Die Fahrt Ein sommerlich warmer Montag im Mai, unser Pfingstmontag. Überwältigt von der Atmosphäre der 11– bis 12.000–Seelen–Hafenstadt Póthia und ihrer so ursprünglich erhaltenen, lebhaften Sonntagsszenerie beschließe ich schon heute, am Tag nach meiner mittäglichen Ankunft, einen Busausflug in den hohen Norden der Insel Kálimnos zu machen, um die Zeit zu nutzen. Denn nur montags und freitags gibt es ((zumindest diesen Mai)) eine derartige Verbindung über Kastélli hinaus weiter zu dem lediglich für "öffentlich" Reisende abgeschiedenen Ort. Viertel vor neun. Kaum habe ich mir meine Fahrkarte im kleinen Laden im Erdgeschoss des Rathauses an der Hafenstraße besorgt und in einem Café 120 m weiter stadteinwärts noch schnell ein heißes Getränk erstanden, sichtlich gestresster Kafetzís (er ist die Eile absolut nicht gewohnt – sie ist ihm so fremd wie dem Teufel das Weihwasser, nein, noch fremder!), einen tragbaren, oben zugedeckelten Nescafé mit Milch und Zucker in Händen, ist das betagte Ferntransportmittel annähernd voll besetzt. Fast ganz hinten ist zum Glück noch Platz für mich. Hinein ins Stadtzentrum auf der engen Einbahnstraße ohne Gehsteige, auf der uns gelegentlich und ganz unvermittelt eine Vespa oder ein schmales Moped entgegenkommt, man nimmt's hier nicht so besonders genau. Zu beiden Seiten kleine Geschäfte, auffallend die relativ vielen Kindergeschenkboutiquen (drei, in etwa, nur an dieser Straße), ein paar ältere Läden, ein altes Kafenío mit Ausgucksfläche draußen, der Abzweig zum Mousío (Mouseio), dem Archäologischen, zwei Obstläden, ein Fischhändler in der rechten Seitenstraße, plötzlich das größere Kafenío, schon an der Südostecke der Platía Kíprou, dem "Zypernplatz", an dessen Nordseite die vielen Taxis auf Kundschaft und Abruf warten. Ab hier ebbt die Lebhaftigkeit der Stadt allmählich ab, geht über in reinen Ausfallverkehr. Durch ruhigere Vorortviertel zieht sich ein Straßenstrang zielstrebig und alleeartig bergan, vorbei am Inselkrankenhaus und dem Sträßchen links zum "kleinen" Kástro mit der weißen Kapelle, hinauf zur Chóra, offiziell "Chorió", dem früheren piratensicheren Hauptort – heute noch eine respektable, ausgedehnte Siedlung mit kunsthistorisch interessantem, riesigen Friedhof gleich neben der Durchgangsstraße. Exkurs: Das Große Kástro über der Chóra Ein hübsches, weit verzweigtes Dorf, dessen Gassen von Schönheit künden, dessen unstreitbare Krönung jedoch über allem liegt. Ich taste mich quer durchs Dorf, mit Irrwegen, dann geht's hinauf, ein paar Stufen erst, einen Pfad, dann einen steilen Treppenweg hoch zur großartig mauerumgürteten, sicherlich einst uneinnehmbaren, Geborgenheit bietenden und ausgedehnten Festung auf jähem, westwärts abgeschrägtem Fels: dem Megálo Kástro. Ein hohes Eingangstor, ausgeschilderte, befestigte Rundwege, weiße Kapellen mit alten Fresken, in manchen erstickt man förmlich, so muffig–heiß, moderig und dampfig ist die Luft in den verriegelten, ungelüfteten Innenräumen dieser sonnenbeglühten Kirchen. Alte Wohnhäuser, Wasserrückhaltebecken. Höher und höher steigt man auf steinigen Pfaden hinauf, bis man an den obersten, östlichen Begrenzungsmauern angelangt ist. Steinerne Sitzgelegenheiten, altarartig. Hohes, schon jetzt verdorrtes Gras. Und Durchblicke durch Mauerfenster zu den höchsten Gipfeln der Insel. Der Blick nach Süden so beeindruckend, hin zur Stadt und zum Meer. Südwestlich ist das Dorf Árgos auf seiner Hochebene zu sehen, sehr gut die Klosteranlage des Moní Evangelístrias, nordwestlich hoch darüber die exakt justierte West–Ost–Rampe des unvollendeten Flugplatzes, hoffnungslos windexponiert, und Steilabfall an den Seiten – uaaaaah! Unter mir, südlich, durch eine Schlucht