Arbeit und Brot
Dorfleben in Kamilari
(Winter 1987)



Für unsere abendlichen Gaumenfreuden machten wir unsere Besorgungen in der Regel in Christinas Pantopolíon und manchmal auch in der Metzgerei oben im Dorf. Das Einkaufen bei Christina selbst war eine reine Freude. Oft saßen ein paar ältere Dorfbewohner um eine Metalltonne mit glühenden Holzscheiten herum, um sich ein wenig in dem unbeheizten Raum aufzuwärmen und sich die Zeit zu vertreiben.

Kam man nun als Kunde dazu, wurde man gefragt, wie der Tag gewesen sei, ob man Arbeit gehabt hätte. Ja? Wo denn, bei wem? Was man getan habe und wie es war. Mühsam kramte ich mein Griechisch hervor. Noch konnte ich keine Sätze bilden, redete also in Hauptwörtern. Durch die Arbeit hatte sich mein Wortschatz jedoch deutlich verbessert. Es ging gar nicht anders.

Meist setzte man sich ebenfalls auf einen Stuhl neben die Tonne, um die klammen Finger etwas zu wärmen und unterhielt die Runde ein wenig mit den Erlebnissen des Tages. So ganz nebenbei suchte Christina die gewünschten Lebensmittel, rechnete alles auf einem Block zusammen und zitierte dann in einwandfreiem Deutsch und hingebungsvollem Lächeln den Preis: „Eindausendzweihundertfunfzig.“ Und jedes Mal gab es noch – wie zu meiner Kinderzeit – ein Leckerlie mit auf den Weg, irgendetwas Süßes, ein Plätzchen, oder einen kleinen Tetrapack mit Limonade oder Orangensaft.

Noch bis 2005 war das Geschäft geöffnet. Ich ließ es mir in den Jahren meiner vielen Kamilári-Besuche nie nehmen, in Christinas Geschäft einzukaufen, das noch genau so, wie vor knapp zwanzig Jahren da stand, mit all den Kleinigkeiten, die es zu kaufen gibt, den Küchenartikeln, Putzmitteln, Ansichtskarten, den Gemüse- und Obstsorten gleich beim Eingang, Knoblauch in einer kleinen Pappschachtel, den Käselaiben daneben in der Frischhaltetheke. Auch der Honig stand immer am selben Platz. Der Tresen dicht gefüllt mit allen erdenklichen Süßigkeiten und herzhaften Snacks. Linkerhand das Kästchen für die Post, für uns die Postrestante-Adresse für Briefe, die uns aus der Heimat erreichen sollten. Und ganz oft bekam ich noch eine kleine Süßigkeit geschenkt, genauso wie früher vor 20 Jahren.

Manchmal scheint es, als ob sich nichts verändert hätte, und manchmal sieht man den Fortschritt ganz deutlich auf Kreta. Christina gehört zu den Menschen, die nicht zu altern scheinen. Sie ist derselbe freundliche Mensch, hat dieselbe warmherzige Ausstrahlung wie damals. Zum Glück haben sich meine Sprachkenntnisse verbessert, so dass wir heutzutage eine bessere Konversation führen können. Es ist schön, Orte zu kennen, die heute so sind wie früher, die sich überhaupt nicht verändert haben zugunsten eines sehr waghalsigen und unüberlegten Fortschritts. Es ist schön, solche Felsen in der Brandung zu kennen, um sich manchmal ein wenig von den Stürmen auszuruhen, zu sehen, dass alt Bewährtes ein Recht auf Fortbestand hat.

Doch leider ist auch ihr Geschäft jetzt für immer geschlossen. Gleich gegenüber Christinas Laden befindet sich das neue Geschäft von Alékos und seiner Frau. Auch dort kaufe ich gerne ein und finde es mutig, dass sie sich entschlossen hatten, in dem kleinen Dorf, direkt gegenüber einem anderen etablierten Lebensmittelladen, den ihren zu eröffnen. Auch hier trifft man sich gerne auf einen Plausch. Es sind dann öfter mal die jüngeren Leute, die sich angeregt über das letzte Fußballspiel oder Politik unterhalten.

