze) und recht niedrigen, ehemals gewerblichen Bauten, die noch gut erhalten sind und heute andere Betriebe beherbergen.
Längst hat sich das Viertel gewandelt. Industrie sucht man heute vergeblich. Stattdessen sind Boutiquen, Kneipen und Wohnhäuser entstanden, ein Flair ähnlich wie in den angrenzenden Bezirken Greenwich Village und Chelsea und sicherlich auch eine schöne Wohngegend mit allem, was man braucht, für die, die es sich leisten können.

Unser Ziel am Ende des Ausflugstags ist die nahe gelegene U-Bahn-Haltestelle der E-Linie (14 St/8 Ave), mit der wir ein letztes Mal von Manhattan nach Queens fahren. Damit endet dann auch die Nutzbarkeit des 7-Tage-Tickets. Für morgen müssen wieder Einzeltickets zum Flughafen ziehen.
Irgendwie ist es schade, dass unser Aufenthalt in New York zu Ende geht. Wir haben diese aufregende Stadt in vollen Zügen kennen und lieben gelernt und wissen, dass wir bisher nur einen winzigen Bruchteil dessen, was sie so bietet, erleben konnten. Die Zeit war dennoch ausreichend, ein Gefühl für das Leben in New York City zu bekommen.
Andererseits freue ich mich auf das, was jetzt kommt: unsere Südstaatentour! Und ich hoffe, dass das Wetter dort auch ein wenig besser sein wird, wärmer und vor allem regenärmer. Auch das Essen soll mit den regionalen Spezialitäten sehr, sehr lecker sein.


Passend zum Übergang und zur Einstimmung auf den Süden:
Mississippi Fred McDowell mit dem Song You gotta move


Südstaatentour