vom Kástro getrennt, Höhlen im Gestein, und ein einsames Wanderpaar, das sich da lange aufhält, hinaufzuklettern versucht in eine große dunkle Öffnung im Fels. Die ganze Bergflanke durchzogen von alten Pfaden. Wohin führen sie nur? Aber was rede ich von gestern, als ich den Nachmittag schon zu einem Ausflug in und hinter die Chóra (bis zum Einstieg auf den Profítis Ilías) und hinauf aufs Kástro nutzte? Weiterfahrt Heute sitze ich wieder im selben Bus, auf Weiterfahrt, auf Durchreise, das Ticket 90 Cent statt gestern 30, und viel früher am Tag. Drei Kafenía finden sich bei der Haltestelle in der Chóra, an dem Platz schon etwas randlich zum Hauptteil der Ortschaft. Da der 9–Uhr–Bus von Póthia her der erste am Tag ist, steigen viele Einheimische zu, die zu den kleinen Touristenorten der Westküste wollen, und heute sogar hinauf nach Emborió oder wenigstens Arginónda – für die kleinen Leute ohne Auto fast eine Weltreise. So etwas wie Hochstimmung – man ist erwartungsvoll, freut sich auf seine Verwandten im Inselnorden. Es steigt unter anderen eine mittelalte Frau zu, die sich neben mich setzt und mir bekannt vorkommt. Gleich beginnt sie zu reden, so als ob ich wirklich ihr alter Bekannter wäre. Meine Entschuldigung wegen dem Kaffee im Bus akzeptiert sie. Ein sehr zugänglicher, extrovertierter Mensch, dieses Geschöpf. Sie erklärt mir die Strecke, lässt Namen von Orten und Häfen fallen, sagt, sie arbeite in einem Hotel in Massoúri. Ich erinnere mich an letztes Jahr, da hab ich sie schon einmal als Gesprächspartnerin im Bus gehabt. Die üblichen Komplimente, wenn man etwas Griechisch kann, so viel, dass man fast alles versteht, was einfachere Leute so erzählen und ein wenig antwortmäßig auf sie eingeht. Pánormos, noch gut oberhalb der Küste. Nordöstlich in den Oliven das Kloster des Heiligen Pandeléimonas. Der Umweg hinunter nach Kandoúni wird heute, bei der langen Fahrt, wenigstens auf dem Hinweg ausgelassen. Ein hübsches Kafenío an der Straße, mit ersten Frühstücksgästen – Deutschen, Engländern – ich rate. Weiterhin Oliven, der Ort "Eliés" – der Name sagt schon alles. Einfahrt auf die kurze Serpentinenstrecke steil hinab zur Küste. Eine Haltestelle vor der engen Kurve, eine Frau ist vom Warten erlöst. Im Fischerhafen von Melitsáchas liegen noch viele Boote. Kurz darauf die Platía von Mirtiés mit dem "Bábis", der beliebten Kneipe, einem wartenden Taxi. Ein paar Meter weiter taucht links die sehr kurze Stichstraße zum Bootsanleger für Ausflüge zur Insel Télendos auf. Kleinere und größere Hotels und Pensionen säumen die Straße, Tavernen und Cafés, einige noch geschlossen. Souvenirläden. Der Übergang nach Massoúri ist fließend, es wird aber irgendwie gepflegter, ruhiger. Dann Armeós. Schließlich Kastélli, wo die Hotels schon einzeln stehen und die Hinweisschilder zu den verschiedenen Klettersteigen sichtbar werden. Sogar ein Bergsteigerausrüstungslädchen habe ich gesichtet, nur abends ist es wohl geöffnet. Der Blick auf Télendos frei, ein jäher, hochragender Bergstock. Rechts von mir, landein, senkrechte Wände, Höhlen, zergliederter Fels. Kletterer sind noch nicht auszumachen. Sie gehen's auf die griechische Art an, sanft und später als zu Hause. Links die Großdisco, dann der Felsvorsprung ins Meer hinein mit den Ruinen, die der Gegend von Kastélli ihren Namen gegeben haben. Erste Leihmopeds und –Vespas stehen am Straßenrand, denn auch das Kap von Kastélli ist ein Kletterparadies. Längst ist die Insel Kalavrós sichtbar, die eine Zeit lang die Siedlung Emborió am nordwärtigen Ende der großen Bucht verbirgt. Sie verschmilzt zudem mit einem pfannenförmigen Landausläufer westlich von Emborió, und man braucht schon eine Karte, um das alles