Damals, Mitte der Achtziger, bin ich nach getätigtem Einkauf bei Christina in entgegengesetzter Richtung davon geschlendert, nach oben zur kleinen Platía, bog dort links ab, an der Kirche vorbei und wieder scharf nach rechts, passierte die Taverne Mílonas, weiter geradeaus, den steilen, gerölligen Weg hinab nach Mentóchi. Häuser gab es den Weg hinunter nur ganz wenige. Dort, wo jetzt das Ambeliótissa-Anwesen steht, war damals einfach nur eine Wiese. Schräg gegenüber hatte Vangélis aber schon begonnen, das erste Gebäude seiner Plakalóno-Studios zu errichten.

Mit voller Einkaufstüte näherte man sich dem lauten Quaken der Frösche, die sich um den Brunnen, gegenüber unseres Zimmers, versammelt hatten. Auch ein Hahn stolzierte dort auf und ab und pickte manchmal nach uns.

Unsere abendlichen Kocheinlagen dienten nicht nur dazu, unsere hungrigen Mägen zu füllen, sondern auch zu Heizzwecken, denn einen Ofen hatten wir nicht. Als Kochgelegenheit hatte uns die Vermieterin einen zweiflammigen Propangasherd zur Verfügung gestellt, der für unsere Bedürfnisse ausreichte. Auch die Auswahl an Lebensmitteln und Ideen war begrenzt, doch es schmeckte gut und sättigte. Unser absolutes Lieblingsgericht war Linseneintopf ohne und Linseneintopf (ab und an) mit Fleisch, dicht gefolgt von Spaghetti mit Tomatensoße. Nicht zu verachten waren auch unsere Omeletts mit Inhalt (Kartoffeln, Tomaten, Féta, Zwiebeln - abwechselnd oder zusammen). Ganz schnell zubereitet waren dagegen Spiegeleier aus frischen Eiern und Zwiebeln aus der Pfanne mit Weißbrot. Zum Nachtisch gab es in der Regel sonnengereifte, zuckersüße Orangen, prall mit Saft gefüllt, die wir von irgendjemandem geschenkt bekommen hatten, denn die Bäume hingen voll davon.

Die Wäsche wurde in einer Schüssel draußen im großen Hof gewaschen. Das Wasser aus der Leitung war kalt, doch wir besaßen einen großen Topf, um Wasser zu erhitzen und unsere Wäsche einigermaßen heiß durchwaschen zu können. Auch Laken und Jeans. Eine Waschmaschine war undenkbar. Wir waren froh, genügend Geld für unser Essen und die Miete zusammen zu bekommen.

Die kalte und feuchte Atmosphäre zog in die Kleidung hinein. Alles war irgendwie klamm in unserem Raum, die Kleidung, Handtücher und auch das Bettzeug. Daher trollten wir uns nach dem Essen meist nach oben ins Dorf zu Georgía ins Mílonas, wo uns ein warmer Ofen erwartete. Bei einem oder mehreren Gläsern Wein erzählten wir uns Geschichten oder spielten Távli. Oder wir versuchten, die Zeitungsnachrichten zu erraten. Das war mit unserem sehr begrenzten Sprachkenntnissen jedoch so gut wie unmöglich. Doch die Temperaturen konnten wir ablesen, dass es in „Werolíno“ (Berlin) nur 5 Grad kalt und in „Frankfúrti“ auch nicht erheblich wärmer war.
Auch einige kretische Nachbarn waren meist anwesend. Einen Fernseher gab es nicht. Spät abends machten wir uns dann wieder auf den Weg nach Hause. Auf dem Feldweg geradeaus den Hang hinunter, der heute geteert und gut beleuchtet ist, lagen damals viele große Steine herum, die man in der pechschwarzen kretischen Nacht überhaupt nicht sah. Durch den Wein mutig geworden, nahmen wir uns meist bei der Hand, gingen von der Taverne hinaus in die Nacht, dort wo am Anfang des Weges die letzte Straßenfunsel hing, nahmen Anlauf und stürmten blind den Hang in die Dunkelheit hinab. Niemals sind wir gestolpert. Es war wohl die beste Methode, so über die Steine und Unebenheiten hinweg zu „fliegen“ (Castaneda war unser ständiger Begleiter).


***


Eines Nachmittags saß ich in unserem Hof. Eine Spaziergängerin hielt an und wollte sich ein wenig mit mir unterhalten. Sie war eine Deutsche und verbrachte zum ersten Mal zusammen mit ihrem Mann den Urlaub auf Kreta.

Ihr Mann hatte sie auf diesem Spaziergang nicht begleiten können. Nein, das war unmöglich, denn er war zu einer Woche Gefängnis verurteilt worden.

Sie erzählte, dass sie vor ein paar Tagen durch die Felder gewandert seien. Überall hingen reife Orangen an den Bäumen. Sie schmeckten einfach köstlich. Solche Orangen wären in Deutschland gar nicht erhältlich. Ihr Mann beschloss, ein paar Apfelsinen zu pflücken, um sie mit auf`s Zimmer zu nehmen. Um genau zu sein, hatte er schon eine riesige Tüte voll gepflückt, als plötzlich der über die Maßen erzürnte Orangenbaumeigentümer nebst Polizist auftauchte.

Der Orangendieb wurde verhaftet, und jetzt saß er im Knast seine Strafe ab. Offensichtlich hatte er die alte Regel nicht gekannt, wonach du nur soviel pflücken darfst, wie in eine Hand hinein passt. Zumindest hatten mir Einheimische das einmal gesagt.

Die Frau war jedoch nicht panisch, allenfalls überrascht. Sie hatten einfach nicht damit gerechnet, dass man dafür gerade stehen muss, wenn man anderer Leute Bäume plündert.


***


Eines Abends vertrieben wir uns wieder einmal die Freizeit bei Georgia in der Kneipe am warmen Bollerofen. Da betrat eine Frau den Raum, eine Deutsche, Sina, die erst kürzlich mit einem großen schwarzen Hund angereist war. Wir hatten uns augenscheinlich gesucht und gefunden. Fortan verbrachten wir die Abende zusammen.
Oft frönten wir dem Kartenspiel, und so brachten wir auch dem jüngsten Sohn Georgías das Zocken bei. Georgía hatte ein kleines Angebot an Gerichten in der Warmhaltetheke, und bald gingen wir dazu über, das tagsüber verdiente Geld des Abends in der Taverne für Speisen und Getränke umzusetzen.

Als es wärmer wurde und die Osterzeit nahte, mussten wir das Zimmer räumen, da die Vermieterin es für die Ostertouristen herrichten wollte. Der Preis stieg ebenfalls erheblich. (Wir hatten im Winter ja zusammen pro Monat nur 8.000 Drachmen für das Zimmer gezahlt, das waren weniger als 80 DM). Einige Zeit zuvor war eine kleine Familie angereist, die dringend eine Unterkunft gesucht hatte, eine Frau aus Wien mit ihrem italienischen Mann und einem kleinen Kind. Da der Raum neben unserem ja leer stand, waren sie dort vorübergehend eingezogen, doch für drei, und in Kürze vier Personen, war dieses Zimmer einfach viel zu winzig.

Tom und ich nahmen Sinas Angebot, in ihr gemieteten Haus im Oberdorf von Kamilári einzuziehen, dankend an. Wir wussten noch nicht, dass aus unserer ehemaligen Unterkunft in Mentóchi bald etwas ganz anderes, neues entstehen sollte. Nicht länger sollten diese beiden Rent-Rooms mit den steingefassten Türen und der Außentoilette im großen offenen Hof zur Vermietung bereit stehen. Nein, es war noch sehr viel Arbeit erforderlich, doch unsere Nachbarn, die das kleine Zimmer neben uns bewohnt hatten, sorgten dafür, dass aus den Räumen ein Lokal wurde. Es entstand die Pizzeria von Kamilári, die seit dem mit wechselnden Besitzern zu erheblichem Ruhm in der Umgebung gelangt ist. Nicht nur Touristen fahren auf eine leckere Pizza dorthin, sondern auch Einheimische. Auch ich habe schon häufig dort im lauschigen Hof gesessen. Wenn ich einen Blick in die Küche werfe, dann weiß ich noch genau, wo mein Bett einst stand...