auseinanderzuhalten. Kaum hat man den Straßenknick im rechten Winkel nach Ost erreicht, ist auch der Ort Skália zu erkennen, wie Emboriós ein Küstendorf, scheinbar unbedeutend, aber da und anwesend und sicher mit irgendeiner Sinnhaftigkeit ausgestattet. Geht oder fährt man nun auf Arginónda zu, das Dorf am Ende einer etwas engeren Einbuchtung, fallen einem wieder die Kreise und Rechtecke der Fischfarmen auf, die sich in geringem Abstand zur Küste massieren. Rechts und südlich hoher Fels, und Höhlen. Links unten schaukelnde Boote, ein größerer Rohbau über dem Wasser, das blaue Meer. Dahinter hochragende Bergketten als letzte Bastion gegen Leros. Am Ortseingang von Arginónda wird man rechts der Straße von einem gelblich angestrichenen Neubau mit Taverne, einer Menge Zimmern und irgendeinem großen Laden drin begrüßt. Im Bus hat man mir schon respektvoll zugeflüstert, dass der Besitzer des Komplexes, bereits ein alter Mann, gar nicht so weit von mir entfernt säße – und er steigt auch aus, noch ein schönes Stück vor der baumgesäumten, sanften Straßenkurve mit der Haltestelle, das steht ihm fraglos zu. Arginónda (Αργινώντα) – nicht nur einen schönen Strand hat es aufzuweisen und eine nette Taverne darüber, eine weitere jenseits der Straße, darüber hinaus eine hübsche Kirche mit altem, zwar inzwischen schwer beweglichem, aber durchaus noch lebendigem Papás, nein: das Wichtigste für mich ist die Tatsache, dass es gleichzeitig Ausgangspunkt eines herrlichen, zunächst stark lärmbelästigten Wanderweges ist – davon ein andermal. Wieder auf freier Strecke, Richtung Skália, der Streusiedlung am Meer. Etwa in der Mitte zwischen diesem Örtchen und Emboriós (– einige Landkarten lügen, was folgende Abzweigung betrifft – einige besonders stark –), nach meinem Gefühl näher an Letzterem, zweigt bei einem kleinen Kloster an der Hauptstraße ein Feldweg ab, den man sich merken sollte. Die Kehren am Berghang sind schon aus der Ferne gut zu sehen, ganz oben an der Hangkante ein weiteres, neu gebautes Kloster, oder ist es nur eine Kirche mit weithin sichtbarem Kreuz davor? Nach kurviger Strecke, rechts oberhalb noch eine Groß–Höhle, fällt die Straße in elegantem Schwung nach Emborió hinunter. Einzelne weiß gestrichene Häuser, sie wirken wie Feriendomizile mit viel Grün davor, bestimmen den Ostteil und die bergwärtigen, nördlichen Lagen der Siedlung. Eine Linkskurve führt, vorüber am Eingang zu den stark zurückversetzten, von der Straße aus nicht einsehbaren "Harry's Apartments" plus angegliederter Taverne direkt zum Meeresufer mit drei oder vier weiteren Essenstempeln. Die Eigner bzw. deren Personal lugen hoffnungsvoll über die Begrenzungsmauern, erpicht auf ein paar neue Gäste unter den Ankömmlingen. In und westlich von Emborió Alle steigen aus, unweit der kleinen Mole, wo angeblich um 10 Uhr 50 ein Boot Richtung Télendos in See sticht – wohl nur bei Bedarf. Nachdem ich die Tafel mit der Schiffsabfahrtszeit entziffert habe, wende ich mich der Uferstraße den langen Strand entlang zu. Zur sichtlichen Enttäuschung der Tavernenbesatzungen. Schatten spendende Strandtamarisken. Schon vereinzelte Strandpilger. Eine wohl britisch geführte Taverne, mit Briten als Gästen, Lachen, Kinder. Es treibt mich hin zur schönen, weiß gekalkten Dorfkirche, etwas überhöht über der Küste gebaut, blaue Kuppel, separater, blau bedachter Kirchturm. Seitlich der Dorffriedhof, all das durch ein Gatter erreichbar. Die Kirche ist zugesperrt, also wieder raus zur schmalen Straße. Ein Schild: Taverna Bárba Nicólas, ca. 250 m. Erst die Gegend nach Westen hin erkunden, dann in genau diese randlich gelegene Essensstätte, das ist mein Vorsatz. Als ich an ihr vorbeistapfe, sie liegt ein wenig unterhalb der Staubstraße, merke ich, dass ihr Name zwar "alt" vermuten lässt, sie selber aber, mit ihrer großen Aussichtsterrasse, durchaus das Prädikat "relativ neu" verdient. Nebenan ein Haus mit Zimmervermietung. Tiefer unten der Strand. Bäume, Kies, zwei parkende Autos, ein paar Leute. In der Nähe wird gebaut. Es ist bestimmt nicht mehr das Hühnerdorf am Ende der Welt, wie es einem der überalterte, nicht mehr erhältliche Michael–Müller–Verlag–Dodekanes–Führer (– sie hätten ihn VIEL eher aus dem Programm nehmen sollen, oder wirklich regelmäßig ECHT updaten; man hat ihnen Jahre hindurch viel zu viel vertraut –) so überlang vorgegaukelt hat. Aber Verlagspolitik ist von Außenstehenden schwer zu beurteilen; mag sein, dass insbesondere die Autoren überhaupt keine Schuld trifft. Wie sollte es auch noch rückständig sein, das Dorf Emboriós, ist es doch von den Touristendörfern per Mietroller in nur 20 bis 25 Minuten auf gut geteerter Straße erreichbar. Sogar – oder eher bezeichnenderweise? – der "Reiseladen", Wien, bietet hier pauschal buchbare Unterkünfte an. Nicht weit von der letzten Taverne geht eine dürftige Erdstraße von meiner "Hauptstraße", dem staubigen Feldweg, rechts hoch. Um sie nicht gehen, ausprobieren zu müssen, winke ich einen mir an der ungünstigsten Stelle, nämlich dort, wo man wegen der beiderseitigen Erd– und Felsflanken dem aufgewirbelten Staub voll ausgesetzt ist, entgegenkommenden Laster ab, dessen Lenker rücksichtsvoll von sich aus das Tempo gedrosselt hat, damit ich nicht im Staub ersticke. Der aufmerksame Grieche hält an und versichert mir, er kenne sich zu seinem Bedauern hier gar nicht aus, arbeite nur ausnahmsweise in der Gegend, als Bau–LKW–Fahrer. Von weiter weg und höher droben ist später unschwer zu sehen, dass der Weg nur zu einem Grundstück hinaufführt, wo er endet. Ein Satellitenfoto, genau: das wär es jetzt!!! Oder doch KEIN Satellitenbild von der Ecke der Insel, das man als Wanderer/Wanderin, Busreisende(r), Autofahrer(in), Mopedler(in) doch nie so wahrnehmen wird – em Lääba nedd! Wenn ich bei schönem Wetter aus 2.000 bis 6.000 m Höhe aus dem Flugzeugfenster gucke, sehen die griechischen Inseln auch immer ganz anders aus, viel heller und viel deutlicher konturiert und irgendwie VIEL natürlicher als auf den von manch einem gekonnt, in der Tat kunstvoll bearbeiteten rotgrünen NASA–Spionagefotos! ((Schön sind's aber trotzdem, und aufschlussreich. Und Google Earth ist ja nun dazugekommen.)) Auf staubigem Weg zuwandern auf die grob pfannenförmige Halbinsel mit der Sendeanlage ganz oben. An der Landenge taucht westseitig eine winzige Bucht auf, mit hübschem Strand. Trampelpfade über kleinere Höhen nach Nord. Nachdem ich mich für den unteren, zunächst westwärts an der Nordseite der Halbinsel entlangführenden Feldweg entschieden habe, beobachte ich bald die letzten bergigen, lückenlos, steil und geschlossen hochstrebenden Ausläufer der Nordwestflanke von Kálimnos. Ein Weg wird sichtbar, da drüben, er endet allerdings bald. Der große Rest ist unwegsames Abseits, Land der Insekten und Schlangen, des duftenden Pflanzenlebens, Anblick einsamer Fischer, aufmerksamer Segler. Je näher ich der Kapelle mit dem potenziellen Wohnhäuschen (eher Pilgerhaus anlässlich der Namenstagsfeier des Heiligen?) unterhalb meines Weges komme, desto mehr erhärtet sich der Verdacht, dass hier nicht nur Kálimnos nach Nord hin ausufert, sondern auch ein Stück Léros in den Süden strebt, ein hohes, dunkles Landstück, fast unauffällige Fortsetzung des überlangen Fingers der ehemaligen Schwammtaucherinsel. In der Hoffnung, noch deutlich mehr von der Nachbarinsel zu sehen, gehe ich den Feldweg weiter, er dreht bald südwärts und endet abrupt über