1986 ...
...und 20 Jahre später

Fortan wohnten wir also oben in Kamilári, noch hinter Christinas Shop den Hügel hinauf, in einer Sackgasse. Das Haus war schon sehr alt und unsere Wohneinheit bestand aus einem großen Raum, der allerdings nicht über einen Stromanschluss verfügte. Dafür hatten wir einen Kamin, der aber auch nicht funktionierte. Fließend kaltes Wasser gab es auf der Gasse aus einem Wasserhahn. Unser „Luxushotel“ hatte genau ein Bett, auf dessen Matratze der Hund schlief. Das Bettgestell hatten wir hochkant an der Wand aufgerichtet und diente uns als Kleiderablage. Wir drei Menschen hatten unsere Schlafsäcke nebeneinander auf dem Holzfußboden auf Decken ausgerollt. Es war richtig gemütlich. Wenn es regnete, mussten wir nachts jedoch des öfteren die Positionen wechseln, weil das Dach nicht ganz dicht war.

Durch eine weitere Tür gelangte man nach draußen auf die Terrasse, einem buckelig betonierten Dach, das einen leeren Raum bedeckte. Von hier hatte man eine wunderbare Sicht auf einen großen Teil Kamiláris bis hinüber zum Meer. Aus dem Terrassenboden wuchsen Frühlingsblumen, vor allem leuchtend-gelbe Margeriten. Doch Vorsicht war geboten, denn der Boden barg Absturzgefahren in Form von größeren, aber von Blumen verdeckten Löchern, durch die man in Windeseile eine Etage tiefer befördert worden wäre.

Eigentlich ist es kaum nachzuvollziehen, wie ärmlich wir dort gewohnt haben. Doch da gab es etwas anderes, das unsere schlechte materielle Situation vollkommen in den Hintergrund drängte: Wir verstanden uns einfach wunderbar. Niemals ein Streit, kein Anspruchsdenken, wir saßen in einem Boot und uns ging es gut. Wenn ich abends von der Arbeit kam, stand da heißes Wasser im Topf, auf einer kleinen Gasflamme erhitzt, damit ich mich waschen konnte. Freudige Begrüßung. Auch der große, schwarze Hund hatte Tom und mich sehr schnell als Mitbewohner akzeptiert.
Hinzu kam die Akzeptanz unserer Nachbarn. Wir halfen uns gegenseitig, machten auch schon mal die eine oder andere Besorgung für andere.

An einem der Abende in unserer Hütte erzählten wir uns bei romantischem, halbdunklem Kerzenschein, wie es uns nach Kreta verschlagen hatte. Dabei erfuhren wir, dass Tom ursprünglich nach Österreich zum Skilaufen wollte, dann Antoine unterwegs kennen gelernt hatte, der ja über Kreta nach Israel unterwegs war. Da dachte er spontan: Kreta hört sich gut an. Und so schleppte er seine gesamte Winterausrüstung ans Mittelmeer: einen dicken Schal, Skihandschuhe, eine dicke Jacke (die mir im Winter gute Dienste geleistet hatte) und andere wärmende Kleidungsstücke. Was man zum Skifahren außer Skiern und Schuhen halt so braucht.

Tom war jemand, der sich gerne treiben ließ, anpassungsfähig war. Mit ihm bin ich in einem anderen Jahr per Anhalter von Dortmund nach Piräus gefahren, doch das ist eine andere Geschichte. Ein paar Jahre danach verschlug es ihn auf einen Frachter, der in die USA fuhr. Er heuerte an und reiste in die Südstaaten, wo er als Campingplatz-Manager arbeitete. An dieser Stelle verloren wir uns leider aus den Augen.

Auf Kreta wurde es immer wärmer. Die Olivenernte neigte sich rapide dem Ende zu und ich war gezwungen, mir neue Jobs zu suchen. Bei einem Mann aus dem benachbarten Petrokefáli arbeitete ich zunächst Donnerstags und Freitags im Garten.
Er stiefelte mir voran und schnitt mit seinem Messer das Erntegut, ich hinter ihm her mit einer Klúva (in jenem Jahr habe ich das Wort für *Plastikkiste* - eigentlich *Wanne* - gelernt, und werde es mit Sicherheit nie wieder vergessen) und sammelte das Gemüse ein. Daraufhin fuhr er weg. Meine Aufgabe bestand darin, das Gemüse kiloweise zu bündeln und in einem großen Wasserfass im Schatten eines mächtigen Olivenbaumes zu waschen. Mit der Zeit durfte ich auch selbst zumindest die Bohnen ernten. Der Job war klasse, vergleichsweise gut bezahlt und im Gegensatz zur Olivenernte bei weitem nicht so anstrengend. Mittags kam mein Chef mit ein paar Holzspießchen Souvláki vorbei, abends zahlte er mir meinen Lohn und fuhr mich dann nach Hause.