einer anderen Bucht. Schon oben lauter Felsen im Gelände, unten wohl ein Felsstrand. Ein weiterer Weg über der jenseitigen Buchtflanke; es ist der obere Weg, den ich nicht gegangen bin. Ich hüpfe über Stock und Stein den Hang entlang bis zu einem einzeln stehenden Baum, der mir endlich Schatten gewährt, dann weiter hinüber zum anderen Feldweg. Der zieht sich auf höherem Niveau ebenfalls um das Vorland herum, südwärts, dann Richtung Ost, längst ist die kleine Insel Kalavros aufgetaucht (um deren richtige Betonung ich mir jetzt nicht den Kopf zerbreche), kurz darauf sind die Berge oberhalb von Skália zu sehen, und die jäh aufragende Nordseite von Télendos. Mein Weg kurvt nun zu dem Sender hinauf, kurz dahinter endet auch er – große Überraschung, es gibt hier also keinen Rundweg. So viele Fischfarmen, auf Griechisch ιχθυοκαλλιέργειες, schon wieder, nur ein wenig außerhalb der Küstenlinie des pfannenförmigen Kaps. Von meiner hohen Warte aus beobachte ich ein Versorgungsboot, das nach und nach die einzelnen Rundlinge und Rechtecke der künstlichen Fischheimat mit allem Nötigen beliefert – ich möchte nicht wissen, mit was genau. Drüben, auf Télendos, ist gegen die Sonne ein weißes Pünktchen von Kapellchen im Fels erkennbar. Nun bleibt mir nichts anderes übrig, als entweder den Feldweg zurückzugehen oder querfeldein hinabzusteigen an die Ostküste der "Pfanne", wo ich wiederum einen anderen Weg sichte, fast ganz unten. Bei der letzten mickrigen, aber sicher effizient ausstrahlenden Gitterantenne, sie ragt ganz einsam, weit weg vom Hauptsender, zwei Meter fünfzig aus der Erde, biege ich querfeldein steil nach unten ab, stütze mich auf meinen alten getreuen Gefährten, den "alpenstock" oder "mountaineering stick" aus bundesdeutscher Fabrikation, Lebensretter in noch viel steilerem, "gacherem" Gelände (der Münchner "Gasteig", da, wo die Philharmonie steht, ist nichts anderes als ein "gacher Steig" = ein steiler, jäher Anstieg die rechte Isarflussbetthochkante rauf – Entschuldigung, aber die anderen sollen's auch wissen, die von weiter oben), nur geht es jetzt bergab, nicht aufwärts. Es war überhaupt nicht schwierig, aber mit Sandalenträgern als Begleitung hätte ich für nichts garantiert. DEN Feldweg geh ich schon auch noch bis zu seinem Ende, dauert nur zwei Minuten bis zu seinem Ende, immer noch hoch über dem Wasser, unten die Fischfarmen, schon viel näher, aber erreichbar sind sie nur per Boot. Nun aber zurück, einem holländischen Paar um die 50 berichte ich von der Endlichkeit aller Wege, ein deutschsprachiges Paar mit Kleinkindern kommt mir, watschelt mir entgegen, bald bin ich auf der Aussichtsterrasse des "Bárba Nicóla", der Taverne, die ich mir vorgenommen hatte. Die Essensauswahl ist nicht groß, Jánnis (schon wieder einer) und seine Frau entschuldigen sich, es gebe ja kaum Gäste, und ich nehme Hühnchen mit Kartoffeln und werde allen Ernstes gefragt ob "stíthos" (= "Brust", Neutrum) oder Bein. Das ist ein Service! Das holländische Paar sitzt ganz vorne mit Rundumblick, ich ganz hinten, beide Parteien mit Kontakt zu den Gastgebern, ich ihnen näher. Weil ich gefragt habe, ob er aus der Gegend stamme, hat mir der Wirt (NICHT "Barba Nicolas") gebeichtet, er stamme aus Kreta. Woher? Aus Chaniá(, nur seine Frau sei aus Kálimnos). Direkt aus der Stadt? Nein, Paleóchora. Wo also genau? BEI Paleóchora. Na, schon weiter landein: Kándanos. – – – Kándanos!!?? Da komme bei mir als Deutschem ein ungutes Gefühl auf, wegen der grausamen Aktionen der deutschen Wehrmacht, damals. Jannis dagegen freut sich riesig, dass da ein Touri am Tisch sitzt, der das Schicksal seines Heimatdorfes auf Kreta "kennt" [na ja, gewaltig übertrieben ...], wendet sich begeistert an seine Frau. Ach, das sei längst vergessen! 1967 oder 68 (hab ich nicht nachgeprüft, die Zahlen) seien die Deutschen gekommen und hätten ihnen eine ganz neue Wasserleitung gebaut, von da an hätte es wieder geklappt mit der Wasserversorgung, und man sei diesen Deutschen wirklich wohlgesinnt, bis heute. Kein Problem! Die Rakí–Flasche wird unverzüglich präsentiert. Jetzt freue ICH mich riesig, dass selbst auf Kálimnos manchmal Kríti ist. Was für ein großzügiges Verzeihen, trotz bitterster Leiderfahrung, damals. Ein echter Kreter. Sprachlos hebe ich mein Glas. Von Emborió aus ostwärts Ich fühle mich noch fit für weitere gehmäßige Erkundungen. Jánnis drängt mich, den Rest Flüssigkeit in meiner großen Wasserflasche noch auf die weitere Wanderung mitzunehmen, denn ich brauche bei DER Hitze Wasser, meint er, nicht etwa Amíta, den Früchtedrink! Habe fraglos lange keinen so trockenen Mai mehr erlebt (except for my drinking sprees), erst auf Kreta, dann auf Kárpathos, dann kurz auf Rhodos, und zuletzt auf Kálimnos und Kos. Am Ende 23,5 Tage kein einziger Regenguss (und immer durstig!). Schönstes, warmes Wetter! Auf Kreta die gnadenlosen Stechmücken bzw. (schlimmer!) – Stechmotten, Kleinkaliber, aber gezielt. Es braucht nur eine kurze Entscheidung, und man macht sich auf den Weg, ohne lange abzuwägen. Die gut gemeinten Ratschläge, hier sind sie in der Tat leicht übertrieben. Ich würde selber übertreiben, wenn ich den Gang schwierig nennen wollte. Im gleißenden Sonnenlicht stiefle ich durch Emborió, Käppi auf dem Kopf, der Strand ein wenig belebt, verlasse es nach Ost, dann Südost auf der fast unbefahrenen Teerstraße. Zwei Lieferwagen kommen mir entgegen. Bis zu dem Kloster am Straßenrand ist es gar nicht weit. Dabei hatte ich gedacht, es liege näher an Skália, aber weit gefehlt. Ein breiter Feldweg, anfangs noch recht gut befahrbar aussehend, windet sich gegenüber dem Kloster den Hang hoch, der Kirche mit dem Kreuz daneben entgegen. Sieht höher aus als es ist, flüstere ich mir Trost zu. Hab mich aber längst eingegangen. Ein am Straßenrand geparkter Roller – Touristen, die ich von der Asphaltstraße unten schon auf eine Höhle zu losziehen sehen hatte. Kurz nach halb zwei, und heiß. Ich muss eigentlich schon auf die Uhr schauen, wenn ich später den Bus zurück nach Póthia erwischen will. Mein Erkundungsdrang treibt mich weiter, hinauf zur Hangkante mit prachtvoller Aussicht nach West, bald ist die Kirche erreicht, sie ist eingezäunt und offenbar Privateigentum. Bei der Kirche habe ich den Scheitel des Berggrates bereits überschritten. Ein verborgenes, den Blicken der meisten Urlauber entzogenes, geheimnisvolles Hinterland aus Berghängen , ockerfarbenen Wegen und einer weiten, länglichen Mulde, im Osten durch einen kleineren Bergzug mit alten Siedlungsmauern oben auf seinem NW–Ende begrenzt, breitet sich neben mir und zu meinen Füßen aus. Dahinter türkisches Bergland. Unweit der Kirche zweigt ein Pfad ab, auf halber Höhe um einen südwärtigen Berg herum. Ich gehe heute lieber den Feldweg weiter nach Nordwest. Vielleicht 250 m nach der Kirche der erste Anblick der noch tief unter mir liegenden Skáti–Bucht, ein Häuschen ist auszumachen, ein Strand, ob er verschmutzt ist, kann ich nicht sagen. Aber seine Lage ist einfach schön. Denn wie ich jetzt von meinem Höhenstandpunkt aus, hat auch der Strandbesucher eine Hälfte der Insel Léros vor Augen, in aller Pracht und Herrlichkeit. Näher, das muss Xirókambos sein. Und hinten über der mittleren Ostküste, das ist Pandéli, darüber das Kástro, ein wirklich prägender Eindruck, wie es da auf seiner Bergeshöhe thront, Krönung eines Fleckchens Erde in der kleinen und doch an Unendlichkeit gemahnenden Ägäis. Was