Eines Tages machte er mir den Vorschlag, ihn doch einmal nach Chaniá zum Markt zu begleiten, wo er das Gemüse verkaufen wollte. Erst zögerte ich, doch dann siegte die Verlockung des Neuen, und so sagte ich zu.

Eines Freitags abends zuckelten wir also gemütlich nach Chaniá. Dort angekommen wollte er uns zuerst einquartieren, um sogleich zu einem Wochenmarkt zu fahren, wo er eine erste kleine Verkaufsaktion starten wollte. Das Zimmer, das ich mit ihm teilen sollte, war winzig und irgendwo in einem alten Haus ganz hinten gelegen. Das war mir denn doch ein wenig zu intim. Obwohl mein Chef mir nie irgendwelche Avancen gemacht hatte, bestand ich doch auf einem Zimmer, das ich entweder allein oder mit anderen Frauen für die Nacht haben könnte. Mein Chef war beleidigt und sehr, sehr sauer ob meines geringen Vertrauens, drückte mir wütend 5000 Drachmen in die Hand und meinte, dann solle ich mir eben ein Hotelzimmer suchen.

Chaniá erschien mir damals sehr alt und rustikal. Heute erkenne ich die Stadt kaum wieder. Es gibt in der Altstadt jedoch eine Gasse, die nicht so sonderlich für den Tourismus hergerichtet worden ist, deren Häuser nicht in diesen wunderschönen mediterranen Gelb- und Umbratönen gestrichen sind. Diese Gasse mit ihrem unglaublichen Flair erinnert mich an damals.

Am nächsten Morgen machte ich mich auf zum Markt. Mein Arbeitgeber war bereits im Einsatz. Die Ladefläche des Pickups diente als Tresen. Eine Federwaage maß die Kilos von Gemüse, die den Besitzer wechselten. Ich half mit, so gut ich konnte, reichte Gemüse an, verpackte. Mein Chef war immer noch beleidigt, sprach kein Wort mit mir. Am späten Samstagvormittag war alles verkauft, und wir machten uns wortlos wieder auf den Weg in die Messará. Erst viele Kilometer später brach er endlich das Schweigen und erklärte mir in aller Ausführlichkeit, warum er so enttäuscht sei, er habe mir doch nie auch nur den geringsten Anlass gegeben, an seiner Integrität zu zweifeln. Ich versuchte ihm meinen Standpunkt, insbesondere hinsichtlich meiner Erfahrungen in Timbáki, zu erklären, doch er beharrte auf seiner Meinung.

In Vrýsses legten wir eine Pause ein, und er spendierte mir eine große Portion Jaoúrti me méli (Joghurt mit Honig). Danach war alles wieder gut. Bis heute weiß ich nicht, ob seine Enttäuschung berechtigt war. Doch auch noch im Nachhinein betrachtet finde ich es in Ordnung, dass ich auf einem eigenen Zimmer bestanden hatte. Ich arbeitete noch öfter für ihn, in seinem Garten und auf den Feldern. Zusammen mit anderen Touristen setzen wir kleine Melonenpflänzchen in Reih und Glied, schweißtreibend, acht Stunden am Tag in praller Sonne. Um die Mittagszeit wurden wir zu ihm nach Hause gebracht, um uns dort die Bäuche zu füllen. Trotz der harten Arbeit fand ich es schön, Teil dieser internationalen Gemeinschaft von Feldarbeitern zu sein, zusammen zu essen und zu arbeiten.


***


Die meisten Abende verbrachten Sina, Tom und ich weiterhin bei Georgía. Einmal kam ein Nachbar von gegenüber mit seiner Bouzoúki. Zusammen mit ein paar Männern aus dem Ort wurde blitzschnell ein langer Tisch für die Paréa bereitet. Wir aßen und tranken zusammen und lauschten außerdem der rhythmischen Musik. Zur Untermalung holten Sina und ich einige Schüsseln und Töpfe aus der Küche und klopften mit den Löffeln den Takt mit. Es schepperte gewaltig, doch alle lachten. Wir waren sehr albern.

Sina hatte außer ihrem großen schwarzen Hund und einer Eismaschine auch noch Theaterschminke in ihrem Gepäck aus Deutschland mitgebracht. Als der Abend und der Alkoholpegel schon recht fortgeschritten waren, bemalten wir die Männer mit dieser Farbe. Erst zierten sie sich mit vielen „Ochi-Ochis“, doch dank unserer Überzeugungskraft (JAMMAS !!!) konnten sie uns dann doch nicht widerstehen. Einer hatte eine Glatze, die wurde feuerrot eingefärbt, wahrend seinem Nachbarn die Augenlider mit Silberflitter bemalt wurden. Überhaupt steigerten wir uns bei unseren Werken in einen Silber- und Goldrausch hinein. Einer sah nach unserer Aktion ein bisschen wie ein Transvestit aus. Auch die Haare wurden mit Glitter und Flitter zum Leuchten gebracht. Wir amüsierten uns prächtig.

Am nächsten Tag waren alle wieder nüchtern. Bloß die Farbe war so schwer herunterzubekommen. So sahen wir unsere Helden, immer noch mit ein paar Krümeln Gold in den Haaren und mit Silber in den Falten. Den Nachbarn mit der roten Glatze hatte es am schlimmsten erwischt. Es dauerte einige Tage, bis die Farbe restlos verschwunden war, doch wir lachten alle noch Wochen lang über diesen gelungenen Abend.


***


Das Osterfest stand jetzt direkt vor der Tür. Unsere Nachbarin, eine ältere, gehbehinderte Frau, erzählte uns, dass sie die Renovierung der Außenfassade ihres Hauses, was ja üblicherweise jedes Jahr kurz vor Ostern geschieht, plane. Spontan erklärten wir uns bereit, diese Aufgabe für sie zu erledigen. Nach einigen Tagen, als die Farbe besorgt war, fingen wir also an. Die Kalkerei ging uns gut von der Hand und machte Spaß, und mitten auf ihrem Hof saß unsere Nachbarin auf einem Stuhl und strahlte übers ganze Gesicht.

Abends sollten wir zu ihr zum Essen kommen, was wir mit unseren Pfadfinderherzen erst gar nicht annehmen wollten. Sie selbst fastete ja, doch wir sollten feinstes Omelett bekommen. Schließlich ließen wir uns doch überreden und am Abend gingen wir zu ihr hin. Es duftete bereits aus der Küche. Diese bestand aus zwei Kochplatten auf einem kleinen Tisch, ein wenig Besteck, ein paar Tellern, einer Pfanne und einem Topf. Das ganze untergebracht in einem Raum, in dem sie auch schlief und sich einen großen Teil des Tages aufhielt, wenn sie nicht gerade die Hühner nebenan fütterte.
Einen Kühlschrank gab es nicht. Statt dessen waren die Lebensmittel insektensicher in Plastiktüten untergebracht und an Nägeln an der Wand aufgehängt. Wir fühlten uns beschämt, weil sie uns ihre Eier spendierte und selbst nichts davon essen wollte. Während wir uns noch umschauten, passierte das Unglück. Sie wollte gerade das Riesenomelett aus der Pfanne auf die Teller verteilen, es rutschte jedoch ab und ergoss sich auf den Fußboden. Sie war untröstlich!
Im Krieg hatte sie das Fluchen auf Deutsch gelernt. Und hier war eine passende Gelegenheit, ihren Frust in unserer Sprache zum Ausdruck zu bringen. Sie ließ es sich nicht nehmen, nach nebenan zu ihrem Bruder zu gehen und ihn um neue Eier zu bitten, um daraus ein weiteres Omelett zu bereiten. Mit gemischten Gefühlen verspeisten wir das Essen, während unsere Nachbarin sich langsam beruhigte. Als es uns dann offenbar sehr gut schmeckte, kehrte wieder Zufriedenheit ein.


Ostern und Abschied von Kreta