für ein Glück, es geschafft zu haben in so knapp bemessener Zeit, auch noch Leros gegenüberzustehen und einen Gutteil seiner Südhälfte zu sehen! Einsam wie ich hier bin, fühle ich mich wie die Miniaturausgabe (passt perfekt zu GR, was ich hier mache, der stets motorisierten Nation, größeren Fußexkursionen abhold, nur nicht übertreiben) eines Petrarca auf dem Mont Ventoux (– na ja, der war eigentlich zu viert, mit Bruder und Begleitern, gegen Ende April 1336 –), komme ins Sinnieren, auch ohne die tosenden, umwerfenden Winde. Aber was muss er damals, so unvergleichlich höher oben, so ungleich abgehobener von der Erde, wohl empfunden haben. In meiner Situation passt die "Sechste" von Vaughan Williams, so ganz ohne "die Elemente" – jetzt, da ich es niederschreibe. Es müsste Dezember/Januar gewesen sein, kälter und rauer! Stürmisch, aber ohne Regen. Denn der Starkwind gibt dem Regen manchmal keine Chance. Einmal werde ich im Winter kommen, später als November. Meine Straße führt mich leider schon bergab, doch einen Blick erhaschen möchte ich noch von der anderen Bucht, dem Órmos Palioníssou im Nordosten der Mulde, und zu diesem Zweck muss ich den Blickwinkel, auch wenn es bereits bergab geht, noch passend zurechtrücken. Ein Schiffsbug mit Aufbau ziert den Wegrand, umgebaut zu einem Verschlag für irgendwelches Zeug und wohl auch Tiere. Man nutzt eben alles. Bald ist es so weit, die Bucht entfaltet sich vor meinen Augen. Ein anderer entlegener, hoffentlich hübscher Strand ist zu erahnen, und weiter südöstlich zeigt sich sogar die Pezónda–Bucht, die ganz entrückte, versteckte, schon etwas näher an Vathí. Es soll genug sein für diesmal, ich kehre um und weiß, dass ich noch rechtzeitig unten an der Straße sein werde, um den Bus zu erreichen. Wie froh bin ich, das alles nicht in einer Viertelstunde per Mietfahrzeug "gemacht" zu haben, dass noch etwas übrig ist, dass ich sozusagen die Frau nicht eilig bis auf die Haut ausgezogen habe, sie noch bekleidet ist und deshalb umso attraktiver bleibt. Dass ich mir nicht stürmisch alles genommen habe, in der Gier die Hälfte übersehen. Dass ich nicht fotografiert habe, selbst bestimmte optische Ausschnitte anzubieten, damit schnell und todsicher und doch auf so billige 4–bis–8–Megapixel–Weise irgendwelche erfahrungslosen, entschlusslosen Leute im Web zu beeindrucken, sondern mir die Mühe machen werde zu schreiben, dem Land dennoch sein Geheimnis bewahren. Letzte ausgiebige Blicke Richtung Léros, Vorberge, Türkei, Buchten, altes Gemäuer. Der beruhigende Moment, zur rechten Zeit umkehren zu dürfen. Die Kirche wieder passieren, drei Minuten später erneut gegen Westen hinabschauen, die ersten Kurven gehen. Südwärts nach Arginónda Weit komme ich nicht, da rollt ganz bedächtig jemand mit zwei kleinen Kindern drin, im Auto, an mir bergab vorbei, mustert mich beiläufig. Gut 100 m später hält die Person an, Gewissensbisse haben sie gepackt, die Fromme, sie ruft mir, stimmlich eine Serpentine abkürzend, zu, ob ich mitfahren wolle. Warum nicht? – Arginónda? Endáksi, sagt die unglaublich nette Bauersfrau, die hinten auf ihrem Pick–up ein wenig Kräuter geladen hat, mit fester Stimme – wenigstens EIN Mitbringsel (und mich dazu) aus Paleónissos, der abgeschiedenen Inselecke. Ob ich nicht gleich bis Póthia mitkommen wolle, wenn ich schon dort wohnte? (Donnerwetter!) Nein, entscheide ich, denn so lange halte ich es nicht (mehr) ohne eine Ohrenentzündung zu bekommen hinten auf der zugigen Ladefläche aus, das weiß ich aus langer Bauernlastererfahrung genau. Außerdem bin ich ganz scharf drauf, erstmals ein wenig den Ort Arginónda mitzukriegen. Nun also die bewährte Hocke, die Kauerstellung, hinter den Vorbau des Wagens geduckt Windschutz suchen, sich fest am Gestänge anklammern, sich in die Kurven wiegen, deren es wahrhaftig viele gibt, bis Skália, und auch dahinter noch, sich bloß nicht setzen – Steißbeinbruch! –, auf die schüchternen Faxen der aus dem Rückfenster des Fahrerhauses rausäugenden Kinder eingehen, selber ein paar Faxen machen, da freuen sie sich, und die Mutti dazu. Wir mögen uns bald, auf diese wortlose Weise. Die Verständigung per Zeichen mit der Fahrerin klappt inzwischen so gut, dass ich sie gleich am nördlichen Ortseingang von Arjinónda mühelos zum Anhalten bewegen kann. Herunterspringen und sich [párapoli] bedanken. Drei fröhliche, offene, lächelnde Gesichter verabschieden. Ach, was muss das für eine nette Familie sein! Katerina's Taverne an der Straße sieht zu aus, und ich ziehe sowieso die Strandtaverne etwas unterhalb vor, die mit den noch unfertigen Zimmern drüber. Das Wirtsehepaar alt, beflissen, durchaus aufmerksam aber geschäftstüchtig – sie mehr als er. Es sitzt bereits eine skandinavische Jungeleutegruppe da, auf Rollern angelangt, schon gegessen, noch ein Bier, noch ne Limo (die Frauen). Es windet ziemlich, in Strandnähe, und ich verlagere meinen Sitzpunkt in den Windschatten Richtung Küche. Der Wirt kommentiert beiläufig, seien ja alles nette Leute, aber er gehe alle paar Stunden runter zum Strand, ihn zu entmüllen, so furchtbar nett seien die alle. Liegestühle. Werden vermietet, Häuschen verborgen um die Ecke von der Strandmitte aus. Wegen meiner Verlagerung in den Windschatten seh ich jetzt die ambitionierten Kletterer nicht mehr, die in den Felsen östlich der Uferstraße vor dem Ort rumturnen. Ihre Fahrzeuge, am Straßenrand geparkt, sind ein untrüglicher Bewegungsmelder. Ausgetrunken, die 20 m hochgestiegen, vorspaziert zu den Bäumen, der Kurve mit der Bushaltestelle. Ziemlich laut ist es hier, Lärm vom Straßenbau weiter hinter am Hang. Davon später, in einem weiteren Bericht, in dem es um Wanderungen geht, einige der herrlichen Touren, die sich auf Kálimnos unternehmen lassen. Es warten schon einige Paare unter einem riesigen, weit ausladenden Baum. Griechische Alte schauen zu, haben auf der einzigen Bank gegenüber Platz genommen. Ich stelle meinen Rucksack (mein "Wander–Rucksackl", eher) in ein schräg 10 m neben der Straße vor einem Geländeabfall hingeparktes und aufgebocktes Kaíki, wo er (Rucksack)/es (Kaíki) meines Erachtens niemanden stört. – – – Denkste! Denn sogleich, als hätte ich ihn heraufbeschworen durch meine kühne Tat, schlürft ein Alter im Schneckentempo mühsam und ächzend die Straße herüber auf das Boot zu und gibt mir wortlos unverständliche Zeichen. Élla Bárba – ti thélis; frage ich. Nehme schon den Rucksack aus dem Boot, denn die Farbdose und der Pinsel in der Hand des recht klapprigen alten Herren sind unübersehbar. Dann erkenne ich das Zöpfchen, die schwarze Kappe hat mich eh schon irritiert. "Íste o papás;" (unser Strichpunkt ist das griechische Fragezeichen), frage ich ihn, und er nickt fast unmerklich, gibt einen kurzen Huster von rauem Lachen von sich. Er ist tatsächlich der Ortspfarrer, der sich anschickt, auf seine alten, unbeweglichen Tage hin noch einen Kaíki–Anstrich vorzunehmen. Respekt! Fünf Minuten später kommt der Bus von Emborió her an. Er ist prall gefüllt mit Leuten. Kaum zu glauben. Die Holländer grüßen mich, als ich mich an ihnen vorbeischiebe – sind bestimmt neugierig, was ich wohl gemacht habe. Sie werden in Massoúri aussteigen. Ich verrate nichts, hab keine Lust. Der Papás bringt träge und unendlich langsam Farbe auf, auf sein Boot. Ich weiß, dass ich tags darauf aufbrechen werde zu einer Wanderung über die Berge. Was für eine Freude! Copyright puchheim = MartinPUC, 2005, 2006 |